*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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3.8.1.3    Amerikanische Hegemonie und Freihandel

Es ist bekannt, dass die Vereinigten Staaten Japan immer wieder wegen seiner Verstöße gegen Freihandelsprinzipien kritisieren. Anfang der 90er Jahre, als die japanische Konkurrenz geradezu bedrohlich schien, gab es in den USA zugleich eine intensive wissenschaftliche Debatte darüber, worauf denn diese illiberalen Züge des japanischen Wirtschaftssystems zurückzuführen seien. In dieser Debatte wurde bezweifelt, dass das System seine Wurzeln in der eigenen kulturellen und politischen Tradition habe und auf die außerordentliche Lern- und Anpassungsfähigkeit der Japaner gegenüber der westlichen Zivilisation hingewiesen. So sei es in Bezug auf die außenwirtschaftliche Strategie der deutsche Volkswirtschaftler Friedrich List gewesen, an dem sie sich orientiert habe.

Wir erinnern uns: Friedrich List war insofern der bedeutendste Kritiker der Freihandelsdoktrin, als er sie mit der Entwicklungsproblematik (wie sie im 20. Jahrhundert erst genannt wurde) konfrontierte. Wie wir sahen, lag die Pointe von Ricardos Theorie gerade darin, sogar extreme Entwicklungsunterschiede zwischen Ländern nicht infrage zu stellen, sondern als gegeben hinzunehmen und zu zeigen, wie sie fruchtbar gemacht werden können für das „Wohl der Menschheit“.

Zu diesem Akzeptieren der Unterschiede war List nicht bereit, denn er sah, dass die so verstandene internationale Arbeitsteilung allzu viel mit dem „Teile und herrsche“ Großbritanniens zu tun hatte. Zum Wohl der Menschheit gehörte für ihn, dass möglichst viele Nationen „eine möglichst gleiche Stufe der Industrie und Zivilisation“ erreichen mussten, und dazu war seiner Meinung nach ein befristeter Protektionismus („Erziehungszoll“) gegenüber der Exportmacht Englands unumgänglich. List lehnte also den Freihandel nicht pauschal ab, sondern hielt seine Durchsetzung ohne Entwicklungspolitik für verfrüht und kontraproduktiv. „Dem System der Schule liegt also eine wahre Idee zugrunde – eine Idee, welche die Praxis nicht verkennen darf, ohne auf Abwege zu geraten. Nur hat die Schule unterlassen, die Natur der Nationalitäten und ihre besonderen Interessen und Zustände zu berücksichtigen und sie mit der Idee der Universalunion und des ewigen Friedens in Übereinstimmung zu bringen. Die Schule hat einen Zustand, der erst werden soll, als wirklich bestehend angenommen. Sie setzt die Existenz einer Universalunion und des ewigen Friedens voraus und folgert daraus die großen Vorteile der Handelsfreiheit. Auf diese Weise verwechselt sie die Wirkung mit der Ursache. Dass aber unter den bestehenden Weltverhältnissen aus allgemeiner Handelsfreiheit nicht die Universalrepublik, sondern die Universaluntertänigkeit der minder vorgerückten Nationen unter die Suprematie der herrschenden Manufaktur-, Handels- und Seemacht erwachsen müsste, dafür sind die Gründe sehr stark und nach unserer Ansicht unumstößlich. Ein Verein der Nationen der Erde, wodurch sie den Rechtszustand unter sich anerkennen und auf die Selbsthilfe Verzicht leisten, kann nur realisiert werden, wenn viele Nationalitäten sich auf eine möglichst gleiche Stufe der Industrie und Zivilisation, der politischen Bildung und Macht emporschwingen“ (List 1982: 142). Entsprechend wollte er auch keineswegs zum Merkantilismus zurück: Die Entwicklung der eigenen Industrie dient in seinem „System“ nicht dazu, um durch Importsubstitution oder Exportsteigerung die finanzielle Macht der Nation zu stärken, sondern ist in gewisser Hinsicht Selbstzweck, nämlich wesentlicher Teil der Entwicklung der „produktiven Kräfte“. Auf sie kommt es nach List an, weshalb er sich konsequenterweise auch gegen die Reduktion von „Reichtum“ auf Tauschwert wendet und z. B. Bildung und Forschung in den Begriff einbezieht. Was er meint, berührt sich sehr stark mit dem heutigen Begriff „systemische Wettbewerbsfähigkeit“, wie die folgende, zugleich unterhaltsame Polemik gegen den Vulgärliberalismus („die Schule“) zeigt: „Wer Schweine erzieht, ist nach ihr ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft. Wer Dudelsäcke oder Maultrommeln zum Verkauf fertigt, produziert; die größten Virtuosen, da man das von ihnen Gespielte nicht zu Markte bringen kann, sind nicht produktiv. Der Arzt, welcher seine Patienten rettet, gehört nicht in die produktive Klasse, aber der Apothekerjunge, obgleich die Tauschwerte oder die Pillen, die er produziert, nur wenige Minuten existieren mögen, bevor sie ins Wertlose übergehen. Ein Newton, ein Watt, ein Kepler sind nicht so produktiv als ein Esel, ein Pferd oder ein Pflugstier, welche Arbeiter in neuerer Zeit von Herrn McCulloch in die Reihe der produktiven Mitglieder der menschlichen Gesellschaft eingeführt worden sind“ (List 1982: 158).

