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Die SPD-Abgeordnete Petra Merkel macht Politik auf Augenhöhe. So kann sie sich einlassen auf andere und anderes zulassen.
An diesem Septemberabend hat sich der Regen in der Stadt eingerichtet. Niemand kommt unbeschadet von einem Ort zum nächsten. In der Kreuzberger Obentrautstraße 55, vierter Stock, sitzen drei Menschen zusammen und reden über die Stadt. Draußen der Regen, drinnen die Hoffnung, ausgedrückt in einem unvollständigen Satz: „Berlin – Stadt für Familien!“ Ist sie das, oder soll sie es werden?
Nun, wäre sie es schon, gäbe es wahrscheinlich die Jugend- und Familienstiftung des Landes Berlin nicht, und deren Vorsitzende, die SPD-Abgeordnete Petra Merkel, hätte heute einen freien Abend. Stattdessen aber sitzt sie hier mit Roland Geiger, dem Geschäftsführer der Stiftung, und Gundel Hessemer vom Verein Arbeitskreis neue Erziehung und redet über die Stärkung des Systems Familie. Das ist die halbe Wahrheit.
Die ganze ist: Drei Menschen wollen eine aufregende, einprägsame und mitreißende Kampagne entwickeln, um die Stadt familienfreundlicher zu machen. Vom Busfahrer bis zur Politikerin sollen alle Lust bekommen, sich daran zu beteiligen. Kreativ muss das Ganze sein, nachhaltig, ein Markenzeichen dieser Hauptstadt geradezu. Ganz viele Partner braucht man und noch mehr Engagement. Draußen gießt es in Strömen, drinnen werden Gipfel gestürmt.
Petra Merkel ist begeistert und lässt sich von den beiden anderen inspirieren. Man merkt ihr nicht an, dass dies ein langer Tag war, einer mit Ecken und Kanten. Einer, der morgens um sechs mit Frühstück und Zeitungslektüre begonnen hat. Jetzt, abends um neun, wird Zukunft geplant.
Dreizehn Stunden früher fing für Petra Merkel der Arbeitstag in ihrem Bundestagsbüro an. Der Weg von ihrer Wohnung ins Büro ist nicht weit. Petra Merkel ist Berlinerin, Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf. Sie hat viele Jahre im Abgeordnetenhaus Politik gemacht, bevor sie 2002 in den Bundestag kam. Sie liebt diese Stadt, sagt sie. Und: „Ich bin lange genug in der Politik, um keine Umwege mehr zu machen.“ Damit beantwortet sie die Frage, wie sie es als Neue im Bundestag gleich in den Haushaltsausschuss geschafft hat. Auf direktem Weg eben – nun ist sie Berichterstatterin ihrer Fraktion für den Kulturetat.
Die morgendliche halbe Stunde im Büro vergeht schnell. Ein paar Absprachen, Einsammeln der Papiere für die Ausschussarbeit. An diesem Donnerstag tagt der Bundestag, und parallel arbeiten die Ausschüsse – so ist das in Haushaltswochen. Um halb neun beginnt der Haushaltsausschuss, elf Punkte stehen auf seiner Tagesordnung, darunter der Entwurf eines Haushaltbegleitgesetzes und verschiedene Anträge zur Maut. Über alles lässt sich lange diskutieren. Wie fast immer stehen viele Journalisten vor der verschlossenen Tür. Sie warten auf Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe, auf Stellungnahmen zum verschobenen Börsengang der Bahn und zur Lkw-Maut. Irgendjemand tut kund, Herr Stolpe sei im Anmarsch. Aus dem Sitzungsraum dringt kurz lautes Gelächter, kein Tagesordnungspunkt scheint das herzugeben. Dann kommt Minister Stolpe, beantwortet zwei Fragen und geht in den Ausschuss.
