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Der Schlüssel für den
Türkei-Beitritt liegt in Straßburg
Interview mit Josep Borrell, Präsident des
Europäischen Parlaments
Der 57-jährige Josep Borrell aus Spanien
ist nach der Europawahl im Juli für zweieinhalb Jahre zum
neuen Präsidenten des Europäischen Parlaments
gewählt worden. Der Sozialdemokrat erhielt die
Parlamentsmehrheit auf Grund einer Absprache mit den
Christdemokraten (EVP), die ihrerseits den Präsidenten in der
zweiten Hälfte der Wahlperiode stellen wollen. Zu den
Herausforderungen, denen sich das Parlament aktuell
gegenübersieht, gehören die Europäische Verfassung
in der erweiterten Union, die Wahl und die Zusammenarbeit mit der
neuen Kommission. Dazu stellte sich der Katalane den Fragen unserer
Zeitung.
Das Parlament
Herr Präsident, das Europäische
Parlament hat die neue Barroso-Kommission im zweiten Anlauf
bestätigt. Ein Sieg für das Parlament, eine
Schwächung für die Kommission?
Borrell: Ich habe mich immer geweigert, in
dieser Prozedur der Investitur eine Niederlage des einen und einen
Sieg des anderen zu sehen. Europa braucht eine starke Kommission
und ein glaubwürdiges Parlament. Für mich hat das
Verfahren zur Einsetzung der Barroso-Kommission vor allem den
Beweis erbracht, dass das Europäische Parlament seine
demokratische Reife erreicht hat. Es ist frappierent festzustellen,
dass die Abgeordneten es verstanden haben, den Telefonaten der
Regierungen zu widerstehen. Diese Periode ist jetzt endgültig
abgeschlossen. Ich freue mich darüber. Die Debatten haben in
diesem Zusammenhang intensiv zu den gesellschaftlichen
Herausforderungen Stellung bezogen, nämlich zur herausragenden
Frage der Asyl- und Einwanderungspolitik, der Rolle der Frauen in
der Familie und im Arbeitsleben, zur Nicht-Diskriminierung der
Menschen im Zusammenhang mit ihren sexuellen Präferenzen, zur
Beziehung zwischen Ethik und Politik. Das Europaparlament hat
niemals jemanden aufgrund seiner Überzeugungen diskriminiert.
Folgerichtig kann ich versichern, dass die Anhörungen einen
der größten Momente in der parlamentarischen
europäischen Demokratie darstellten. Erinnern Sie sich daran,
dass man die Anhörungen als eine einfache Formalität
ansah, das Europäische Parlament als Papiertiger? Damit ist es
vorbei. Das Parlament bleibt in der öffentlichen Meinung in
Erinnerung. Und die Regierungen haben ihm zugehört.
Das Parlament
Ein Thema, das die Öffentlichkeit
zurzeit sehr stark bewegt, ist der EU-Beitritt der Türkei.
Straßburg will noch vor dem entscheidenden Gipfeltreffen der
Staats- und Regierungschefs im Dezember seine Stellungnahme zur
Aufnahme von Verhandlungen abgeben. Welche Empfehlung erwarten
Sie?
Borrell: In unserer Versammlung sind die
gleichen Klüfte festzustellen, wie sie sich zwischen den
Mitgliedstaaten auftun. Daher ist das Abstimmungsergebnis schwer
vorherzusagen. Im Parlament ist jede große politische Familie
gespalten in Verfechter des Ja und des Nein. Diese Debatte
berührt die Fundamente der Europäischen Union. Dabei
müssen wir in Zukunft alle unsere Konzepte
überprüfen, ob politischer, wirtschaftlicher, sozialer,
geographischer oder demographischer Art und last but not least die
kulturellen.
Es ist nicht selbstverständlich, dass
das Europaparlament die gleiche Position einnimmt wie die
Mitgliedsstaaten. Seine Beschlüsse sind weniger diplomatisch,
sondern politischer. Vergessen Sie nicht, dass es das Parlament
ist, das den Schlüssel zur Aufnahme der Türkei in der
Hand hat. Wenn die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden
sein sollten in etwa einem Jahrzehnt, ist es an ihm, Ja oder Nein
zu sagen. Deshalb ist es auch wichtig, dass es von Beginn an sehr
eng an den Verhandlungen beteiligt ist, falls diese
starten.
Das Parlament
Eines der wichtigsten Dossiers im kommenden
Halbjahr ist die Finanzausstattung der EU für die Zeit 2007
bis 2013. Unterstützt das Parlament den Kommissionsvorschlag
oder die Position der Nettozahler?