   Nun wird in jener amerikanischen Debatte immerhin erwähnt, dass List wiederum durch Erfahrungen beeinflusst sei, die er in den USA gemacht habe, wohin er 1825 auswandern musste. In der Tat schreibt er selber im Vorwort zu seinem Hauptwerk, dass ihm das Leben in den USA den Gedanken der stufenweisen Entwicklung der Volkswirtschaft gelehrt habe. Aber das ist nicht alles. Schon zwei Jahre nach seiner Einwanderung wurde er berühmt durch die Veröffentlichung von „Zwölf offenen Briefen“ an den Präsidenten einer einflussreichen Gesellschaft in Philadelphia, in denen er die liberale Ökonomie kritisierte und die Grundzüge seiner eigenen Theorie darstellte (List 1982: XVIIf.). Wieso wurde er dadurch sofort berühmt? Weil die Vereinigten Staaten selber gerade zu dieser Zeit sehr hohe Zollmauern aufrichteten, die unter dem Namen „American System of Political Economy“ in die Geschichte eingingen! Die Parallele zum Titel des Listschen Hauptwerkes dürfte auffallen. Aber das war so neu nicht in der amerikanischen Politik. Schon zu Beginn des 19.Jahrhunderts bestand die wichtigste Maßnahme zur Überwindung der Rückständigkeit gegenüber Großbritannien in der Einführung von Schutzzöllen. Und sie wurden noch erhöht, als nach dem Krieg von 1812 bis 1815 eine Flut billiger britischer Textilien die junge Texti­ l­ indus­ trie in Massachusetts zu erdrücken drohte (Adams 1977 171). Die theoretischen Grundlagen für diesen massiven Protektionismus aber waren schon 1790 von Alexander Hamilton, dem ersten amerikanischen Finanzminister, gelegt worden. In seinem „Report on Manufactures“ stellte er nämlich klar, dass von einer wirklichen Unabhängigkeit der Neuenglandstaaten erst dann die Rede sein kann, wenn sie nicht mehr von Importen aus dem ehemaligen Mutterland abhängen, sondern ihre eigenen Manu­fakturwaren herstellen würden. Hier taucht zum ersten Mal das Listsche Argument des Erziehungszolls auf (Menzel 1992: 81). Symbolischen Ausdruck gab George Washington selber dieser Einsicht, indem er am Tag seiner Inauguration 1789 bewusst Kleidung von inländischem Tuch trug, „um“ – wie eine New Yorker Zeitung schrieb – „in der einfachen und ausdrucksvollen Weise, die diesem großen Manne eigen ist, allen seinen Nachfolgern im Amte und allen künftigen Gesetzgebern eine unvergess­ liche Lehre zu geben, auf welche Weise die Wohlfahrt des Landes zu befördern sei“ (List 1982: 115).

