Deutscher Bundestag
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15. Wahlperiode
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   161. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 25. Februar 2005

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Ich darf Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich)

   Der Deutsche Bundestag trauert um sein langjähriges Mitglied, den früheren Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Parlamentarischen Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Staatsminister im Bundeskanzleramt, Hans-Jürgen Wischnewski, der gestern Abend nach einem langen, erfüllten Leben im Alter von 82 Jahren verstorben ist.

   Hans-Jürgen Wischnewski wurde 1922 im ostpreußischen Allenstein als Sohn eines Zollinspektors geboren und wuchs in Berlin auf, wo er 1941 sein Abitur absolvierte. Von 1940 bis 1945 war Wischnewski wie so viele seiner Generation Soldat. Nach dem Krieg kam er nach kurzer Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft nach Berlin zurück, wo er im Ostteil der Stadt wohnend die gewaltsame Errichtung der kommunistischen Herrschaft durch die sowjetische Besatzungsmacht miterleben musste. Dieses Ereignis prägte seine ablehnende Haltung gegenüber dem Kommunismus und führte im Frühjahr 1946 dazu, dass er Berlin verließ und nach Bayern ging, wo er als Metallarbeiter beschäftigt war.

   Die Erfahrungen in Berlin und sein persönlicher Lebensweg haben seine politische Haltung und sein Handeln wesentlich beeinflusst, sodass er bereits 1946 der SPD und der IG Metall beitrat. Nach einer Ausbildung in Arbeits- und Sozialrecht wurde er als Gewerkschaftssekretär zur Betreuung von Betriebsräten nach Köln entsandt.

   1957 wurde er SPD-Vorsitzender des Kreisverbandes Köln. Im selben Jahr wurde er zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt. 33 Jahre – bis 1990 – war er stets direkt gewählter Abgeordneter seines Kölner Wahlkreises.

   In den Jahren nach 1957 übernahm Hans-Jürgen Wischnewski wichtige Führungspositionen innerhalb seiner Partei, darunter den Bundesvorsitz der Jungsozialisten. Er wurde Mitglied des Parteivorstandes und des Präsidiums, stellvertretender Parteivorsitzender und Schatzmeister der Partei und Bundesgeschäftsführer der SPD.

   Unter der Großen Koalition wurde er 1966 zum Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit ernannt. In diesem Amt konnte Wischnewski mit seinen Erfahrungen und Perspektiven einer Neugestaltung der Entwicklungshilfe zum Durchbruch verhelfen.

   In der Zeit der sozialliberalen Regierung war er Parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt. 1976 wechselte er bis zum Ende dieser Koalition im Jahr 1982 als Staatsminister ins Kanzleramt und war in dieser Funktion eine tragende Stütze der Regierung.

   Aus der Zeit als Bundesvorsitzender der Jungsozialisten stammte sein großes Engagement für die arabische Welt, das erstmals in den 50er-Jahren durch seinen Einsatz für die Unabhängigkeit Algeriens zutage trat. Durch zahlreiche Studienreisen verschaffte er sich in dieser Zeit einen Überblick über die Problemherde im afro-arabischen Raum.

   Bereits 1970 wirkte Wischnewski, dem wegen seiner vielfältigen internationalen Kontakte zumal zu den islamischen und arabischen Ländern Willy Brandt den Spitznamen „Ben Wisch“ gegeben hatte, in Amman hinter den Kulissen an einer Geiselbefreiung mit. Seine wohl bekannteste und schwierigste Mission führte ihn 1977 als Staatsminister im Kanzleramt nach Mogadischu, wo seine Vermittlung im Zusammenhang mit der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ die Befreiung der Geiseln durch die GSG 9 ermöglichte. Er sagte dann anschließend auf seine unnachahmliche Art: „Die Arbeit ist erledigt.“

   Wir trauern um einen großen Politiker und überzeugenden Menschen. „Nur die Politik hat Wert, die Menschen hilft“, das war sein Motto. Danach hat er gehandelt.

   Hans-Jürgen Wischnewski hat sich um unser Land verdient gemacht. Der Deutsche Bundestag wird dem Verstorbenen ein ehrendes Gedenken bewahren.

   Ich danke Ihnen.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung heute mit der zweiten und dritten Beratung des Justizkommunikationsgesetzes zu beginnen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe also den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz (Justizkommunikationsgesetz – JKomG)

– Drucksache 15/4067 –

(Erste Beratung 138. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 15/4952 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dirk Manzewski Andrea Astrid Voßhoff Hans-Christian Ströbele Sibylle Laurischk

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort.

Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz:

Herr Präsident! Meine sehr geehrte Damen und Herren! In der letzten Legislaturperiode hat die Bundesregierung die Initiative „Bund-Online 2005“ aufgelegt. Diese Initiative verfolgt das Ziel, bis zum Ende dieses Jahres alle internetfähigen Dienstleistungen, die der Bund anbietet, Bürgerinnen und Bürgern sowie vor allen Dingen der Wirtschaft online bereitzustellen. Mit dem Justizkommunikationsgesetz, das Sie heute verabschieden wollen, leistet der Deutsche Bundestag einen wichtigen Beitrag, um das Ziel der Initiative „Bund-Online 2005“ zu erreichen.

   Justiz ist ohne Kommunikation nicht vorstellbar. Gerichtliche Verfahren bestehen in allererster Linie aus Kommunikation. Die Verfahrensbeteiligten präsentieren den Streitgegenstand dem Gericht. Das Gericht erörtert mit den Beteiligten den Streitgegenstand und das Ergebnis dieses Kommunikationsprozesses ist die Erledigung des Rechtsstreites, und zwar entweder durch Vergleich oder durch Entscheidung. Mit einer Reihe von Dienstleistungen ist die Justiz bereits mitten auf dem Weg in eine elektronische Kommunikationsgesellschaft. Ihnen allen ist sicherlich das inzwischen vorhandene elektronische Mahnverfahren in Deutschland bekannt. Handwerker und andere Gewerbetreibende haben die Möglichkeit, von zu Hause aus Mahnbescheide zu beantragen.

   In vielen Gerichten gibt es inzwischen elektronische Postfächer, sodass Anwältinnen und Anwälte ihre Schriftsätze papierlos einreichen können. Der Bundesgerichtshof bietet seit 2002 die Möglichkeit, bei ihm Schriftsätze elektronisch einzureichen oder förmliche Zustellungen elektronisch durchzuführen. Beim Bundesverwaltungsgericht und beim Bundesfinanzhof gibt es inzwischen ein virtuelles Gerichtspostfach. Auch beim Deutschen Patent- und Markenamt – das kennen Sie alle – können Patentanmeldungen seit Oktober 2003 papierfrei eingereicht werden. Hier sind wir sogar so weit, dass es eine Vereinbarung mit dem Europäischen Patentamt, das ebenfalls in München sitzt, gibt. Es ist nur eine Software notwendig, um Patente entweder beim Deutschen Patent- und Markenamt oder beim Europäischen Patentamt zu beantragen.

   Diese Entwicklung wollen wir weiter beschleunigen. Kommunikation muss zunehmend einfacher, effizienter und schneller werden. Wir müssen dazu die modernen Kommunikationsmittel nutzen. Diese bieten sich gerade in der Justiz sehr stark zur Nutzung an; denn die Verfahren vor Gericht sind stark formalisiert. Wiedervorlagefristen und Ähnliches lassen sich sehr gut abbilden. Wir wollen mithilfe elektronischer Verwaltungsabläufe die Verfahren weiter vereinfachen und die Verfahrensbeteiligten von bürokratischem Aufwand entlasten. Das kommt in erster Linie den Verfahrensbeteiligten, den Anwältinnen und Anwälten sowie den Richtern, zugute. Außerdem können Anwälte auch ohne Papierakte irgendwann – das wird sicherlich noch etwas dauern – online Akteneinsicht nehmen.

   Bisher gab es ein Haupthindernis für die Nutzung der modernen Informationstechnologie. Das war die Datensicherheit. Gerade das Justizverfahren muss besonders sicher sein; darauf müssen wir Wert legen. Dieses Problem haben wir mit der Signaturtechnik gelöst. Es ist mittlerweile möglich, mithilfe der elektronischen Signatur sowohl eine sichere Aufbewahrung von Daten zu garantieren als auch die Absenderauthentizität und -integrität nachzuweisen bzw. zu garantieren. In der Sache bleibt es bei den Anforderungen, die das geltende Recht auch an das schriftliche Verfahren stellt. Dokumente, die nach geltendem Recht zu unterschreiben sind, benötigen eine qualifizierte elektronische Signatur. Bei formlosen Mitteilungen reicht es, wenn man ein unsigniertes Dokument versendet.

   Auf der Grundlage des geltenden Verfahrensrechts ist ein so genannter Workflow, eine interne elektronische Bearbeitung, noch nicht möglich. Den Schritt hin zu einem vollständigen Kommunikationssystem vollziehen wir mit dem vorliegenden Justizkommunikationsgesetz. Der elektronische Rechtsverkehr und die elektronische Akte werden für den Zivilprozess, für den Arbeitsgerichtsprozess, für die öffentlichrechtlichen Fachgerichtsbarkeiten und für die Ordnungswidrigkeiten vorgesehen. Alles wird als Option angeboten. Niemand ist verpflichtet, es zu nehmen. Wir respektieren die Rechte der Länder, indem wir sagen: Der jeweilige Dienstherr entscheidet, ob etwas eingeführt wird; wenn er einführt, tut er dies durch Rechtsverordnung. Das gilt sowohl für den Bund als auch für die Länder.

