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74/1999
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THIERSE: BERLIN WIRD FÜR FREIHEIT UND DEMOKRATIE STEHEN

Berlin (hib): "Berlin ist von nun an die politische Metropole Deutschlands; das umgebaute Reichstagsgebäude ist ab heute Sitz des Deutschen Bundestages." Mit diesen Worten umriß Bundestagspräsident Wolfgang Thierse am Montag mittag die Bedeutung der ersten Sitzung des Bundestages nach dem Umbau des Parlamentsgebäudes in der Hauptstadt. Berlin werde für Freiheit und Demokratie, für eine europäische Politik stehen. "Wir wollen keine neue Ära, keine andere Republik, sondern einen möglichst unaufgeregten, geradezu selbstverständlichen Wechseln von Bonn nach Berlin", betonte der Präsident. Auch nach diesem Umzug werde die Bundesrepublik der föderale, rechtsstaatliche und soziale Bundesstaat sein, der sich in Bonn über Jahrzehnte hinweg bewährt habe. Er forderte zu einer "kritischen Innenansicht unserer eigenen Geschichte" auf, die nichts mit selbstgefälliger Rückschau oder gar Geschichtsrevisionismus zu tun habe, sondern mit einer "kritischen Selbstvergewisserung, welches historische Erbe wir gerade in diesem so umstrittenen Gebäude antreten".

Das Gebäude habe bereits im Kaiserreich stärker in Richtung auf parlamentarische Demokratie als in Richtung auf einen restaurativen Absolutismus gezielt. Aber weil es dem Reichstag damals nicht gelungen sei, erweiterte Parlamentsrechte durchzusetzen, sei es geradezu folgerichtig gewesen, daß der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November 1918 von einem Fenster des Reichstags die Republik ausrief. Das Reich habe eine demokratische Verfassung erhalten, der Reichstag sei Ort der parlamentarischen Auseinandersetzung geworden. Thierse bezeichnete es als eines der "hartnäckigsten und dümmsten Vorurteile", daß das Reichstagsgebäude als Symbol für den "nationalsozialistischen Ungeist, seinen Rassenwahn und seine Kriegspolitik" stehe. Hitler habe in dem Gebäude nie als Parlamentarier gesprochen. Nach dem Krieg und erst recht nach dem Bau der Mauer habe das Reichstagsgebäude "wie ein Mahnmal" fast Wand an Wand mit dieser "gewaltsamen innerdeutschen Grenze" gestanden. Es sei für ihn ein Symbol für das ungelöste Problem der deutschen Teilung gewesen, sagte Thierse.

Der Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin symbolisiert für den Präsidenten etwas "erfreulich Zivilisatorisches" in der deutschen Geschichte. Dieser neue Moment verweise auf Traditionen, die in den letzten 50 Jahren erst wirklich die deutsche politische Kultur hätten prägen können. An diesen Traditionen, nämlich dem Antifaschismus und einem unaufgeregten, bescheidenen Verhältnis zur Nation, dem Streben nach sozialem Ausgleich, der guten Nachbarschaft und dem Interessenausgleich mit den anderen Völkern und Staaten, der europäischen Zusammenarbeit und Integration sowie der Fortentwicklung der Europäischen Union, müsse man festhalten, so Thierse. Alle Debatten, die auf Schlußstriche unter die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts zielten, würden an diesem Ort ad absurdum geführt: "Dieser Ort ist Geschichte, er läßt keinen Austritt aus ihr, er läßt keinen Schlußstrich zu!" Totalitäre Ideologen und Demagogen dürften in Deutschland nie wieder eine Chance bekommen. In diesem Zusammenhang dankte der Bundestagspräsident dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl, der 1983 gesagt habe, es bleibe als Mahnung festzuhalten, daß die Republik jeden Tag neu erworben werden müsse, "weil die politische Kultur der Freiheit sich nicht von selbst versteht".

Thierse dankte dem Architekten, Sir Norman Foster, der mit dem Neubau von Plenarsaal und Kuppel innerhalb der historischen Ursprungsarchitektur eine gelungene Synthese geschaffen habe, seiner Vorgängerin Rita Süssmuth, dem Vorsitzenden der Baukommission des Bundestages, Dietmar Kansy, sowie allen, die zum Gelingen des Projektes beigetragen hätten. Zuvor hatte der Bundestagspräsident um 11.23 Uhr einen symbolischen, fünfzig Zentimeter langen Schlüssel aus den Händen von Foster entgegengenommen. Der Architekt verdeutlichte in seiner Ansprache, er habe bei der Ausschreibung des Wettbewerbs zunächst Zweifel gehabt, ob er als Ausländer für ein so bedeutsames Gebäude die Verantwortung übertragen bekommen würde. Im nachhinein könne er feststellen, daß der Prozeß von Anfang bis Ende von Tatkraft, Fairneß und Offenheit aller Beteiligten geprägt gewesen sei. Foster erinnerte zudem an die Verhüllung des Reichstagsgebäudes im Sommer 1995. Damals sei man "Zeuge einer Transformation" geworden. Heute seien "ähnliche Gefühle wieder in der Luft".

Kansy zitierte den früheren französischen Präsidenten François Mitterrand mit den Worten "Ein Volk ist so groß wie seine Architektur". Die Verantwortlichen, so Kansy, hätten sich darum bemüht, nicht luxuriös oder pompös, sondern würdig und angemessen für eine Verfassungsorgan zu bauen. Der Bundestag habe nicht nur ein Quartier gesucht in dieser Stadt, sondern mitgestalten wollen als deutsches Parlament. Dies sei gelungen, ohne den Kostenrahmen zu überschreiten. Der Geschäftsführer der Bundesbaugesellschaft, Winfried Rütter, hob anläßlich der Schlüsselübergabe hervor, dies sei ein großer Tag für das Parlament der Bundesrepublik, für Berlin und für alle beteiligten Bauschaffenden.



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Quelle: http://www.bundestag.de/bic/hib/1999/9907401
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