Wenn also die Vereinigten Staaten heute Japan wegen seiner Unzuverlässigkeit in Freihandelsfragen kritisieren, so kritisieren sie zugleich ihre eigene Vergangenheit, und da ihre Gegenwart auf ihrer Vergangenheit beruht, so kritisieren sie eigentlich sich selbst. Warum tun sie das jedoch faktisch nicht? Hier spielt zunächst wieder das unwillkürliche Vergessen der Sieger eine Rolle, das wir oben schon bemerkt haben: Auch wenn ich gestern noch dasselbe getan habe, was der andere heute tut, und davon auch heute noch lebe, so kann es doch nicht dasselbe gewesen sein – sonst wäre ich ja nicht der Sieger. Hinzu kommt natürlich, dass der andere, indem er heute das tut, was ich gestern tat, mir den Spiegel vorhält, mich an meine eigene dunkle Herkunft peinlich erinnert. Und wenn er mit seiner Imitation auch noch Erfolg hat, wird er sogar zum gefährlichen Konkurrenten. Die Härte der Konkurrenz erlaubt es aber nicht, sich selbst zu kritisieren, denn das hieße ja, sich selbst zu schwächen.

So ist nicht nur die Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung der Nationen, sondern zumal die Tatsache, dass sie in der Freihandelstheorie und -politik so wenig berücksichtigt wird (eben im Prinzip Gleichzeitigkeit vorausgesetzt wird), eine wesentliche Ursache politischer Konflikte.

Als in Europa der Freihandel die öffentliche Debatte zunehmend bestimmte und sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts schließlich durchsetzte, blieben die USA ungerührt „Mutterland und Bastion des modernen Protektionismus“ (Bairoch). Das ist zunächst schwer zu begreifen, weil der Liberalismus im wirtschaftlichen und politischen Leben der Vereinigten Staaten selber ja noch ausgeprägter war als im viktorianischen England. Es findet aber seine Pa­ rallele in der starken Tradition des Isolationismus. Offiziell wurde dieser Widerspruch zwischen Innen- und Außenverhältnis damit gerechtfertigt, dass die USA groß und reich genug seien, um innerhalb ihrer Grenzen die Vorteile des freien Handels genießen zu können und einen umfangreichen Außenhandel gar nicht brauchten (Adams 1977: 174).

Der Hauptgrund war aber natürlich das gegenüber Großbritannien genau umgekehrte Interesse des Nachzüglers. Es trat im Bürgerkrieg (1861–65) noch einmal klar zutage: Während es in England die Industrie gewesen war, die für den Freihandel, d. h. die Abschaffung der Zölle auf landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe eintrat, war in den USA gerade der im industriellen Aufbau begriffene Norden an Schutzzöllen interessiert und der landwirtschaftliche Süden am Freihandel, d.h. am Export von Baumwolle und Getreide nach England. Der Bürgerkrieg war also nicht nur ein Kampf um die nationale Einheit und die Sklavenbefreiung, sondern zumal eine Auseinandersetzung um die künftige Stellung der Vereinigten Staaten in der Weltwirtschaft.

Da die Schutzzollpolitik des Nordens gesiegt hatte, waren die USA in der Lage, ihren Rückstand gegenüber Großbritannien zügig aufzuholen und sich nach dem Ende der Freihandelsperiode in Europa an der imperialistischen Politik der Großmächte zu beteiligen. Dabei ging es ihnen gewiss nicht zuerst um Krieg und Kolonialbesitz (was beides allerdings nicht ausblieb), sondern um die Erschließung neuer Märkte und eine indirekte, finanzielle Kontrolle über andere Länder. Der ehemalige Außenminister Foster 1900 im „Independent“: „Welche Meinungsverschiedenheiten unter den Bürgern Amerikas hinsichtlich der Politik der territorialen Expansion auch bestehen mögen, alle scheinen darin übereinzustimmen, dass eine kommerzielle Expansion wünschenswert ist. Tatsächlich ist es für uns zu einer Notwendigkeit geworden, neue und größere Märkte für unsere landwirtschaftlichen und industriellen Produkte zu finden. Ohne sie können wir nicht unsere gegenwärtige indus­ trielle Prosperität aufrechterhalten“ (Williams 1973: 55). Es ging also nicht um die Freiheit des Handels, sondern um dessen Erzwingung bei anderen.