   Wir haben in diesem Gesetz auch eine technikoffene Regelung vorgesehen. Gerade weil die Technik in kaum einem Bereich so schnell fortschreitet wie in diesem, können wir keine detaillierten Vorgaben machen, sondern müssen Technikoffenheit bestimmen. Wir müssen nur sehen, dass wir uns mit den Ländern auch über einheitliche Standards verständigen. Das ist natürlich die Voraussetzung dafür, dass die Kommunikation zwischen Bund und Ländern funktioniert. Das hat in der Vergangenheit gut geklappt und ich hoffe, dass es auch in Zukunft so bleibt.

   Wie ich bereits eben sagte, wird der jeweilige Dienstherr entscheiden, wann die elektronische Kommunikation vollständig eingeführt werden kann. Ich weiß natürlich, dass es dafür in vielen Bereichen nicht genug Geld gibt. Gleichwohl kann ich nur sagen: Ich empfehle, das einmal ordentlich durchzurechnen; denn man kann mit den neuen Mitteln sehr viel Geld sparen.

   Lassen Sie mich noch etwas zu der Ergänzung sagen, die im Rechtsausschuss vorgenommen wurde. Erst einmal: Vielen Dank! Diese Ergänzung betrifft die Prozesskostenhilfe. Durch Änderungen im Sozialgesetzbuch ist der Kreis derjenigen, die einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, in einer Weise ausgedehnt worden, die nicht vertretbar erscheint. Dieses Versehen können wir jetzt dank Ihrer Unterstützung korrigieren. Wir führen die Prozesskostenhilfe damit auf die frühere Basis zurück. Es wird nichts gekürzt und es wird nichts erhöht; es bleibt alles so, wie es war. Lediglich diese Ungenauigkeit wird bereinigt. Ich danke dafür, dass das möglich war. Ich weiß, dass das Aufsatteln auf Gesetze nicht geschätzt wird. Aber ich meine, dass wir das in diesem Fall gerade wegen des berechtigten Interesses der Bundesländer, jetzt schnell zu einer Änderung zu kommen, rechtfertigen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Andrea Voßhoff, CDU/CSUFraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem zunehmenden elektronischen Informations- und Geschäftsverkehr im Alltag von Unternehmen und Bürgern muss auch die Justiz gerecht werden. Deshalb ist es ebenso klar wie notwendig, dass sich die Justiz als Dienstleister für den Rechtsuchenden den Entwicklungen und Veränderungen der Gesellschaft, insbesondere im Bereich der modernen Kommunikation, anpassen muss. Eine moderne und vor allem effiziente Justiz ist aber nicht nur für den rechtsuchenden Bürger, sondern insbesondere auch für die Wirtschaft ein wichtiger Standortfaktor.

   Wenn das Medium Papier im Alltag der Bürgerinnen und Bürger und insbesondere der Wirtschaft zunehmend durch elektronische Dateien ersetzt wird, dann kann sich die aktenschwere Justiz dem nicht verschließen.

(Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch ökologisch sinnvoll!)

   Der elektronische Rechtsverkehr und die elektronische Aktenführung innerhalb der Gerichte und in der Justiz insgesamt sind deshalb auszubauen. Auszubauen ist aber auch die elektronische Kommunikation mit der Außenwelt, also mit Verfahrensbeteiligten, mit Anwälten und anderen. Dazu ist nicht nur erforderlich, die Justiz in Bund und Land weiterhin mit moderner Hard- und Software auszustatten; von grundsätzlicher Bedeutung ist es im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes auch, unsere bestehenden Rechts- und Verfahrensordnungen und damit auch das Bundesrecht anzupassen.

   Dem ist Rot-Grün bisher aber leider nur schleppend nachgekommen. Es war noch die CDU/CSU-geführte Bundesregierung, die bereits 1997 mit dem Signaturgesetz die rechtlichen Voraussetzungen für die Verwendung der digitalen Signatur in Deutschland als einem der ersten Länder geschaffen hat.

   Damals war Deutschland noch Vorreiter im Bereich der elektronischen Kommunikation. Aber erst im Jahr 2001 hat dann Rot-Grün unter anderem mit dem Formvorschriftenanpassungsgesetz und dem Zustellungsreformgesetz die ersten kleinen Schritte zur Öffnung der Justiz für den elektronischen Rechtsverkehr unternommen.

   Es mussten weitere vier Jahre vergehen, bis die rotgrüne Bundesregierung mit dem heute vorliegenden Justizkommunikationsgesetz endlich das Schließen einer rechtlichen Lücke auf dem Weg zum – wie es so schön heißt – elektronischen Workflow bei Gericht veranlasst hat.

   In Österreich – so der Deutsche EDV-Gerichtstag – werden beispielsweise bereits 60 Prozent aller Zivilklagen elektronisch erhoben, und zwar, wie wir in einem Berichterstattergespräch vom BMJ erfahren haben, offenbar auch reibungslos. Vielleicht ist das österreichische Beispiel für die Justizministerin wenigstens ein Ansporn, nun zügig den schon lange angekündigten Gesetzentwurf oder mindestens Referentenentwurf zur Umsetzung der EU-Richtlinie SLIM IV zum elektronischen Handelsregister – deren Umsetzung wird bis zum Jahr 2007 gefordert  – vorzulegen.

   Mit dem heute zu verabschiedenden Justizkommunikationsgesetz sollen der Zivil-, der Arbeits-, der Verwaltungs-, der Finanz- und der Sozialgerichtsprozess sowie das Ordnungswidrigkeitenverfahren umfassend für den elektronischen Rechtsverkehr geöffnet werden. Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßen dieses Ziel und werden dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen. Er war nicht nur lange überfällig, sondern er ist auch notwendig.

   Um was geht es? Die Verfahrensbeteiligten, also Anwälte und Betroffene, sollen in allen Bereichen der Gerichtsbarkeit die Möglichkeit erhalten, elektronische Kommunikation parallel zur herkömmlichen papiergebundenen Schriftform oder mündlichen Form rechtswirksam zu nutzen. Selbstverständlich können rechtsuchende Bürger ihre Schriftstücke nach wie vor in Papierform bei den Gerichten einreichen.

   Im Bereich des Strafverfahrens wird zunächst lediglich die Möglichkeit geschaffen, elektronisch zu kommunizieren. Eine elektronisch geführte Akte ist vorerst noch nicht vorgesehen. Aber auch da, denke ich, müssen wir, wie es so schön heißt, am Ball bleiben.

   Das Gesetz regelt unter anderem die Voraussetzungen für die Onlineakteneinsicht der Verfahrensbeteiligten bis hin zur elektronischen Beglaubigung durch Notare. Auch enthält es Regelungen hinsichtlich der Anforderungen an elektronische Dokumente; denn auch das elektronische Dokument – die Klage, das Urteil, der Schriftsatz – muss authentisch sein. Das heißt, es muss sichergestellt sein, dass es auch tatsächlich von dem Verfasser stammt und nicht verändert worden ist, dass also elektronische Dokumente nicht manipuliert werden können.

   Dazu soll nach dem Justizkommunikationsgesetz die qualifizierte elektronische Signatur in den Verfahrensordnungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Fachgerichte immer dort eingesetzt werden, wo nach bisheriger gesetzlicher Regelung die handschriftliche Unterzeichnung notwendig ist. Die technischen Sicherheitsanforderungen hinsichtlich der Authentizität der qualifizierten elektronischen Signatur sind allerdings außerordentlich komplex. Das Sicherungsverfahren bei der qualifizierten elektronischen Signatur mittels so genannter Hash-Algorithmen in allen Einzelheiten zu verstehen bedarf fast schon eines Studiums und ist – das gestehe ich freimütig ein – dem einen oder anderen Juristen nicht so ohne weiteres zugänglich. Derzeit ist nach den technischen Erkenntnissen aber wohl von einem ausreichenden Schutz vor Manipulation der mit dieser Signatur versehenen Dokumente auszugehen.

   Angesichts des technischen Wandels wird es insbesondere für die Archivierung der elektronischen Akte notwendig sein, die dauerhafte Lesbarkeit auch technisch sicherzustellen. Das, denke ich, ist ein Problem bzw. ein Thema, das uns noch das eine oder andere Mal beschäftigen wird.

   Mit dem Justizkommunikationsgesetz wird auch die Beweiskraft sowohl von originär elektronisch erstellten Urkunden als auch von Urkunden, die aus der Papierform in ein elektronisches Dokument transferiert worden sind, geregelt. Es wird sich in der Anwendung und Praxis zeigen müssen, inwieweit die Beweisregeln elektronischer Dokumente der Rechtssicherheit und dem Rechtsschutz genügen. Ich sage dies insbesondere im Lichte der letzten Änderung des Signaturgesetzes, in dem zur besseren Akzeptanz der elektronischen Unterschrift bei den Bürgerinnen und Bürgern die Barrieren und Hemmnisse sinnvollerweise abgebaut wurden.