Um neun fängt die Plenarsitzung an, sie wird bis in den späten Abend hinein gehen. Petra Merkel verlässt den Ausschuss gegen 11.15 Uhr und läuft in den Plenarsaal zur namentlichen Abstimmung über die von der FDP-Fraktion beantragte Abschaffung der Wehrpflicht. Der Antrag, der Tagesordnungspunkt 3, wird abgelehnt.
Kurz nach halb zwölf ist die Abgeordnete noch einmal kurz im Büro. Das trägt die Handschrift der 57-Jährigen, die von sich sagt: „Ich brauche so eine bestimmte Art von Chaos. Das ist anregend für die Arbeit.“ Die Aktenstapel auf der Couch sind also kein Störfaktor, ebenso wenig die Papiere auf dem Schreibtisch. Am Regal hinter ihrem Schreibtisch hängt ein in Folie gewickeltes Schokoladenherz älteren Datums, daneben steht ein Gurkensnack „Get one“ aus dem Spreewald, bewacht von einem kleinen, zersausten Teddybären. Erinnerungsstücke, Stücke voller Erinnerungen. Zu allem ließe sich etwas sagen, aber der Tag ist so randvoll und Zeit kein dehnbarer Begriff.
Petra Merkel packt ihre Tasche, telefoniert kurz zwischendurch und macht sich auf den Weg zu einem Termin, auf den sie sich freut. Zuvor jedoch bringt sie noch schnell ein paar Sachen in ihr Wahlkreisbüro in der Charlottenburger Goethestraße. „Hier beginnt mein Wahlkreis“, sagt sie auf der Fahrt dorthin und zeigt auf das verkleidete Charlottenburger Tor. Die Verkleidung trägt den Markennamen Samsung, aber wenn die Hüllen fallen, wird das Tor in alter Pracht strahlen.
Das Wahlkreisbüro entpuppt sich als ein Ort, an dem man sich gut fühlen kann – Plätze zum Reden, im Schaufenster eine Auswahl fair gehandelter Produkte, die gekauft werden können, Licht, Farben, Persönlichkeit. In wenigen Tagen wird hier eine Ausstellung mit Bildern des Malers Gotthard Krupp eröffnet. Die Einladungskarten sind gedruckt.
Kurz nach halb eins ist die Abgeordnete im Haus der Jugend in der Zillestraße. Hier tagt heute das Kinder- und Jugendparlament und wählt einen neuen Vorstand. Petra Merkel wird empfangen wie eine gute Bekannte. Sie ist eine gute Bekannte, umarmt so manche und manchen, redet mit vielen, vor allem aber fragt sie. Sie macht jenen Mut, die für den neuen Vorstand des Kinder- und Jugendparlaments kandidieren wollen. Sie zeigt ihre Begeisterung dafür, dass es diese Einrichtung gibt. Sie ist sichtlich da und präsent, ganz konzentriert auf den Ort und das Ereignis. Kein Small Talk, keine Gemeinplätze, kein Blick auf die Uhr. Die Frau mit den kurzen blonden Haaren, der randlosen Brille mit roten Bügeln, dem dazu passenden roten Schmuck, schenkt ihr gewinnendes Lächeln vielen und jedem, der es möchte, ihre Aufmerksamkeit.
Dann füllt sich der Saal, die Wahlberechtigten sind ausgezählt, die Kandidatinnen und Kandidaten nervös. Die Kickerspieler beenden ihre Turniere, auf dem Podium werden Mikrofone getestet, eine Frau fragt eine andere, ob sie von den Rathausnachrichten kommt und ist enttäuscht, als diese verneint.