Ein Beispiel ist die Politik der „Offenen Tür“ in Südost­ asien. Hier erzwangen die USA schon 1853 mit der Drohung eines Bombardements die Öffnung Japans für amerikanische Exporte – allerdings mit dem ungewollten Nebeneffekt, dass sich Japan nun seiner ökonomischen    Situation bewusst wurde und mit den Meiji-Reformen die Modernisierung nach Hamilton-Listschem Rezept begann, die es ab dem Ersten Weltkrieg allmählich zum gefährlichen Konkurrenten machte. Erfolgreicher im Sinne des Imperialismus waren die USA, als sie 1899/1900 die Zustimmung aller Großmächte (außer Russland) zu ihren Open-Door Notes in Bezug auf China gewinnen konnten. Nun durften auch sie sich an der Ausplünderung dieses politisch ohnmächtigen Riesen beteiligen und dies mit Truppen absichern, die 30 Jahre dort blieben. Die Politik der Offenen Tür erhielt über Asien hinaus grundsätzliche Bedeutung im 20. Jahrhundert.

Ein anderes Beispiel ist die Wandlung, die die sogenannte Monroe-Doktrin erfahren hat. 1823 hatten die jungen Vereinigten Staaten mit ihr den Versuch der Hl. Allianz abwehren wollen, sich auf Seiten der spanischen Krone in den Unabhängigkeitskrieg der Kolonien in Lateinamerika einzumischen („Amerika den Amerikanern!“). 1904 wurde sie unter dem Druck der Geschäftswelt uminterpretiert in eine Proklamation des Rechts der USA, den lateinamerikanischen Markt allein zu beherrschen (Williams 1973: 277). Und diese Politik des „Closed Door“ wurde auch schrittweise umgesetzt: zunächst in der Karibik und Mittelamerika, nach der Schwächung Englands durch den 1. Weltkrieg dann in Südamerika („Dollar-Diplomatie“), nach dem 2. Weltkrieg schließlich institutionalisiert in der Organization of American States (OAS).

Wie wurde sie umgesetzt? Sowohl wirtschaftlich als auch militärisch. So musste England nach dem 1. Weltkrieg mit einem Großteil seines Auslandskapitals die amerikanischen Waffenlieferungen bezahlen. In den 20er Jahren stand Lateinamerika weltweit an der Spitze der Importeure von US-Kapital. Zudem wurde über die Hälfte der Stahl- und Baumwollexporte der USA von Lateinamerika abgenommen. Zwischen 1900 und 1933 kam es aber auch zu zahlreichen militärischen Interventionen: viermal auf Kuba, zweimal in Nicaragua, sechsmal in Panama, siebenmal in Honduras, zweimal in Mexiko und einmal in Guatemala (Biermann 2000: 11).

Das einscheidendste Ereignis der Geschichte des Freihandels war zweifellos die Weltwirtschaftskrise 1929 und in den Folgejahren, die zu einem Schrumpfen des Welthandels um fast 70 Prozent und damit weit hinter den Stand vor dem 1. Weltkrieg führte. Sie interessiert uns hier aber nur in zweierlei Hinsicht: Da sie von den Vereinigten Staaten ausging, war sie erstens der indirekte Beweis, dass das Zentrum der Weltwirtschaft sich endgültig dorthin verlagert hatte. Da dieses Zentrum sich jedoch als nicht tragfähig erwies, offenbarte die Krise zweitens ein gravierendes Versagen der herrschenden klassischen Außenhandelstheorie. Denn diese behauptete ja eine Selbstregulierung des Weltmarkts, wo offensichtlich enormer Regulierungsbedarf bestand. Gerade in dieser Phase, als England zur Regulierung nicht mehr und die USA dazu noch nicht in der Lage waren, hätte sich doch die Fähigkeit des Marktes zur Selbstregulierung bewähren müssen! Der Grund des Versagens war, dass die Theorie die Regulierung durch Großbritannien stillschweigend vorausgesetzt hatte. Andererseits hatte aber auch List die Frage nicht beantwortet, was denn zu geschehen habe, wenn die Nachzügler ihren Rückstand aufgeholt haben und eine gewisse Gleichheit des Entwicklungstandes erreicht ist.