   Ob der medienbruchfreie Erwerb einer Signaturkarte, also die komplette Antragstellung per Internet – das ist ja das Ziel – auch eine zuverlässige Identifizierung des Signaturkartenantragstellers zweifelsfrei sicherstellt, wird zu beobachten sein. Insbesondere im Lichte der im Justizkommunikationsgesetz vorgesehenen Beweiskraftregeln sollten wir dies im Auge behalten.

   Es bleibt abzuwarten, wann die elektronische Aktenführung an deutschen Gerichten österreichisches Ausmaß angenommen haben wird. Bund und Länder bestimmen nach diesem Gesetz jeweils für ihren Bereich den Zeitpunkt, von dem an die Prozessakten elektronisch geführt werden können. Projekte des elektronischen Rechtsverkehrs – die Ministerin hat es ausgeführt – laufen bereits sowohl am BGH als auch in allen Bundesländern. Das geht vom elektronischen Briefkasten beim Finanzgericht Cottbus in Brandenburg bis hin zum elektronischen Grundbuch und Handelsregister in Bayern.

   Wir werden die weitere Entwicklung auf dem Weg zur tatsächlich elektronisch geführten Akte aufmerksam verfolgen und begleiten; denn zweifelsohne wird die elektronische Akte neben der schnelleren und besseren Information auch deutliche Entlastungspotenziale für die Justiz bringen. Dabei meine ich nicht in erster Linie den Kostenfaktor, der in diesem Zusammenhang immer diskutiert wird, sondern mehr die höhere Effizienz der Arbeit der Gerichte, zum Beispiel allein schon durch die jederzeitige Verfügbarkeit einer elektronisch geführten Akte für die jeweiligen Sachbearbeiter.

   Im Interesse des Rechtsuchenden sollten Bund und Länder alle Anstrengungen unternehmen – darüber sind wir alle uns sicherlich einig –, zügige und dienstleistungsorientierte Gerichtsverfahren zu ermöglichen. Was aber nutzt aller Einsatz, um eine Entlastung und effizientere Arbeitsweise der Justiz zu erreichen, wenn – das muss ich an dieser Stelle erwähnen – Rot-Grün durch das anstehende Antidiskriminierungsgesetz künftig für eine wahre Prozesslawine sorgen wird?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sibylle Laurischk (FDP) – Hans-Joachim Hacker (SPD): Das hat doch damit nichts zu tun! Das ist eine andere Materie! – Alfred Hartenbach (SPD): Das kann man auch elektronisch bearbeiten, Frau Voßhoff! – Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sagen Sie etwas zu PISA!)

Meine Damen und Herren Rechtspolitiker von SPD und Grünen, es ist ja mehr als bedauerlich und bezeichnend, dass der Rechtsausschuss in dieser Frage nicht federführend ist. Deswegen appelliere ich an Sie, bremsen Sie diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Anwälte und Arbeitsgerichte.

(Joachim Stünker (SPD): Ceterum censeo Carthaginem delendam esse!)

   Auch möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass wir heute mit dem Justizkommunikationsgesetz auch eine Korrekturregelung zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe beschließen werden.

(Hans-Joachim Hacker (SPD): Das eben war ein Flop!)

– Das war kein Flop. – Im Rahmen der Gesetzgebung zu Hartz IV Ende 2003 hat es Rot-Grün versäumt, mit den Änderungen im Sozialhilferecht die notwendigen Anpassungen im Bereich der Prozesskostenhilfe vorzunehmen. Dadurch ist es faktisch zu einer untragbaren Ausdehnung des Kreises der Berechtigten gekommen, denen bei relativ hohem Einkommen eine PKH-Bewilligung zuzugestehen wäre. Selbstverständlich war daher eine entsprechende Korrekturregelung vorzunehmen. So wird das Parlament zur Reparaturwerkstatt von Rot-Grün.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Nicht das erste Mal! – Alfred Hartenbach (SPD): Sie waren genauso beteiligt!)

Da die Korrekturen inhaltlich im Ergebnis an die bis zum Jahresende 2004 geltende Regelung wieder anknüpfen, diese sogar noch leicht aufgestockt wird, ist die Korrektur sachgerecht. Inakzeptabel bleibt dennoch, dass erst ein Jahr vergehen musste, bis Rot-Grün dieses Versäumnis erkannt und korrigiert hat.

(Hans-Joachim Hacker (SPD): Frau Voßhoff, wir wollten eigentlich klatschen!)

   Abschließend darf ich mich noch für die konstruktiven Berichterstattergespräche im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens bei den Kollegen und bei den Mitarbeitern des BMJ ganz herzlich bedanken.

(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Joachim Hacker (SPD): Wir wollten eigentlich klatschen!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Christian Ströbele, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Guten Morgen, Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen, auch Ihnen sage ich: Guten Morgen! Ich habe in den letzten Wochen mühsam gelernt, was das Gesetz bedeutet.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Auch behalten?)

   Als ich vor fast 40 Jahren angefangen habe, als Rechtsanwalt tätig zu werden, da gab es

(Joachim Stünker (SPD): Noch keine Bleistifte!)

zwar schon Bleistifte, aber noch keine Kopiergeräte und auch nicht die kleinen handlichen Diktiergeräte. All das gab es damals nicht.

(Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber Zweitabschriften!)

Wenn ich Akteneinsicht nehmen wollte, bin ich zum Gericht gefahren, habe mir die Akten vorlegen lassen und habe dann viele Stunden gesessen, um ein Exzerpt anzufertigen. Bei besonders gut ausgestatteten Anwaltskanzleien nahm man einen Mitarbeiter bzw. meistens eine Mitarbeiterin mit, die dann stenografiert und so möglichst viele Teile der Akten übertragen hat.

(Joachim Stünker (SPD): Da gab es noch Arbeitsplätze!)

Danach kamen die Kopierer. Die Folgen waren nicht nur Arbeitserleichterung und bessere Möglichkeiten, sich auf Verfahren vorzubereiten, sondern auch, dass die Akten immer dicker wurden.

(Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Genau! Und staubiger!)

Man konnte sie bald nicht mehr tragen. In größeren Strafprozessen brauchte man Hilfspersonal, um all seine Akten überhaupt mit zu Gericht nehmen zu können. Technische Neuerungen haben also immer mehrere Seiten. Die Diktiergeräte haben die Mitarbeiterin oder den Mitarbeiter ersetzt, die bzw. der zum Diktat im Büro erschien. Auch da ist viel persönlicher Kontakt auf der Strecke geblieben. Das muss man einfach einmal so feststellen.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Das muss eine spannende Zeit gewesen sein!)

   In Zukunft muss ich offenbar gar nicht mehr zum Gericht oder zur Staatsanwaltschaft gehen, um Akten einzusehen, weil es dort ja irgendwann gar keine Akten in Papierform mehr geben wird und – das ist viel wichtiger – weil ich sie zu Hause von meinem Schlafzimmer

(Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hast du da einen PC?)

oder vom Büro aus, aus dem Hotelzimmer oder aus dem Zug heraus aufrufen kann. Also immer dann, wenn mir etwas einfällt, wenn ich denke, dass da noch etwas war, was ich vergessen habe, oder wenn ich noch einmal sehen möchte, was in einem bestimmten Dokument steht bzw. was in einem Schriftsatz falsch oder richtig vorgetragen worden ist, ist Akteneinsicht möglich. Das, was uns da bevorsteht, stellt in der Tat eine Revolution bezüglich der Arbeitsweise der Justiz und der Rechtsanwälte dar.

   Das wird aber, wie ich denke, so schnell nicht kommen; denn das soll jetzt erst einmal angeschoben werden. Es werden zunächst die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die elektronische Aktenführung Realität werden kann. Wir alle werden davon profitieren. Es ist in Zukunft nämlich nicht mehr nötig, seine Schriftsätze erst zu diktieren, sie dann schreiben zu lassen, sie sich dann vorlegen zu lassen, sie dann zu unterschreiben, sie dann eintüten und abschicken zu lassen. Irgendwo passiert bei dieser Kette ja häufig, dass Fristen nicht eingehalten werden. Auch die beliebten abendlichen Treffen der Anwälte am Nachtbriefkasten des Gerichts, wo sie zehn Minuten vor Fristablauf noch einen Schriftsatz einzuwerfen haben, der fristgebunden ist, gehören dann gänzlich der Vergangenheit an. All das wird wegfallen.

Man kann bedauern, dass dabei ein Stück Kommunikationskultur verloren geht, es besteht aber überhaupt kein Zweifel, dass es auch eine ganz erhebliche Erleichterung darstellt, wenn das einmal funktioniert. Deshalb sind wir natürlich für dieses Gesetz. Wir haben auch ökologische Gründe, weil in Zukunft wesentlich weniger Papier verbraucht wird und mehr Bäume erhalten bleiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

   Wir werden alles elektronisch abwickeln, wenn wir es denn können. Für mich war bei diesem Gesetz ganz besonders wichtig, dass – Frau Ministerin hat darauf hingewiesen – es jetzt nicht zwingend eingeführt wird – auch nicht für den Rechtsanwalt Ströbele –, sondern dass ich genügend Zeit habe, alles zu lernen, bis ich es kann. Ich denke, es geht vielen Rechtsanwälten, aber auch Rechtsuchenden so, dass sie die technischen Voraussetzungen erstens nicht zu Hause haben, zweitens nicht beherrschen und dass drittens alles noch so fehleranfällig ist, dass man es nicht von einem Jahr aufs andere einführen kann.

