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132/2005
Stand: 11.05.2005
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Experten warnen vor Abwanderung von Geisteswissenschaftlern ins Ausland

Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Berlin: (hib/KOS) Die zunehmende Abwanderung hoch qualifizierter Wissenschaftler ins europäische Ausland und in die USA als Folge von Stellenknappheit und der Abschaffung von Lehrstühlen haben Sachverständige bei einer Anhörung am Mittwochvormittag über einen Antrag der Fraktionen von SPD und Grünen zur Situation der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften in Deutschland ( 15/4539) kritisiert. Die Experten warnten zudem vor den negativen Folgen, die der Streit zwischen Bund und Ländern über die Hochschul- und Forschungspolitik für Universitäten und Wissenschaftler habe. Werde die bewährte Bund-Länder-Kooperation gefährdet, drohe ein "Rückfall in den Provinzialismus", betonte im Namen der Deutschen Forschungsgemeinschaft der Freiburger Geschichtsprofessor Hans-Joachim Gehrke.

Übereinstimmend erklärten die Sachverständigen, dass sich die Geisteswissenschaften inhaltlich keineswegs in einer Krise befinden. International habe die hiesige Forschung einen hohen Standard, so Professorin Ulrike Freitag, Direktorin des Zentrums Moderner Orient in Berlin. Horst Bredekamp, Professor für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin: "Die Geisteswissenschaftler waren selten so produktiv wie momentan." Zudem befinde man sich in einer positiven Umbruchphase, erläuterte der Jenaer Romanistik-Professor Reinhold Grimm: Die Forscher vernetzten sich zusehends, auch greife Teamarbeit immer mehr um sich.

Grimm beklagte, dass die Geisteswissenschaften wegen ihres fehlenden kurzfristigen ökonomischen Nutzens unter Druck gesetzt werden. Professor Wolfgang Frühwald, Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung: "Wir stehen in der Öffentlichkeit unter Legitimationsdruck, damit müssen wir offensiver umgehen." Bredekamp hob die Rolle der Geisteswissenschaften als Seismographen hervor: "An den Universitäten werden kulturelle Bewegungen viel früher wahrgenommen als anderswo." Als Beispiel erwähnte Gehrke französische Studien, nach denen die vertiefte Kenntnis anderer Kulturen und Traditionen gegen Vorurteile immunisiere. Dies sei etwa beim Thema Antisemitismus von Belang. Bredekamp kritisierte, die Geisteswissenschaften würden trotz ihrer gesellschaftlichen Bedeutung "nieder geredet", es werde auf sie "eingedroschen". Er wies darauf hin, dass zehn Mal mehr Menschen Museen und Ausstellungen besuchen als Fußballstadien.

Als ein Kernproblem bezeichneten die Sachverständigen die Abschaffung von geisteswissenschaftlichen Lehrstühlen. Um die zunehmende Abwanderung jüngerer Forscher ins Ausland zu verhindern, "brauchen wir Stellen", forderte Gehrke. Mit besonderen Schwierigkeiten hätten kleinere Fächer wie etwa Sinologie, Orientalistik oder Slawistik zu kämpfen, obwohl deren Themengebiete angesichts der fortschreitenden Internationalisierung immer wichtiger würden. Der frühere Staatsminister Julian Nida-Rümelin, Politik-Professor in München, beklagte in seiner schriftlichen Stellungnahme, dass "in ganz Deutschland kleine geistes- und kulturwissenschaftliche Fächer geschlossen werden". Bei diesem Vorgehen würden sich die einzelnen Bundesländer nicht untereinander abstimmen, kritisierten mehrere Experten. Grimm berichtete, dass beispielsweise in Berlin und Brandenburg aufgrund rein lokaler Entscheidungen Slawistik-Lehrstühle reihenweise dichtgemacht würden. Frühwald sagte, mit der Aufgabe der Koreanistik-Professur in Tübingen werde "dieses Fach in Baden-Württemberg ausradiert". In Nordrhein-Westfalen, so Gehrke, gebe es nur noch einen Lehrstuhl für Sinologie. Ulrike Freitag wandte sich dagegen, kleinere Fächer an einigen wenigen Universitäten zu konzentrieren. Stattdessen solle man deren Arbeit bundesweit besser vernetzen.

Aus Sicht Nida-Rümelins wird die verstärkte Berufsfeld- und Anwendungsorientierung von vielen Geisteswissenschaftlern und Studenten "als eine Existenzbedrohung ihres Fachs empfunden". Die Verschulung der universitären Lehre bedrohe die Geisteswissenschaften in besonderer Weise, weil hier die Verbindung von Lehre und Forschung besonders eng sei. Sie zwinge die Geisteswissenschaften in ein "Korsett", das etwa für die Physik oder die Jurisprudenz angemessen sei, "aber in der Philosophie oder in der Politischen Theorie eine gefährliche Erstarrung des Lehrbetriebs nach sich zieht".

Quelle: http://www.bundestag.de/bic/hib/2005/2005_132/07
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