Diese unentschiedene Situation trieb die Mächte in den 30er Jahren zur Bildung von exklusiven Wirtschaftsblöcken: der panamerikanischen Freihandelszone der USA, dem britischen Sterling-Block, der ostasiatischen „Wohlstandsphäre“ Japans, der südosteuropäischen Großraumwirtschaft des Deutschen Reiches. Und sie trieb sie schließlich dazu, am friedlichen Handel überhaupt zu verzweifeln und die Entscheidung im Krieg zu suchen. (Von der völkerrechtlichen Frage der Kriegsschuld ist hier natürlich abstrahiert.) Niemand glaubte mehr an die Freiheit des Handels – bis auf die Vereinigten Staaten, die sie bis zu diesem Zeitpunkt nie praktiziert hatten, aber nun zuversichtlich sein konnten, als Sieger aus dem Weltkrieg hervorzugehen. In der Atlantik-Charta, in der sie sich mit Großbritannien über die Kriegsziele verständigten, tauchte der freie Welthandel zum ersten Mal als wesentliches Element der Nachkriegsordnung auf, und zwar eingebracht von den USA, um den britischen Sterling-Block aufzubrechen! Das war also gleichsam der Zeugungsakt der zweiten, bis heute anhaltenden Freihandelsperiode. Dass innerhalb des Bündnisses der lange währende Kampf zwischen beiden Mächten zu Ende geführt wurde, bestätigte sich 1944, als Großbritannien sich weigerte, dem Bretton-Woods-System beizutreten, weil es seine Sterlingzone erhalten wollte. Daraufhin kündigten die USA 1945 sofort nach der Kapitulation Japans das Land-Lease-Abkommen mit England und zwangen es mit einem neuen Kreditvertrag zum Beitritt (Biermann, 117 f.).

Nach rund 150 Jahren hatten die USA mit fast 50 Prozent Anteil an der Weltindustrieproduktion die Monopolstellung erlangt, die es ihnen erlaubte, der Welt die freie Konkurrenz zu verkünden. „Es waren nicht die intellektuellen Vorzüge der Freihandelslehre, die alle Beteiligten schließlich zum Einlenken bewegten. Tatsächlich ist der gegenwärtige Weltmarkt ein von Menschen – man darf sagen: von Amerikanern – geschaffenes Gebilde, das Ergebnis von über 50 Jahren amerikanischer Diplomatie, amerikanischen Druck und amerikanischer Bereitschaft, den US-Markt zuerst und am weitesten zu öffnen“ (Luttwak 1999: 236). Denn Großbritannien und andere europäische Länder neigten in der Nachkriegszeit wegen ihrer Devisenknappheit und Arbeitslosigkeit begreiflicherweise zu mehr Marktintervention. Der weit härtere Widerstand, der den USA erwachsen war, kam aber jetzt von der Sowjetunion mit ihrem ganz anderen System einer nachholenden Entwicklung! So war es sicher kein Zufall, dass das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) genau zu Beginn des Kalten Krieges 1948 in Kraft trat und dass die größten Fortschritte im Abbau von Handelshemmnissen genau auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges erreicht wurden („Kennedy-Runde“ 1964 bis 1967). „Das stärkste Motiv für die Liberalisierung des Welthandels, stärker noch als die wirtschaftlichen Vorteile, die immer gegen die Nachteile abgewogen werden mussten, war stets politischer und strategischer Natur. So war GATT immer als wirtschaftliches Pendant zur gegen die Sowjetunion gerichteten westlichen Allianz gemeint“ (Luttwak 1999: 237).

   Als die USA unter Reagan zum „letzten Gefecht“ gegen die Sowjetunion antraten, taten sie dies bekanntlich unter lautstarker Berufung auf die liberale Tradition. Ein eher komisches, aber sehr sprechendes Symbol dafür war es, dass viele Angehörige der Administration damals Krawatten mit dem Bild von Adam Smith trugen. Dass sie allerdings mit ihren ungeheuren kreditfinanzierten Rüs­ tungsanstrengungen zugleich eindeutig gegen diese Tradition verstießen, mag noch aus der Situation des Kalten Krieges zu erklären sein. Wie ist es aber zu erklären, dass unter Reagan, dem Nachkriegspräsidenten mit der leidenschaftlichsten Liebe zum Laissez faire, der größte Umschwung zugunsten des Protektionismus stattfand, den es seit den dreißiger Jahren gegeben hat? Der Grund war natürlich die schon erwähnte überlegene japanische Konkurrenz, die die amerikanische Stahl-, Auto-, Werkzeugmaschinen- und Halbleiterindustrie bedrohte. Aber gelten die Gebote des freien Handels nur für die anderen, nicht für den, der sie propagiert und durchsetzen will? Offensichtlich bricht im Ernstfall der Protektionismus, auf dem der Freihandel historisch beruht, wieder unverhüllt hervor. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des GATT-Sekretariats schätzt, dass die Auswirkungen der unter Reagan beschlossenen Handelsbeschränkungen dreimal so hoch waren wie die anderer führender Industrieländer (Greider 1998: 245, Chomsky 2001: 83).