   Deshalb ist es richtig, dass es für die Anwälte und Rechtsuchenden nach wie vor die Möglichkeit gibt, vor allen Dingen auch in Strafverfahren auf der Papierform zu beharren, dass sie nach wie vor ihr Urteil in Papierform bekommen und dass sie ihren Schriftsatz sowie ihre Beschwerden in Papierform einreichen können. Das bleibt erhalten.

   Ich habe darüber nachgedacht, ob vielleicht die Richter ungerecht behandelt werden. Denn die Richter müssen diese Aktenführung nutzen, wenn sie über die Landesjustizverwaltung eingeführt wird. Auch da gibt es sicher den einen oder anderen, der schon älter ist und Probleme mit der Technik und mit der Software hat. Aber auch in diesem Fall habe ich mich eines Besseren belehren lassen. Es gibt Übergangsfristen, also die Möglichkeit, zunächst einmal zu lernen, zu studieren und zu schauen.

   Nach fünf Jahren soll das Ganze evaluiert werden. Dann werden wir uns das Ergebnis ansehen. Ich bin sicher, dass dann das eine oder andere nachgebessert werden muss. Dazu ist dann der Deutsche Bundestag berufen. Aber lassen Sie uns heute dieses Gesetz verabschieden. Soweit ich das sehen kann, ist es einheitlich gewollt, und zwar sowohl von den Vertretern der Rechtsanwälte als auch von den Vertretern der Gerichte. Alle haben es befürwortet. Wir haben das in einem Berichterstattergespräch vorgelegt bekommen. Ich denke, wir sollten diesen Versuch wagen. Den Zug der Zeit können wir nicht einfach sausen lassen, sondern auch ich und wir alle müssen aufspringen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion.

Sibylle Laurischk (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute das Justizkommunikationsgesetz, das der Vereinfachung und der Entbürokratisierung der Justiz dienen soll. Frau Justizministerin hat ja darauf hingewiesen, dass es bereits Beispiele in der höheren Gerichtsbarkeit und beim Bundespatentamt gibt. Erste Erfahrungen konnten also schon gesammelt werden.

   Im Rechtsausschuss waren wir allerdings skeptisch, ob dieses Ziel wirklich erreichbar ist. Wichtig ist uns natürlich, dass die Transparenz der Justiz erhalten bleibt. Insofern waren die zwei Berichterstattergespräche, die wir durchgeführt haben, sehr sinnvoll, um die vorhandene Skepsis etwas abzubauen. Gerade das österreichische Beispiel lässt die Vermutung zu, dass hier tatsächlich auf lange Sicht – ich muss betonen: allenfalls auf lange Sicht – Einsparungsmöglichkeiten zu erreichen sind.

   Die Justiz braucht eine Handlungsgrundlage. Wir sind wohl einvernehmlich der Auffassung, dass wir sie schaffen sollten. In Zukunft ist die elektronische Akte mit E-Mail und elektronischer Signatur möglich. Die Anwendersicherheit und damit die Rechtssicherheit scheinen uns gewahrt. Die Länder sind nun gefordert, die Umsetzung zu gewährleisten. Da wird es je nach Finanzausstattung der Länder sicherlich abzuwarten sein, wie die Länder das schaffen.

   Sehr wichtig ist uns in dieser Debatte, dass es hinsichtlich der elektronischen Anwendung keinen Anschluss- und Benutzungszwang gibt. Also die bisherige Vorgehensweise ist gewahrt und der auf Papier geschriebene Schriftsatz der Anwaltschaft bleibt weiterhin möglich, der ja ohnehin zur Information der Mandantschaft verfasst werden muss. Denn ich glaube kaum, dass sich die Mandantschaft in kürzester Zeit entsprechend umstellt und dann ebenfalls elektronische Akten sozusagen privat führt.

   Wichtig ist auch, dass der elektronische Anschluss keine Zugangsvoraussetzung für die Anwaltschaft wird. Ich glaube, dass wir hier noch eine ganze Weile zweigleisig fahren werden.

   Die Erfahrungen mit diesem Gesetz werden wir auf Wunsch der FDP in fünf Jahren im Rahmen einer Evaluation auswerten; denn wir sollten nicht aus den Augen verlieren, dass überprüft werden muss, wie die Umsetzung des Gesetzes funktioniert.

   Sehr wichtig ist uns auch das Thema Prozesskostenhilfe, das hier ebenfalls mitgeregelt worden ist; die fehlerhafte Handhabung bei der Umsetzung von Hartz IV ist leider erst jetzt entdeckt worden. Darüber, dass die Notwendigkeit einer Regelung besteht, herrscht kein Zweifel. Es ist uns wichtig, dass wir – darauf lege ich großen Wert – im Rahmen der Prozesskostenhilfe den Zugang des bedürftigen Rechtssuchenden zur Justiz weiterhin sichern und nicht sozusagen durch die Hintertür Kürzungen vornehmen, wie es auf Länderebene wohl kurz angedacht war.

(Beifall bei der FDP)

Der Rechtssuchende muss weiterhin einen unkomplizierten Zugang zur Justiz haben, auch wenn er bedürftig ist. Die FDP steht dafür, dass die entsprechenden Möglichkeiten nicht eingeschränkt werden.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joachim Stünker (SPD): Gucken Sie mal nach Niedersachsen!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Dirk Manzewski, SPD-Fraktion.

Dirk Manzewski (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe anwesende Freunde der Rechtspolitik!

(Heiterkeit bei der SPD)

Am heutigen Tag debattieren wir hier abschließend über das so genannte Justizkommunikationsgesetz der Bundesregierung. Ziel dieses Gesetzes ist es, künftig die rechtlichen Rahmenbedingungen bei den Gerichten so zu regeln, dass Schriftsätze – das ist schon gesagt worden – in Zukunft statt in Papierform auch elektronisch eingereicht werden können.

   Es lässt sich leider nicht leugnen, dass der technische Fortschritt auch vor der Justiz nicht Halt machen kann. Die ersten Schritte zu einer Öffnung der Justiz für einen elektronischen Geschäftsverkehr sind ja auch bereits gegangen worden, zum Beispiel mit dem Gesetz zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften zur Anpassung an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr. Ich erinnere zudem daran, dass es – die Justizministerin hat es schon angesprochen – bereits seit geraumer Zeit möglich ist, zum Beispiel beim Bundesgerichtshof und beim Bundespatentamt Dokumente elektronisch einzureichen.

   Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll nun der zweite Schritt folgen und der Zivilprozess und die Fachgerichtsbarkeiten sowie das Bußgeldverfahren für die gesamte elektronische Aktenbearbeitung geöffnet werden. Es ist dabei sicherlich richtig, dass es sowohl für die Anwaltschaft als auch für die Gerichte selbst Bereiche im Rahmen der Verfahrensabläufe geben kann, für die der elektronische Rechtsverkehr äußerst attraktiv ist. Die Anwaltschaft – auch das ist schon erwähnt worden – könnte es leichter haben, selbst fristwahrende Schriftsätze noch kurz vor Beginn der Verhandlung aus dem Büro zum Gericht zu senden. Der mühsame Weg – der Kollege Ströbele hat es angesprochen – zum Gerichtsnachtbriefkasten könnte entfallen, wobei ich sehr interessiert zur Kenntnis genommen habe, dass das für Sie eine Art der Kommunikation darstellt. Ich stelle mir vor, wie das in Berlin aussieht, wenn sich die Kolleginnen und Kollegen kurz vor Mitternacht

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Amtsgericht Charlottenburg!)

vor dem Amtsgericht in Charlottenburg treffen und dort diskutieren. Es könnte aber durchaus weiterhin die Möglichkeit bestehen, Kollege Ströbele, das eine oder andere noch vor Ort zu regeln.

   Die entsprechende Eingangsbestätigung würde umgehend kommen und Akteneinsichtsgesuchen könnte schneller und unproblematischer entsprochen werden. Überhaupt könnte der gesamte Schriftwechsel auf elektronischem Weg sicherlich schneller erfolgen.

   Für die Gerichte selbst bestünden ebenso Möglichkeiten, hiervon zu profitieren. Abläufe könnten vereinfacht und beschleunigt werden. Die Akte stünde Geschäftsstelle und Richter – das ist wichtig – jederzeit und vor allem gleichzeitig zur Verfügung. Die Protokollierung des Eingangs von Schriftsätzen würde ebenso wie die statistische Erfassung nach Beendigung des Verfahrens automatisch und damit vereinfacht erfolgen. Das wäre sicherlich ein Vorteil.