Borrell: Wenn der ab Januar kommende
Luxemburger EU-Vorsitz dieses Dossier nicht meistert, wer dann? In
der Tat ist er bei diesem Dossier neutral. Bei der ab Juli 2005
nachfolgenden britischen Präsidentschaft kann man dies nicht
voraussetzen. Ziel des Parlaments ist es, einen Kompromiss zwischen
dem Vorschlag der Kommission, den Plafond auf 1,14 Prozent gemessen
am Bruttoinlandprodukt zu begrenzen, und der Position der
Nettozahler Frankreich, Deutschland, Großbritannien,
Niederlande, Schweden und Österreich zu finden, die den
europäischen Haushalt bei ein Prozent zu begrenzen
wünschen. Man kann die Sorge um die Haushaltsdisziplin der
Nettozahler verstehen.
Auf der anderen Seite besteht ein Risiko, die
Flügel der Erweiterung zu kappen und damit die Entwicklung der
Union. Die neuen Länder müssen an den Politiken der
Solidarität beteiligt werden und aus der wirtschaftlichen und
sozialen Kohäsion der EU Nutzen ziehen. Als Spanier bin ich in
dieser Frage sehr sensibel. Es ist an der Zeit, den anderen zu
helfen. Ich stelle gleichzeitig fest, dass die Europäer in
allen Meinungsumfragen wünschen, dass die europäische
Forschungs-, Erziehungs- und Umweltpolitik usw. ausgebaut wird. Es
handelt sich um ein Thema, das die Finalität der EU
berührt. Deshalb werde ich mit dem Haushaltausschuss eng in
dieser Frage zusammenarbeiten.
Unsere Arbeiten werden bis zum kommenden
Frühjahr dauern, und ich kann unsere endgültige Haltung
nicht vorhersagen. Ich bitte auch zu überlegen, wie das von
allen Mitgliedstatten festgelegte Ziel, die EU bis 2010 zur
wettbewerbsfähigsten Wirtschaft der Welt zu machen, mit nur
ein Prozent des Sozialprodukts erreicht werden soll.
Erlauben Sie mir noch den Hinweis, dass sich
das EU-Budget im Zeitraum 1999 bis 2002 um acht Prozent erhöht
hat, das der 15 bisherigen Mitgliedstaaten jedoch um 23
Prozent!
Das Parlament
Der Stabilitätspakt wird auch ein Thema
der Luxemburger Präsidentschaft sein. Er soll "flexibler"
angewandt werden. Wie ist das zu verstehen?
Borrell: Ebenso wie Premierminister Juncker,
den ich seit langem kenne und schätze, denke ich
persönlich, dass man die Auslegung der
Drei-Prozent-Haushaltsverschuldungs-Regelung flexibilisieren muss.
Die Kommission hat einen Vorschlag gemacht, das Europäische
Parlament hatte eine erste Orientierungsdebatte. Diese
Drei-Prozent-Barriere - wenn sie nicht angetastet werden soll -
muss Gegenstand einer Anpassung an die spezifischen Umstände
sein, die innerhalb der Staaten auftauchen können. Was machen
wir im Falle einer Wirtschaftskrise? Auf welche Weise profitiert
man vom wirtschaftlichen Wachstum? Wie reagieren wir auf die
Schwankungen der Weltwirtschaft? Auf all diese Fragen muss die EU
in den kommenden Monaten antworten. Im Parlament gibt es ebenso wie
im Rat jene, die bei der Nachgiebigkeit weiter gehen wollen als die
Kommission und jene, die für eine strikte Auslegung des Paktes
eintreten. Die Debatte wird besonders leidenschaftlich
werden.
Das Parlament
Was erwarten Sie hinsichtlich der Agenda von
Lissabon?
Borrell: Erst einmal wünsche ich mir
eine Umbenennung. Unsere Ziele müssen für die
Öffentlichkeit verständlicher werden. Ich teile die
Absicht von Herrn Juncker, dass eine der Prioritäten der
luxemburgischen Präsidentschaft die Rückkehr zum
europäischen Sozialmodell sein muss, zugänglich für
jeden. Ich glaube, dass wir den Akzent auf den sozialen Aspekt
legen müssen. Ich hoffe, dass der Wim-Kok-Bericht über
Wachstum und Beschäftigung im Rahmen der Strategie von
Lissabon kein toter Buchstabe bleibt. Unser Parlament wird sich vor
dem nächsten Frühjahrsgipfel, auf dem die Halbzeitbilanz
dessen durchgeführt wird, was ich "die Strategie für
Wettbewerbsfähigkeit, Kohäsion und Umwelt" taufen
möchte, dazu äußern. Meiner Ansicht nach müssen
unsere nationalen Strategien europäisiert werden. Gefragt sind
hier die Mitgliedstaaten. Die EU muss den europäischen
Mehrwert bilden. Nehmen wir das Beispiel Forschungspolitik. Ohne
eine gemeinsame Politik ist die weitere Abwanderung geistiger
Kapazitäten zu befürchten.