Die harte Lehre der Weltwirtschaftskrise war, dass der Markt wesensmäßig einer politisch-rechtlichen Rahmensetzung bedarf. Der Weltmarkt, der eines solchen festen Rahmens bis heute entbehrt, trägt daher seinen Namen eigentlich zu unrecht. Die Lösung, die nach dem Weltkrieg – und in gewissem Sinne sogar durch ihn – zunächst gefunden wurde, bestand darin, dass einer, nämlich der nunmehr mächtigste der Marktteilnehmer die Aufgabe der Rahmensetzung übernahm. Aber das war deshalb nur eine provisorische Lösung, weil es diesem Mächtigsten ja überlassen blieb, zwischen seinem nationalen Interesse als Marktteilnehmer und dem übernationalen Interesse an einer gerechten Ordnung zu unterscheiden, und weil es von vornherein unwahrscheinlich war, dass er dazu in der Lage sein würde. Wahrscheinlich würde er sein nationales Interesse immer wieder mit dem der Völkergemeinschaft verwechseln, ja seine übernationale Aufgabe nur dazu benutzen, sein eigenes Interesse besser durchzusetzen. So ist es, wie wir am Beispiel Reagans gesehen haben, auch gekommen. Außerdem war aber aller geschichtlichen Erfahrung nach zu erwarten, dass der betreffende Marktteilnehmer seine herausragende Stellung gar nicht dauerhaft würde erhalten können, sondern eher Nachholanstrengungen bei anderen provozieren würde. Denn es ist für die anderen Länder ja nicht hinnehmbar, um des lieben Friedens willen Wettbewerbsnachteile zu erleiden und auf eigene Entwicklung zu verzichten. Auch unter diesem Listschen Gesichtspunkt der Chancengleichheit drängt sich somit die Frage nach einer unabhängigen übernationalen Instanz zur Regulierung des Welthandels auf.

Die seit Anfang 1995 bestehende Welthandelsorganisation (WTO) ist der Versuch, eine solche Instanz einzurichten. Sie geht auf eine gemeinsame Initiative der EU und Kanadas zurück, die sich gegen die eben charakterisierte Doppelrolle der USA als Marktteilnehmer und zugleich Regulator richtete. Zum Beispiel hatten die Vereinigten Staaten immer wieder versucht, durch die Drohung mit Importverboten und anderen Handelsbegrenzungen das Wohlverhalten anderer Staaten (Südkorea, Brasilien, EU) zu erzwingen. Die WTO sieht nun ein gegenüber dem GATT sozusagen umgekehrtes Streitschlichtungsverfahren vor: Während früher ein Land nur verurteilt werden konnte, wenn alle Mitglieder – einschließlich des betroffenen Landes – zustimmten, ist jetzt der Schiedsspruch immer gültig, es sei denn, er wird von allen Ländern einstimmig abgelehnt. Und die Verurteilung ist mit der Verhängung von Sanktionen verbunden.

Wie reagierten die USA auf diesen Ausbau der internationalen Ordnung? Mit der allerdings naheliegenden Kritik, er laufe auf eine Verletzung ihrer nationalen Souveränität hinaus. Clinton konnte die Ratifizierung des WTO-Beitritts im Kongress nur dadurch erreichen, dass er den Wiederaustritt zusicherte, falls die Vereinigten Staaten dreimal vor dem Schiedsgericht angeklagt würden. Der Austritt der USA wäre aber das Ende der Organisation.




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