> Debatte > Essay 06/05
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Ein Essay von Jutta Limbach
Die Streitgeschichte der Rechtschreibreformen lehrt, dass man Sprache besser nicht administrieren sollte. Auch nicht die Schriftsprache. Zwar ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Orthographie im Interesse der Einheitlichkeit Gegenstand schulbehördlicher Anordnungen. Doch noch jedes der bisherigen amtlichen Regelwerke wurde zu einer schweren Geburt und hatte die heftigsten Nachwehen zur Folge. Vor allem die Versuche, verändernd in den Schreibgebrauch einzugreifen, lösten heftigen Widerstand aus. Einige der Regelwerke sind schließlich an der mangelnden Gefolgschaft gescheitert.
Die Kultusminister waren also vorgewarnt. Gleichwohl ließen sie sich auf das Wagnis einer neuerlichen Reform ein. Sie sahen wohl nicht voraus, dass in der Mediengesellschaft der Kampf um das ß und das Getrenntschreiben erst richtig heiß werden und der Kultusministerkonferenz das Sterbeglöckchen geläutet werden würde.
Auch die Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht den Kulturministern und -ministerinnen das Handwerk legen werde, erfüllte sich nicht. Dieses sah den Staat nicht von Verfassungswegen gehindert, die richtige Schreibweise der deutschen Sprache für den Unterricht in Schulen zu regeln. Schließlich benötigten Lehrer wie Schüler sichere und verbindliche Grundlagen für richtiges Lehren und Lernen der deutschen Schriftsprache sowie zuverlässige Maßstäbe für die Benotung. Selbst gestaltende Eingriffe in die Schriftsprache begegneten im Grundgesetz keinem generellen Verbot. Das Gericht wies die Verfassungsbeschwerde der Eltern zurück, weil es weder das elterliche Erziehungsrecht noch das allgemeine Persönlichkeitsrecht als verletzt ansah. Zum einen hätten die Eltern keinen ausschließlichen Erziehungsanspruch. Dieser konkurriere in der Schule mit dem Erziehungsauftrag des Staates. Zum anderen sei die Rechtschreibreform nur für den Schulunterricht verbindlich. Angesichts der Geringfügigkeit der Änderungen werde die elterliche Erziehung, insbesondere die Kommunikation, nicht wesentlich beeinträchtigt.
Es war nicht Sache des Gerichts, die Notwendigkeit, den Nutzen, die Güte oder die Logik der Reform zu überprüfen. Dafür hält das Grundgesetz keine Maßstäbe parat. Diese Fragen zu beurteilen und zu entscheiden, ist Sache der Politik und der Fachwelt. Aber auch wenn der Staat – verfassungsrechtlich betrachtet – Schreibregeln für die Schule erlassen darf, ist es doch die Frage wert, ob er klug beraten ist anzuordnen, dass „Roheit“ künftig „Rohheit“ und „Schiffahrt“ künftig „Schifffahrt“ geschrieben werden soll. Die Sprache ist Bestandteil der Kultur eines Volkes. In seinem Beschluss zur Rechtschreibreform drückte der Bundestag seine Überzeugung aus, dass sich die Sprache durch den Gebrauch seiner Bürgerinnen und Bürger ständig, behutsam und organisch weiterentwickele. „Mit einem Wort: Die Sprache gehört dem Volk.“
Zu Recht plädiert der Bundestag für ein Gremium, an dem alle jene beteiligt werden sollten, „die wegen ihrer beruflichen oder wissenschaftlichen Bezüge der Sprache besonders verpflichtet sind.“ Von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung wie auch von Verbänden der Schriftsteller und Journalisten ist beispielsweise die Rede. Die Kultusministerkonferenz wäre gut beraten, wenn sie auf diese Vorschläge einginge und sich selbst der Eingriffe in die deutsche Schriftsprache enthielte.
Aber das ist Zukunftsmusik. Gegenwärtig wird das Spiel fortgesetzt und um neue Varianten bereichert. Statt für ein rasches Ende mit Schrecken hat sich die Kultusministerkonferenz für ein Schrecken ohne Ende entschieden: Zwar tritt zum 1. August – wie ursprünglich vorgesehen – die Neuregelung in Kraft, allerdings nur in Teilen. Und das auch nicht überall, Bayern und Nordrhein-Westfalen verlängern die Übergangsfrist um ein Jahr. Der beabsichtigte Ordnungsruf der Ministerpräsidenten der Länder fand nicht die notwendige Einstimmigkeit. Mit einem Moratorium von der Dauer eines Jahres wollten diese dem von der Kultusministerkonferenz einberufenen Rat für Rechtschreibung die Gelegenheit geben, die Reform zu reformieren. Wen wundert es, dass die Bürger und Bürgerinnen einmal mehr an der Funktionstüchtigkeit des bundesstaatlichen Systems zweifeln.
Die Reformgegner, die ihr Waffenarsenal einschließlich der in einigen Ländern möglichen Volksbegehren ausgeschöpft haben, suchen nunmehr Trost in der Maxime, dass die Ironie die beste Waffe der Vernunft ist. Sie loben die Rechtschreibreform als eine der gelungensten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Was einst als Argument gegen eine totale Rücknahme der Neuregelung der Schriftsprache ins Feld geführt wurde, nämlich der Neudruck aller Schul- und Rechtschreibbücher, wird jetzt eintreten. Hoffentlich hat die Kultusministerkonferenz die Chaosverträglichkeit ihrer Normadressaten nicht überschätzt.
Fotos: Picture-Alliance, Goethe
Institut
Erschienen am 17. August 2005
PROF. DR. JUTTA LIMBACH, Jahrgang 1934, ist seit 2002 Präsidentin des Goethe-Instituts Inter Nationes. Von 1994 bis 2002 war sie Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Zuvor amtierte sie von 1989 bis 1994 als Senatorin für Justiz des Landes Berlin.