   Um dies zu erreichen, muss – das machen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf – das herkömmliche Prozessrecht, das von der Papierform ausgeht, den neuen Techniken angepasst werden. Der Gesetzentwurf enthält dabei nicht nur Regelungen, die sprachlich den neuen Erfordernissen entsprechen. So wird zum Beispiel der Begriff „Vordruck“ durch den Begriff „Formular“ ersetzt oder der Begriff „Schriftstück“ durch den Begriff „Dokument“. Insgesamt werden die Anforderungen an elektronische Dokumente festgeschrieben, da auch bei elektronischen Dokumenten zum Beispiel die Authentizität der Dokumente sichergestellt sein muss.

   Durch diesen Gesetzentwurf wird der elektronische Rechtsverkehr natürlich nicht vorgeschrieben. Für die Umsetzung dieser Zukunftsvision – auch das ist schon von den Kolleginnen und Kollegen angesprochen worden – bedarf es noch vieler Schritte. Hierin liegt auch die eigentliche Problematik. Frau Justizministerin, das Ganze macht nach meiner Auffassung nämlich nur dann Sinn, wenn es den Justizbehörden der Länder endlich gelingt, sich auf ein gemeinsames Betriebssystem zu einigen,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und wenn eine entsprechende flächendeckende Versorgung der Gerichte erfolgt. Ich weiß, dass das nicht Ihre Aufgabe ist, wie fälschlicherweise kolportiert wurde. Das ist vielmehr Aufgabe der Justizbehörden der Länder. Nur wenn dies geschieht, wird sich für die Anwaltschaft die Anschaffung von entsprechender Hard- und Software, insbesondere der teuren Signaturkarte, lohnen.

   In diesem Zusammenhang ist es nicht angebracht, einen Vergleich mit Österreich zu ziehen. Denn in Österreich gibt es insgesamt nur so viele Anwälte wie allein in Hamburg. Dort ist die Umstellung einfacher zu realisieren gewesen, weil es zwischen den Ländern eine ganz andere Kompetenzaufteilung gibt. Auf diesem Gebiet muss bei uns noch einiges passieren.

   Die Kosten für Hard- und Software werden der Grund sein, warum meiner Auffassung nach Otto Normalverbraucher auf absehbare Zeit noch nicht am elektronischen Rechtsverkehr teilnehmen wird. Wie oft haben die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes schon mit dem Gericht zu tun? Für sie werden sich die hierfür notwendigen Anschaffungen einfach nicht rentieren. Das bedeutet natürlich, dass viele Verfahren wie bisher in der bewährten Schriftform geführt werden müssen. Unter dem Aspekt dieser doppelten Aktenführung vermag ich zumindest bei Gerichten der ersten Instanz – jedenfalls auf absehbare Zeit – kein Einsparpotenzial zu erkennen.

   Lassen Sie mich noch kurz eine weitere Anmerkung machen. Vor meiner Zeit als Bundestagsabgeordneter bin ich als Richter tätig gewesen. Eines meiner letzten Verfahren betraf eine komplizierte Wiedervereinigungsproblematik im Bereich der Landwirtschaft mit einem Aktenberg von mehreren Hundert Seiten. Wenn ich mir vorstelle, dass ein Richter einen solchen Aktenberg nicht mehr quer lesen und keine Vermerke mehr einfügen, sondern nur noch am Bildschirm bearbeiten kann, dann bin ich nicht sicher, ob die gewünschten Erfolge eintreten. Ich kann mir vorstellen, dass es bei umfangreichen Verfahren für die Richter und natürlich auch für die Anwälte sehr problematisch ist, mit dem elektronischen Rechtsverkehr zu arbeiten.

   Gleichwohl gilt: Allein aufgrund der zuerst genannten Umstände werden wir nicht umhinkommen, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir sollten deshalb positiv an die Sache herangehen. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, uns dies gleichzutun.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Wenig Begeisterung im Haus, Frau Ministerin!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Justizkommunikationsgesetzes, Drucksache 15/4067. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4952, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.

   Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Arbeitsmarktstatistik aussagekräftig gestalten – Ausmaß der Unterbeschäftigung verdeutlichen

– Drucksachen 15/3451, 15/4463 –

Berichterstattung:Abgeordneter Klaus Brandner

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kollegin Karin Roth, SPD-Fraktion.

Karin Roth (Esslingen) (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! So viel Einmütigkeit, wie wir gerade hatten, wünsche ich mir auch in der Arbeitsmarktpolitik. Aber offensichtlich müssen wir uns mit einer Arbeitsmarktstatistik auseinander setzen, die von der Opposition immer wieder kritisiert wird, die aber schon überholt ist.

   Anscheinend soll der Eindruck vermittelt werden, dass die Bundesregierung die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen verschleiern würde. Aber weit gefehlt: Das ist nicht der Fall.

   Gerade die Arbeitsmarktdaten vom Januar zeigen, dass die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger zum ersten Mal in die Statistik aufgenommen worden sind. Daher stieg die Zahl der erfassten Arbeitslosen auf mehr als 5 Millionen an. Wir haben damit eine ehrliche Bilanz vorgelegt.

(Dirk Niebel (FDP): Das sagt der Clement mittlerweile aber ganz anders!)

Sie haben uns dafür in populistischer Weise beschimpft. Diese Bundesregierung hat Schluss gemacht mit den Tricksereien von vorgestern, die Sie vorgenommen haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Singhammer (CDU/CSU): Glauben Sie das wirklich?)

– Ja, natürlich. Sie haben unter der Regierungszeit Kohl die ABM und die Schulungsmaßnahmen in der Statistik in der Form bewertet, dass Sie gesagt haben: Das ist nicht unter Arbeitslosigkeit abzubuchen.

(Dirk Niebel (FDP): Habt ihr mittlerweile eine Informationssperre in der Fraktion?)

   Sie als Opposition versuchen – Sie, Herr Niebel, besonders –, eine unglaubliche Arbeitslosenkampagne zu machen, um die Menschen in unserem Land zu verunsichern.

(Dirk Niebel (FDP): So ein Unsinn!)

Sie behaupten demagogisch, dass mehr Menschen arbeitslos sind als vorher. Das ist falsch. Das wissen auch Sie; aber Sie wiederholen es ständig.

   Was die Zahl der Arbeitslosen angeht, gibt es natürlich nichts zu beschönigen. Es gibt niemanden in der Regierungskoalition, der das tut. Uns ist das Schicksal der Menschen wichtig. Deshalb kümmern wir uns darum.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Darum werden es immer mehr Arbeitslose!)

   Ich sage Ihnen aber auch: Es ist unseriös, unglaubwürdig und unverantwortlich, wenn Sie den Eindruck vermitteln, es gebe in unserem Land mehr Menschen, die jetzt von Arbeitslosigkeit betroffen sind, als vorher. Das stimmt nicht.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

   Richtig ist, dass die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger – das sind mehr als 1 Million; das wissen auch Sie –, die bisher keine Chance auf Eingliederung in den Arbeitsmarkt hatten, seit Januar durch unsere Arbeitsmarktpolitik endlich die Möglichkeit haben, Hilfe zur Arbeit zu erhalten, und zwar systematisch und, gerade was die Jugendlichen angeht, besonders wirkungsvoll.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Langzeitarbeitslosen werden nämlich zum ersten Mal qualifiziert und auch vermittelt. Das ist der entscheidende Punkt. Allein für die Eingliederung – Sie mögen es nicht hören wollen, aber es ist so – stellt der Bund 6,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Das gab es vorher so nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Die aktivierenden Maßnahmen, mit denen die Menschen gefördert werden und die ihnen eine Lebensperspektive geben sollen, finanziert ausschließlich der Bund. Hinzu kommen die Leistungen für die Hilfe zur Arbeit und für die Kosten der Unterkunft. Auch diese zahlt der Bund. Damit entlasten wir die Kommunen jährlich mit 2,5 Milliarden Euro. Das haben wir getan, um die Finanzkraft der Kommunen zu stärken und um vor allen Dingen im Westen den Ausbau der Kinderbetreuung voranzubringen. Denn der ist bitter nötig, wenn wir die Frauen in Arbeit bringen wollen. Eine fehlende Kinderbetreuung darf kein Hindernis mehr für die Arbeitsaufnahme sein. Wir brauchen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Deshalb ist die Kinderbetreuung dringend notwendig. Dafür setzen wir uns vor Ort ein und dafür soll das Geld ausgegeben werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Im Osten wird jedes Jahr 1 Milliarde Euro mehr für Investitionen zur Verfügung gestellt. Auch das fördert dauerhaft die Schaffung von Arbeitsplätzen, die wir dringend brauchen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben die nötigen Voraussetzungen geschaffen und wir haben vor allen Dingen den Unternehmen neue Anreize geboten, Langzeitarbeitslose einzustellen. Lohnkostenzuschüsse für Arbeitgeber, eine erleichterte Existenzgründung, Zusatzjobs und Qualifizierungsangebote, das sind keine überflüssigen Wohltaten für die Betroffenen, sondern manchmal das Einzige, was hilft, um die Menschen wieder in Arbeit zu bringen.

(Beifall bei der SPD)

   Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, jetzt vorschlagen, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozentpunkte zu reduzieren, dann frage ich Sie, Herr Singhammer: Glauben Sie eigentlich an Ihre eigenen Arbeitslosenzahlen oder stimmen sie nicht?

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Das sind nicht unsere Zahlen, das sind Ihre!)

