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Mit seinen Enquete-Kommissionen will das Parlament immer wieder über den Tellerrand der Tagespolitik hinausschauen, sich ein Bild davon machen, wie die Dinge zusammenhängen, wie sie sich entwickelt haben, was zu erwarten ist und wie sich die Herausforderungen wohl am besten meistern lassen, damit die Entscheidungen optimal vorbereitet sind.
Im Rückblick wird schnell klar, welche Bedeutung die Arbeit der Enquete-Kommissionen (1) für die Zukunft jeder Generation bekommen kann. Wenn die Gleichberechtigung in dieser Gesellschaft weit vorangekommen ist, dann war der Weg auch vorgezeichnet in den Kommissionen, die sich in den siebziger Jahren den Aspekten von „Frau und Gesellschaft“ annahmen. Um die „zukünftige Kernenergiepolitik“ ging es in den achtziger Jahren, um die „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung“ an der Schwelle zu den neunziger Jahren. Und was mit zahlreichen Reformanstrengungen die Menschen zu Beginn des neuen Jahrtausends bewegt, war vorzuempfinden in den Enquete-Kommissionen der neunziger Jahre unter der Bezeichnung „demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft“.
Natürlich zeichnen Enquete-Kommissionen keine 1:1-Baupläne. Aber sie belassen es auch nicht bei der Fakten- und Informationssammlung, die natürlich als vornehmste Pflicht stets am Anfang ihrer Arbeit steht. Sie analysieren dann aber auch die Daten, Beschreibungen, Statistiken, Theorien und Hypothesen im Detail, vergleichen sie, ziehen Gutachten und weitere Stellungnahmen hinzu und fassen ihre oft tief gründenden Erkenntnisse in einer Drucksache an das Plenum des Bundestages zusammen. Wo schlicht „Bericht“ draufsteht, sind oft wertvolle Erfahrungen drin. Und das verläuft ganz anders, als es bei den ständigen Fachausschüssen geschieht. Dort arbeiten sich die Abgeordneten in die Materie ein, befragen Experten in Anhörungen und ziehen daraus ihre Schlüsse. Bei den Enquete-Kommissionen ist der externe Sachverstand nicht nur vorübergehend zu Gast, hier ist er ins Parlament direkt integriert. Denn in der Regel bestehen diese Gremien nur zur Hälfte aus Abgeordneten, die andere Hälfte machen dann Fachkundige aus Wissenschaft und Praxis aus, die mit gleichen Rechten und Pflichten wie die Parlamentarier die Arbeit der Kommissionen voranbringen.
Am Anfang steht ein Antrag
Am Anfang dieser Arbeit steht immer ein Antrag. Dieser kann von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages gestellt werden. Danach ist zwar für die Einsetzung der Kommission immer noch ein Beschluss des gesamten Bundestages erforderlich – doch dieses Minderheitenrecht kann auch die Mehrheit nicht mehr beschneiden, sofern es sich bei dem verlangten Thema um einen sowohl umfangreichen als auch bedeutsamen Sachkomplex handelt. Die Möglichkeit zur Enquete-Kreation ist also ein echtes Minderheitenrecht (2). In der Regel reicht jedoch das Interesse an der näheren Untersuchung eines wichtigen Themas weit über das mindestens geforderte Viertel aller Abgeordneten hinaus.
Die Entscheidung, wer als Vorsitzender oder stellvertretender Vorsitzender Verantwortung für das Vorankommen des Gremiums übernimmt, wird analog der Bestimmung der Vorsitzenden in den ständigen Ausschüssen getroffen – also nach den Kräfteverhältnissen der Fraktionen. Die stärkste hat den ersten Zugriff, die zweitstärkste den zweiten. Auch die kleineren Fraktionen haben danach grundsätzlich Anspruch, einmal den Vorsitz einer Enquete-Kommission zu stellen. Doch bis sie entsprechend ihrer Größe an der Reihe wären, müssten mehr Enquete-Kommissionen gebildet werden, als es bislang üblich war. Deshalb erhalten faktisch SPD und CDU/CSU abwechselnd den Vorsitz der in einer Wahlperiode gebildeten Kommissionen.