Das Parlament
Unter Ihrem Vorsitz soll ein neuer Anlauf zum
Abgeordnetenstatut unternommen werden. Esgab bereits
Vorgespräche mit dem Luxemburger Vorsitz. Zeichnet sich eine
Lösung ab?
Borrell: Ich habe mit Luxemburgs
Europaminister Nicolas Schmit am 22. Oktober gesprochen, der mir
bestätigt hat, dass er eine Lösung unter luxemburgischem
Vorsitz wünscht. Ich weiß, dass Premierminister
Jean-Claude Juncker im September erklärt hat, dass er keine
Einwände gegenüber den Parlamentsvorschlägen vom
vergangenen Jahr hat. Für das Europaparlament ist es
wesentlich, dass die Abgeordneten ihre Arbeit unter den gleichen
Bedingungen der Transparenz, der Würde und Effizienz nachgehen
können. Gleiche Diäten für gleiche Arbeit. Am 8.
September habe ich Jan-Peter Balkenende, den amtierenden
niederländischen Ratspräsidenten getroffen, und ihn daran
erinnert, dass das Europäische Parlament noch immer auf eine
Antwort des Rats auf seine Entschließungen von Dezember 2003
und Januar 2004 wartet. Nach langen Arbeiten hatte das
vorangegangene Parlament einen Kompromiss geschmiedet, das eine
angemessene Diätenregelung enthält und eine totale
Transparenz der anderen Entschädigungen. Bis dato kennen wir
die Gründe nicht, weshalb mehrere Mitgliedstaaten unsere
Vorschläge nicht unterstützt haben. In diesem Punkt setze
ich große Hoffnungen auf den Luxemburger Vorsitz.
Das Parlament
Weshalb ist das Europaparlament nicht schon
mit gutem Beispiel vorangegangen und hat die Europäische
Verfassung ratifiziert?
Borrell: Ich hätte es gern gehabt, dass
wir die ersten gewesen wären, die sich ausgedrückt haben.
Dieses Votum wäre so etwas wie eine Referenz gewesen. Aber Sie
wissen, dass das Europäische Parlament im Juni neu
gewählt wurde. Unsere konstituierende Sitzung haben wir Ende
Juli abgehalten. Die eigentliche parlamentarische Arbeit hat Anfang
September begonnen. In Kürze wird sich unser konstitutioneller
Ausschuss äußern. Das Parlament wird es im Dezember tun.
Ohne die Abstimmung vorweg nehmen zu wollen, gehe ich davon aus,
dass sich eine sehr große Mehrheit für die Texte des
Verfassungsvertrags aussprechen wird. Das Parlament wird sich auch
an der breiten Debatte in den Ländern beteiligen, die den Weg
einer Volksabstimmung gewählt haben. Persönlich und als
ehemaliges Mitglied des Konvents, der diesen Vertrag erarbei-tet
hat, engagiere ich mich für ein Ja. Diese Verfassung bringt
uns mehr Demokratie, mehr Effizienz, mehr Legitimität. Ihre
Vorteile sind wichtig gegenüber den bestehenden
Verträgen. Allerdings wissen wir auch, dass es sich nicht um
einen perfekten Text handelt, insbesondere auf dem sozialen und
fiskalischen Gebiet.
Das Parlament
Werden die Rechte des Europaparlaments nach
Inkrafttreten der Verfassung endgültig vergleichbar mit denen
nationaler Parlamente sein?
Borrell: Ich denke nicht, dass wir uns hier
in Vergleichsbegriffen bewegen sollten. Wie Sie wissen, stärkt
die Verfassung die Befugnisse des Europäischen Parlaments,
indem sie es zum fast gleichberechtigten Gesetzgeber macht. Sie
stärkt gleichzeitig die nationalen Parlamente, indem diese in
den legislativen Prozess einbezogen werden. Ich bin mir des
demokrati-schen Defizits in Europa bewusst. Es ist wahr, dass die
nationalen Parlamente bis heute nur eine marginale Rolle in der
europäischen Debatte spielen. Es ist daher wichtig, dass wir
enger mit ihnen zusammenarbeiten. Diese Aufgabe ist einfach
überfällig.
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