Denn entweder gibt es eine hohe Arbeitslosigkeit. Dann gibt es keinen Spielraum, den Betrag zur Arbeitslosenversicherung zu senken; das wissen auch Sie.

(Dirk Niebel (FDP): Quatsch!)

Oder Sie wollen die Maßnahmen, die für die Langzeitarbeitslosen dringend notwendig sind, schlichtweg streichen und einstellen.

(Dirk Niebel (FDP): Wie wäre es denn mit dem Aussteuerungsbetrag?)

Oder wollen Sie den Betrag von 11 Milliarden Euro, der uns im Haushalt der Bundesagentur fehlen würde, zum Beispiel durch Schuldenaufnahme ausgleichen?

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Haben Sie schon einmal über den Aussteuerungsbetrag nachgedacht?)

Das geht doch wohl auch nicht.

Was Sie machen wollen, um den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozent zu reduzieren, bleibt Ihr Geheimnis.

(Dirk Niebel (FDP): Er hat es Ihnen doch gerade verraten!)

   Es ist wahr, Sie haben nichts anzubieten. Was Sie wollen, ist einfach: Sie wollen den Kündigungsschutz und die Maßnahmen für die Eingliederung abschaffen. Zur Förderung wirtschaftlichen Wachstums ist das aber untauglich; auch wenn es Ihnen nicht passt, das zu hören.

   Wir dagegen haben allein die Unternehmen durch unsere Steuerreform Jahr für Jahr entlastet, und zwar um 18 Milliarden Euro. Jetzt geht es darum, dass die Unternehmen ihre Gewinne wieder investieren und das Kapital nicht schamlos ins Ausland verlagern. Wir haben die Unternehmen entlastet, damit sie hier und nicht anderswo Arbeitsplätze schaffen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es geht auch darum, eine gemeinsame Anstrengung im Bereich Forschung und Entwicklung zu organisieren, damit neue Produkte entstehen können und dadurch wiederum neue Dienstleistungen und Arbeitsplätze. Die Bundesregierung unternimmt diese Anstrengung, indem sie zum Beispiel im Bereich Forschung und Entwicklung 9 Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Damit werden Arbeitsplätze geschaffen. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nicht zufällig ist Deutschland international wettbewerbsfähig. Trotz eines starken Euros sind wir Exportweltmeister. Das belegt auch die steigende Integration der deutschen Wirtschaft in den Welthandel. Deutschland ist aufgrund seiner geographischen Lage in der Mitte Europas in einer hervorragenden Position. Deutschland ist die Drehscheibe für zahlreiche Marktpartner. „Made in Germany“ gilt in dieser Welt etwas, und zwar aufgrund der Leistungsfähigkeit des deutschen Mittelstandes.

   Deshalb, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten Sie den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht ständig schlechtreden. So kommen keine Investitionen ins Land.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch Sie haben eine Verantwortung. Lamentieren Sie nicht ständig über fehlendes Wirtschaftswachstum, wenn Ihnen nichts Besseres einfällt, als den Kündigungsschutz abzuschaffen. Das ist wahrlich ein untaugliches Mittel, um Wirtschaftswachstum zu erreichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel (FDP): Ich glaube, die Kollegin redet zu einem völlig anderen Thema!)

   Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Lohnstückkosten in Deutschland stabil sind und wir deshalb im internationalen Wettbewerb preislich konkurrenzfähig sind.

(Dirk Niebel (FDP): Sagen Sie doch einmal etwas zum Antrag!)

   Wirtschaftswachstum entsteht durch Nachfrage von Gütern und Dienstleistungen. Das ist eine alte volkswirtschaftliche Grundregel. Deshalb genügt der Export alleine nicht, deshalb brauchen wir natürlich auch die Binnennachfrage. Die Binnennachfrage haben wir zum Beispiel durch steuerliche Entlastungen der Bürgerinnen und Bürger in Höhe von 42 Milliarden Euro gestärkt. Wir unterstützen den Mittelstand, indem wir die Kreditaufnahme für Investitionen erleichtern. Das gilt im Übrigen auch für die Kommunen.

   In unserer Regierungszeit sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung um 20 Prozent gestiegen. Das sind für uns wichtige Beiträge zur Förderung des Wirtschaftswachstums. Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie Wirtschaftswachstum wollen, dann müssen Sie auch dafür eintreten, dass wir die Zukunftsaufgaben finanzieren können. Das heißt mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung. Die 3-Prozent-Quote müssen wir erreichen. Das erreichen wir allerdings nur, wenn wir beispielsweise bereit sind, die Eigenheimzulage abzuschaffen. Das tun Sie aber nicht. Dazu sind Sie nicht mutig genug. Sie blockieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Karin Roth (Esslingen) (SPD):

Der Sachverständigenrat hat deutlich gemacht, dass gerade die Abschaffung der Eigenheimzulage ein gutes Mittel wäre, um in die Zukunft zu investieren.

(Dirk Niebel (FDP): Das ist der Jäger 90 der heutigen Tage! Die Eigenheimzulage haben Sie auch schon dreimal verteilt!)

   Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie bereit sind, mit uns wirtschaftliches Wachstum zu initiieren, dann tun Sie das. Reden Sie nicht ständig über die Arbeitslosenstatistik! Das hilft den Menschen in diesem Land nicht. Wir brauchen Arbeitsmarktreformen. Die setzen wir um. In Zukunft blockieren Sie die Arbeitsmarktreformen hoffentlich nicht mehr.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Johannes Singhammer (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer den Überblick über die tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland, wer den Überblick über das Ausmaß der Beschäftigungslosigkeit verloren hat, kann die Arbeitslosigkeit in unserem Land natürlich auch nicht zielgenau bekämpfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Nur eine schonungslose Diagnose erlaubt den Einsatz der richtigen Heilmittel.

   Alle Bemühungen um mehr Klarheit und Wahrheit, Herr Staatssekretär Andres – das sage ich, weil Sie lachen –,

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Er lacht immer noch! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Warum lachen Sie denn so, Herr Staatssekretär?)

versucht die Bundesregierung seit Monaten als Polemik und Schlechtreden herabzuwürdigen. Sie selbst sind dafür ein gutes Beispiel. Weil Sie mich gerade reizen, sage ich Ihnen eines: Sie haben in der Sitzung vom 23. September vergangenen Jahres gesagt – ich zitiere –:

Die Arbeitslosenzahl wird dann auf 5 Millionen, 6 Millionen oder 7 Millionen aufgeblasen. Wer hat noch mehr zu bieten? Ich habe mich gewundert, dass hier noch niemand 8 Millionen gesagt hat.
(Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: Das machen Sie jetzt!)

Das haben Sie erklärt.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das ist aber eine saubere Rechnung, Herr Staatssekretär! Verflixt noch mal, das kann doch wohl nicht wahr sein!)

   Jetzt kommt die schlichte und schlimme Wahrheit ans Licht: Anfang dieses Monats waren 5,037 Millionen Menschen beschäftigungslos; dem stehen nur 268 000 offene Stellen gegenüber.

(Dirk Niebel (FDP): Und fast niemand sitzt auf der Regierungsbank! Das ist ja unerträglich!)

Bundeswirtschaftsminister Clement erklärt,

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist er eigentlich?)

dass zu diesen ohnehin dramatischen Zahlen noch 1,4 bis 1,5 Millionen hinzukommen.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Oh ja! Allerdings!)

Im „Morgenmagazin“ des ZDF hat er am 2. Februar dieses Jahres gesagt:

Wir haben 6,5 Millionen Menschen mit teilweise dramatischen Problemen am Arbeitsmarkt; das ist dramatisch hoch und das müssen wir jetzt runterbringen.

Jawohl, da hat er Recht. Aber seine Einsicht kommt zu spät. Zuerst hat die Bundesregierung den Flächenbrand Arbeitslosigkeit als eine Ansammlung einiger Lagerfeuer angesehen. Jetzt kommt sie mit ihrer Brandbekämpfungskonzeption nicht voran; denn tatsächlich haben wir den Stand von 8 Millionen Menschen, die ohne Beschäftigung sind und über die Sie sich lustig gemacht haben, bereits erreicht.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ja, leider wahr! Die Bundesregierung ist eine untaugliche Feuerwehr!)

   Reiht man 8 Millionen Menschen aneinander, ist das eine 4 000 Kilometer lange Kette.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Eine interessante Zahl!)

Stellt man sich alle Menschen, die arbeitslos sind, in einer Kette aneinandergereiht vor, entspricht das viermal der Entfernung Flensburg-Garmisch.

   Der Sachverständigenrat bringt die verdeckte Arbeitslosigkeit in allen Einzelheiten ans Licht. Es gibt 1 Million Vorruheständler, darunter bis zu 400 000 über 58-Jährige. 670 000 Menschen befinden sich aufgrund von Arbeitslosigkeit in Altersrente. 136 000 Menschen nehmen an Weiterbildungsmaßnahmen teil. Es gibt 165 000 subventionierte Beschäftigungsverhältnisse, 69 000 Teilnehmer an ABM, 239 000 Ich-AGs und 27 500 staatliche PSAs.

(Dirk Niebel (FDP): Das ist ja fast meine Rede!)