Wie kommen die Mitglieder in die Enquete-Kommission? Die Abgeordneten werden von ihren Fraktionen (3) entsandt, also nicht vom Plenum (4) hineingewählt. Das bedeutet, dass die Fraktionen während der Kommissionsarbeit unkompliziert ihre Vertreter wechseln können. Nach der Geschäftsordnung des Bundestages entsendet jede Fraktion grundsätzlich einen Vertreter. Doch können es nach Beschluss des Parlaments auch mehrere sein. So hat sich die Gewohnheit herausgebildet, die Zusammensetzung in Anlehnung an das Stärkeverhältnis der Fraktionen vorzunehmen. Spiegelbildlich dazu werden auch die externen Sachverständigen benannt. Nach dieser Praxis sucht jede Fraktion genauso viele Experten aus, wie sie an Abgeordneten in das Gremium schickt. Die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ etwa wird gebildet aus 26 Mitgliedern – die SPD benennt sechs Abgeordnete und fünf Sachverständige, die CDU/CSU fünf Abgeordnete und fünf Sachverständige, Bündnis 90/Die Grünen einen Abgeordneten und zwei Sachverständige und die FDP jeweils einen.
Externer Sachverstand
Damit ist der Sachverstand nicht erschöpft. Die Experten sind auf ihrem Fachgebiet zwar zumeist ausgewiesene Fachleute. Doch wenn es um die breite Informationsgewinnung geht, lassen sich die Enquete-Kommissionen zusätzlich unterstützen von einschlägigen Institutionen, Verbänden und Forschungseinrichtungen, von den Fachabteilungen der zuständigen Ministerien, die zu Teilen des Untersuchungsgegenstandes vielleicht bereits eigene Berichte zusammengestellt haben, von internationalen Organisationen und natürlich vom Sachverstand der Bundestagsverwaltung. Jede Enquete-Kommission wird unterstützt von einem eigenen Sekretariat, in dem auch wissenschaftlich vorgebildete Fachkräfte mitarbeiten. Zu einzelnen Fragestellungen können die Kommissionen gezielt Gutachten bei weiteren Wissenschaftlern in Auftrag geben. Regelmäßig laden sie auch zu Anhörungen ein, um die Erkenntnisse vertiefen und im Disput verschiedener Ansichten überprüfen zu können.
Über solche öffentlichen Hearings (5) ermöglichen die Enquete-Kommissionen auch die ständige Begleitung sowohl durch das allgemein interessierte Publikum als auch durch die Fachöffentlichkeit. Bei brisanten Fragen und bei Fragen, die viele bewegen stellen sich Kommissionsmitglieder auch den Diskussionsbeiträgen der Bürger, etwa in Online-Konferenzen im Internet. Dokumente werden regelmäßig eingestellt, öffentliche Sitzungen auch über www.bundestag.de im Netz übertragen.
Heraus kommen bei diesem Vorgehen regelmäßig Materialsammlungen, die ganze Büroräume füllen. Eine dreistellige Zahl von Aktenordnern mit einer vierstelligen Zahl einzelner Blätter durchzuarbeiten – das gehört inzwischen zum gewöhnlichen Pensum für jedes Kommissionsmitglied. Was auf Laien abschreckend wirken mag, ist für die wissenschaftliche Praxis kein Hindernis. Im Gegenteil. Meistens sind trotz der damit verbundenen jahrelangen Verpflichtungen spontan deutlich mehr Forscherinnen und Forscher bereit, in einer Enquete-Kommission mitzuarbeiten, als Plätze für Sachverständige zur Verfügung stehen. Enquete – das hat in der deutschen Wissenschaft einen guten Klang. Denn durch das intensive Zusammentragen aller aktuell verfügbaren Erkenntnisse und deren zielgerichtete Auswertung bringen diese Gremien die Forschung selbst mit voran – verknüpft mit besonders attraktiven Praxisbezügen. Die in den Kommissionsberichten aufgezeigten Handlungsoptionen richten sich nicht nur an die Politik. Sie finden auch in der Wissenschaft starke Beachtung.
Gerade bei komplexen und aus verschiedenen Schwerpunkten bestehenden Themen arbeiten die Enquete-Kommissionen schon längst nicht mehr nur auf einen Schlussbericht hin, der stets so rechtzeitig vor dem Ende einer Wahlperiode abgeliefert werden muss, dass er vom Bundestag noch debattiert werden kann. Vielmehr erwarten die ständigen Ausschüsse und das Plenum schon während des laufenden politischen Geschäftes Zwischenberichte zu einzelnen Fachgebieten, die dann schon in die aktuelle Entscheidungsfindung einfließen. Und mehrfach sind die „umfangreichen und bedeutsamen Sachkomplexe“ derart im Fluss, umfangreich und bedeutsam, dass der neu gewählte Bundestag gleich eine weitere Enquete zum selben Thema einberuft. Die parlamentseigenen Denkfabriken sind gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umwälzungen mit großem Reformbedarf zum herausragend wichtigen Instrument der Entscheidungsvorbereitung geworden.
Gregor Mayntz