Petra Merkel hält eine kurze Rede und macht den Jugendlichen und Kindern Mut, sich einzumischen. Sie lädt die jungen Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu sich in den Bundestag ein. „Schaut euch an, wie wir arbeiten. Ihr seid herzlich willkommen.“
Danach setzt sie sich und hört zu, wie die Kandidatinnen und Kandidaten sich vorstellen. Begeistert ist sie von allen. Das erklärt sie hinterher all denen, die es wissen wollen. Mutig sei das, in diesem Alter bereits Politik zu machen. Wichtig sei es und ein Schritt nach vorn. „Und hören Sie nur, wie die reden können und deutlich sagen, was sie wollen. Und haben Sie diese Sara gesehen? Das war doch hoch professionell – ein Talent, diese junge Frau. Ein richtiges Talent.“
Aus solchen Ereignissen lässt sich Kraft schöpfen und Lust gewinnen, das ist der Abgeordneten anzumerken, die nach dem Termin zurück in den Bundestag fährt, um dort für ein paar Stunden zwischen Ausschuss und Plenum hin- und herzupendeln. Für den Nachmittag ist der Immunitätsausschuss einberufen, im Plenum geht es um Rahmenübereinkommen, Gesetzentwürfe, Anträge.
Kurz vor sechs kommt Petra Merkel in den Raum B 1 auf der Besucherebene des Reichstagsgebäudes. Hier warten 14 Mitglieder des Künstler-Kolonie Berlin e. V. aus Wilmersdorf auf die Abgeordnete. Die Künstler-Kolonie Berlin gibt es seit 1929, sie besteht aus drei Wohnblöcken, in denen im Laufe der Jahrzehnte viele Sänger, Schriftsteller, Wissenschaftler wohnten. Solche wie Ernst Busch, Johannes R. Becher, René Kollo und Joachim Ringelnatz zum Beispiel.
Die Gesprächsstunde im Raum B 1 verläuft nicht einfach, denn es geht um die ganz großen Themen: Hartz IV, Reform der Sozialsysteme, Agenda 2010 – Fragen über Fragen und keine davon geeignet für allgemeine Statements. „Hartz IV wird doch eine Katastrophe“, sagt eine Frau. „Die SPD hat versäumt, die Menschen rechtzeitig zu informieren“, kritisiert ein Mann. „Wo soll denn der soziale Ausgleich herkommen, warum gibt es noch immer keine Kerosinsteuer, im Koalitionsvertrag stand doch etwas anderes als das, was jetzt gemacht wird, wenn die Technik weiter voranschreitet, werden doch noch weniger Arbeitskräfte gebraucht ...“
Petra Merkel hat zu tun und sie kämpft. Sie erklärt, stellt richtig, erläutert Zusammenhänge. Sie arbeitet mit den Händen, mit dem ganzen Körper, lässt keine Frage im Raum stehen, wiegelt nicht ab, beschönigt nicht, hält aber dagegen, wenn sie anderer Meinung ist.
Draußen hat es schon längst angefangen zu regnen, im Raum geht es stürmisch zu, aber das Klima ist nicht schlecht. Am Ende wissen alle ein wenig mehr, ist die Welt nicht besser geworden, aber trotzdem etwas passiert. Niemand scheint unzufrieden nach der Stunde Diskussion – sie war fair und offen.
Am Ende bringt die Abgeordnete ihre Gäste noch zum Fahrstuhl, der sie auf die Kuppel bringen wird. Sie selbst geht noch einmal kurz ins Büro, um ein letztes Mal die Tasche umzupacken und nach Kreuzberg in die Obentrautstraße zu fahren.
Die Stadt ist voll um diese Zeit. Vor dem Reichstag, Eingang Ost, versucht eine Frau im gelben Regenmantel, Wasser vom überdachten Sockel und die Stufen hinunterzufegen. Das scheint im Moment auch nicht einfacher, als über Reformpolitik zu diskutieren. Petra Merkel ist auf dem Weg zu ihrem letzten Termin bei der Jugend- und Familienstiftung des Landes Berlin. Dort wird man ihr nicht anmerken, dass dies ein langer Tag war. Im Gegenteil. Dort wird sie Zukunft planen.
Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier
Erschienen am 08. November 2004