Hinzu kommen 600 000 1-Euro-Jobs – das wollen Sie angeblich noch in diesem Jahr erreichen – und die stille Reserve, die, eine vorsichtige Betrachtung der Experten zugrunde gelegt, ein Volumen von mindestens 1 Million Menschen hat. Deshalb gibt selbst der gegenwärtige katastrophale Höchststand der Arbeitslosigkeit, der Ende dieses Monats wahrscheinlich erneut um einige Hunderttausend steigen wird, bei weitem nicht das schlimme Bild wieder, das der Realität entsprechen würde. Es ist auch fast egal, ob die Zahl 5 300 000 oder 5 200 000 betragen wird – die Situation ist sehr viel schlimmer.

   Jetzt sagen Sie, dass diese hohen Zahlen nur durch ein großartiges Reformprojekt, Hartz IV, hervorgerufen worden seien. Den Städten, Gemeinden und Kreisen werfen Sie Unfairness und Täuschung vor. Minister Clement behauptet, er sei darauf hingewiesen worden, dass selbst Koma-, Aids- und Suchtkranke für arbeitsfähig erklärt wurden.

(Dirk Niebel (FDP): Na und? Letztere können ja auch arbeiten!)

Ich sage Ihnen: Das ist schäbig und schändlich; denn tatsächlich sind die ausgewiesenen Zahlen viel zu gering. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit fehlen noch rund 30 000 bis 40 000 Arbeitslosengeld-II-Empfänger, welche die optierenden Gemeinden noch gar nicht gemeldet haben; sie müssen also hinzugerechnet werden. Es ist nicht so, dass die Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte ständig neue Höchststände der Arbeitslosigkeit erfinden. Vielmehr ist diese Bundesregierung der Treibsatz dafür, dass sich die Arbeitslosenzahl Tag für Tag um 1 000 erhöht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wenn Sie uns nicht glauben, sollten Sie wenigstens Ihren Genossen in den Kommunen glauben. Beispielhaft nenne ich den Sozialreferenten Graffe, SPD, aus der größten deutschen Kommune, der Landeshauptstadt München. Er sagt: „Einen Verschiebebahnhof kann ich ausschließen.“ Sie sollten einmal mit ihm reden.

   Für die Fehler, die zu den finanziellen Problemen bei Hartz IV führen, ist der Wirtschaftsminister verantwortlich.

Bis zu 6,5 Milliarden Euro mehr als erwartet soll Hartz IV in diesem Jahr kosten. Der einzige und entscheidende Grund sind die falschen Prognosen des Wirtschaftsministeriums. Der Deutsche Städtetag hat bereits im Mai vergangenen Jahres mit 2,4 Millionen Empfängern von Arbeitslosengeld II gerechnet. Sie selbst sind von 2,1 Millionen ausgegangen. 300 000 weniger bedeuten natürlich eine entscheidende Mehrung der Ausgaben.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Sehr wahr!)

   Schuld daran sind Ihre frisierten Zahlen gewesen. Sie rechnen immer alles schön und wollen die Wahrheit nicht zur Kenntnis nehmen. Die Ablehnungsquote für Anträge auf Arbeitslosengeld II wurde mit 23 Prozent viel zu hoch angesetzt. Tatsächlich wurden bis jetzt nur etwa 10 Prozent zurückgewiesen. Das wird sich mit Mehrausgaben zu Buche schlagen. Es zieht sich bei Ihnen wie ein roter Faden durch alle Politikbereiche: Zahlensalat produzieren, schönrechnen,

(Dirk Niebel (FDP): Weil sie einen verfassungsmäßigen Haushalt durchbringen wollten!)

sich der Realität verweigern und dann den Kommunen die Schuld in die Schuhe schieben – das, Herr Kollege Andres, nenne ich eine Fischerisierung der Wirtschaftspolitik.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Was ist das? Können Sie das bitte wiederholen!)

   Das Vorzeigeprojekt „Virtueller Arbeitsmarkt“ wird in einem Bericht des Bundesrechnungshofs niederschmetternd beurteilt. Die Einsparprognosen von angeblich 1,1 Milliarden Euro

(Dirk Niebel (FDP): Ein frei aus der Luft gegriffener Wert!)

werden als eine Luftbuchung bezeichnet. Dafür steigen die Kosten dieses virtuellen Arbeitsmarktes auf fast das Doppelte, auf etwa 100 Millionen Euro. Und wer sich mit diesem neuen Modell eine Vermittlung herbeiklicken will, der klickt mit der Maus ins Leere, weil das System nach wie vor große Mängel hat

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): So ist es!)

und die Vermittlungsleistung tatsächlich nicht gesteigert werden konnte.

   Deshalb sage ich an dieser Stelle eindringlich: Stoppen Sie dieses Programm, vor allem was den Bereich der Vermittlung betrifft! Überlegen Sie, wie Sie die Sache in den Griff bekommen können – ob das überhaupt machbar ist –, und prüfen Sie, wie das weitergeht!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Alles andere wäre ein sorgloser Umgang mit den Beiträgen der Versicherten.

   Ich sage Ihnen auch: Nehmen Sie unseren Antrag ernst! Wir wollen Klarheit in der Unübersichtlichkeit der Statistiken schaffen und schlagen vor, zunächst ein Zahlenpaar voranzustellen: die positive Zahl, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, und die Zahl derjenigen, die keine Beschäftigung haben. Dieses Zahlenpaar ermöglicht eine präzise Einschätzung des Zustands in Deutschland.

    Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten geht zurück; das ist so. Sie liegt zurzeit bei etwa 26 750 000. Daran wird die Krise der sozialen Sicherungssysteme klar. Ein Beispiel: Derzeit erhalten etwa 19,3 Millionen Rentnerinnen und Rentner eine Altersrente. Die Zahl der Beschäftigungslosen liegt bei annähernd 8 Millionen oder sogar darüber. Wenn Sie das mit der Zahl der überhaupt noch sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Verbindung bringen, sehen Sie, dass mittlerweile ein Beschäftigter – eine Krankenpflegerin oder ein Busfahrer – mit seinen Beiträgen fast für eine beschäftigungslose Person aufkommen muss. Das zeigt die Problematik in ihrer ganzen Schärfe.

   Ich warne an dieser Stelle vor weiteren Vernebelungsversuchen mit der so genannten ILO-Statistik. Die ILO-Statistik, die Sie einführen wollen, um die Vergleichbarkeit mit europäischen Nachbarländern herzustellen, mag durchaus die eine oder andere zusätzliche Erkenntnis bringen. Nun soll diese ILO-Statistik zunächst parallel mit der bisherigen Statistik geführt werden. Wenn das aber dazu führen würde, dass die nach der ILO-Statistik um rund 600 000 Personen niedrigere Zahl der Arbeitslosen irgendwann immer größer würde und die Zahl nach der bisherigen Art der Statistik immer kleiner, dann wäre das eine weitere Unsauberkeit, die keinen Sinn macht.

   Wie können wir diesem Teufelskreis von ständig mehr Arbeitslosigkeit entfliehen? Der Königsweg ist Wachstum. Wir brauchen mehr Wachstum. Leider ist es so, dass Deutschland, das in der Vergangenheit immer stärker als die Weltwirtschaft gewachsen ist, jetzt deutlich unter dem weltwirtschaftlichen Wachstum bleibt.

(Dirk Niebel (FDP): Da lacht Herr Andres! Darüber lacht die Regierung auch noch!)

– Da gibt es nichts zu lachen.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Sie haben ja keine Ahnung!)

Die Weltwirtschaft ist im vergangenen Jahr um mehr als 5 Prozent gewachsen, die deutsche Wirtschaft um 1,7 Prozent.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ja!)

Wir haben nur ein Drittel des Wachstums der Weltwirtschaft erreicht. Damit sich am Arbeitsmarkt etwas ändert, bräuchten wir ein Wachstum von mindestens 1,9 Prozent.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Stimmt nicht, es sind 1,5 bis 1,6 Prozent!)

Nach den Vorhersagen aller Institute werden wir in diesem Jahr leider kein Wachstum von 1,9 Prozent erreichen. Das bedeutet, dass die Zahl der Arbeitslosen leider auch in diesem Jahr zunehmen wird. So bitter und brutal ist die Wahrheit.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Der Sachverständigenrat hat es erklärt, aber Sie haben nicht zugehört!)

   Wachstum kann mit einer anderen Politik und mit klugen politischen Rahmenbedingungen generiert werden. Frau Kollegin Roth, ich nenne Ihnen nur ein Beispiel: Nehmen Sie den Bereich der Energiewirtschaft. Eon hat vor kurzem erklärt, sie würden in den nächsten Monaten damit beginnen, Investitionen in Höhe von 3 Milliarden Euro zu tätigen. Rauch würde aus den Schornsteinen aufsteigen und Arbeitsplätze würden entstehen. Warum tut Eon das doch nicht? – Sie tun es nicht, weil Sie mit dem Energiewirtschaftsgesetz nicht vorankommen und die Bedingungen nicht klar sind. Sie hatten versprochen, dass das Gesetz bis zum 1. Juli letzten Jahres fertig sein sollte. Danach sollte es bis zum 1. Januar dieses Jahres fertig sein. Jetzt sollte es bis Ende Februar fertig sein. Es ist kein Ende in Sicht. Deshalb wird das vorrätige Geld nicht in die Hand genommen. Es passiert nichts. Sie kommen nicht voran und neue Arbeitsplätze werden nicht geschaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Versagen auf ganzer Linie!)

   Ich komme zu einem anderen bitteren Kapitel, nämlich den Dienstleistungen.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Jetzt bin ich aber gespannt, was Sie dazu erzählen!)

Die Dienstleistungsrichtlinie ist das eine, das eigentliche Problem – lassen Sie mich das sagen – ist aber die Dienstleistungsfreiheit, die Grundlage des Ganzen. Warum verlieren plötzlich 10 000 bis 20 000 Schlachter ihren Arbeitsplatz und werden durch Billigarbeiter ersetzt? – Das geschieht, weil Sie die Ausnahmen entgegen unseren Ratschlägen damals nicht richtig gefasst haben. Das ist der entscheidende Grund.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich sage Ihnen an dieser Stelle abschließend: Bevor Sie die illegale Einreise von Arbeitskräften durch eine laxe Visapraxis zulassen,

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Jetzt kommt das auch noch!)

sollten Sie sich lieber um die legalen Arbeitsplätze in Deutschland und den Schutz derjenigen, die ein legales Arbeitsplatzverhältnis haben, kümmern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Karin Roth (Esslingen) (SPD): Das tun wir doch! Was Sie da machen, ist unseriös und unverantwortlich! – Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Singvogel!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Thea Dückert, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Singhammer, wir nehmen Ihren Antrag ernst. Das gehört sich so im parlamentarischen Verfahren. Ich nehme aber auch Ihre Rede ernst. Ihre Rede war wirklich ein beredetes Beispiel dafür, wie überflüssig und unsinnig Ihr Antrag ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das ist unter Ihrer Würde!)

   Am Anfang Ihrer Rede haben Sie zur Beschreibung des Arbeitsmarktes eine Zahl nach der anderen zitiert. Woher haben Sie diese Zahlen genommen, Herr Singhammer? Haben Sie sie selbst geschrieben? – Nein. Sie haben sie aus den beklagten Statistiken genommen. Ich will damit sagen: All die Punkte, die Sie in Ihrem Antrag einfordern – Ausweisung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, der Trainingsmaßnahmen usw. –, sind in den Statistiken enthalten.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): So ist es!)

Sie werden dokumentiert und Sie haben die Zahlen genutzt, um die Arbeitsmarktsituation zu beschreiben. Nein, dieser Vorwurf der Verschleierung durch die Bundesregierung, der in Ihrem Antrag enthalten ist, ist schlicht und einfach unverfroren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Bestätigen Sie diese Zahlen doch!)

   Sie haben ein wirklich merkwürdiges Kurzzeitgedächtnis. Vor sechs Wochen haben wir Hartz IV eingeführt. 150 000 bis 200 000 Menschen sind dadurch zu Recht als Arbeitslose in die Statistik aufgenommen worden. Diese Langzeitarbeitslosen waren über Jahrzehnte hinweg in den Statistiken überhaupt nicht zu sehen; ihre Zahl wurde verschleiert. Noch viel schlimmer ist – die Statistiken sind das eine, wie es den Menschen geht, ist das andere –, dass diese Menschen mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik überhaupt nicht in Berührung gekommen sind.

(Dirk Niebel (FDP): Das ist natürlich Unsinn! Haben Sie schon mal was von der „Hilfe zur Arbeit“ der Sozialämter gehört?)

Wir haben sie in die Statistik und vor allem in die aktive Arbeitsmarktpolitik aufgenommen. Darum geht es.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Sie leiden unter einem kollektiven Gedächtnisschwund und haben vielleicht sogar selbst den Versuch zur systematischen Manipulierung von Datenmaterial unternommen. Ihr Verhalten hängt immer von der Perspektive ab, die Ihnen gerade recht ist. Perspektive der Regierung Kohl zu Oppositionszeiten: Es wurden mal eben 150 000 Wahlkampf-ABM aufgelegt und Sie wussten sehr wohl – das haben Sie ja selbst bewirkt –, dass die Teilnehmer an diesen Maßnahmen nicht in der Statistik auftauchten.

   Perspektive Opposition unter Frau Merkel: Sie verlangen von uns, die stille Reserve in die Statistik aufzunehmen. Die Daten bezüglich der stillen Reserve, die Sie gerade genannt haben, waren allerdings ein bisschen nach oben gerechnet,

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Nach unten!)

aber egal. Die Daten sind dokumentiert, auch wenn das schwierig ist. Heute ist es Ihnen genehm, dies zu fordern. Allerdings stellt sich mir dann, wenn Sie die stille Reserve in die Statistik aufnehmen wollen, die Frage, wo die 5 Millionen Arbeitsplätze zu finden sind, die der Schwarzarbeit zuzuordnen sind. Darüber reden Sie nicht. Sie machen hier eine unseriöse Hin- und Herinterpretiererei.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ihre Forderungen sind auch deshalb dreist, weil Sie selber mit Zahlen, Daten und Fakten in einer Weise umgehen, die zum Teil wirklich unappetitlich ist. Ich will Ihnen dafür ein aktuelles Beispiel nennen. Herr Laumann hat sich vor kurzem zur Schwarzarbeit im Zusammenhang mit der Visavergabe geäußert. Was wird behauptet? Es wird verkündet, dass durch die Visaerlasse 600 000 Schwarzarbeiter aus den GUS-Staaten zu uns gekommen seien,

(Albrecht Feibel (CDU/CSU): Mehr!)

wodurch pro Jahr ein Schaden von mehreren Milliarden Euro entstanden sei. Dabei beruft sich Herr Laumann auf Untersuchungen von Professor Friedrich Schneider.

   Die Untersuchungen von Professor Friedrich Schneider besagen Folgendes:

   Erstens. Wir haben in den letzten Jahren nachhaltig und nachweisbar einen Rückgang der Schwarzarbeit in Deutschland zu verzeichnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Zweitens. Er belegt, dass dieser Rückgang ein Erfolg der Reformpolitik dieser Bundesregierung ist, sowohl im Bereich des Arbeitsmarktes – beispielsweise Minijobs oder Existenzgründungen – als auch bei der Bekämpfung der illegalen Schwarzarbeit durch unsere Gesetze. Wir sind bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit erfolgreich.

   Drittens. Herr Schneider zeigt auf, dass der größte Teil der Schwarzarbeit von Inländern gemacht wird und dass von den etwa 5 Millionen „Vollzeitstellen“ in der Schwarzarbeit etwa 100 000 von ausländischen Kräften besetzt werden.

   Laumann behauptet in dieser Woche, dass 600 000 Menschen über die GUS-Staaten eingereist seien. Er behauptet auch, dass dadurch der Volkswirtschaft ein Schaden in Höhe von über 10 Milliarden Euro entstanden sei. Das, was er verbreitet, ist eine unglaubliche Unwahrheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Gleichzeitig entsteht dadurch ein politischer Schaden; denn damit werden die Bürgerinnen und Bürger aus den GUS-Staaten, die zu uns reisen, unter Kollektivverdacht gestellt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unverschämt! – Karin Roth (Esslingen) (SPD): Das ist die eigentliche Sauerei!)

   Zu Recht hat sich Herr Schneider gestern an die Presse gewandt und Herrn Laumann aufgefordert, seine Daten und wissenschaftlichen Untersuchungen nicht mehr für seine politischen Parolen zu missbrauchen. Sie reden hier über eine Neugestaltung der Statistiken, aber Sie sind diejenigen, die Zahlen, Daten und Fakten so auslegen, wie es Ihnen in Ihr politisches Konzept passt.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Verdrehen!)

   Reden wir einmal über Menschen, die nicht als Arbeitslose in der Statistik auftauchen, nämlich Zahlen betreffend die Ich-AGs. Erste Ergebnisse liegen vor: 80 Prozent der Menschen befinden sich auch nach einem Jahr noch in einer Ich-AG.

(Albrecht Feibel (CDU/CSU): Und nach zwei Jahren?)

Sie behaupten, dass diese Projekte fehlgeschlagen sind.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das ist doch ganz klar, Frau Dückert! Das Leben ist länger als ein Jahr!)

Wir wissen heute, dass etwa 10 Prozent der Menschen wieder arbeitslos werden. Wir wollen, dass die Menschen in Deutschland gerade in einer so schwierigen arbeitsmarktpolitischen Situation den Mut haben, den Weg in die Selbstständigkeit anzutreten. Deswegen fördern wir sie durch Ich-AGs und bei Existenzgründungen. Was machen Sie mit Daten, die statistisch nachweisen, dass diese Projekte gut laufen? Sie interpretieren sie um. Ich habe keine Lust, mit Ihnen vor diesem Hintergrund noch einmal über statistische Klarheit und Wahrheit zu reden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Was wir machen müssen, ist, die Chance zu nutzen, die uns die Hartz-IV-Reformen bringen; das ist richtig. Wir müssen mithilfe der Arbeitsmarktpolitik verstärkt fördern, beraten und helfen, die Menschen wieder zu integrieren. Ich sage es noch einmal: Die Arbeitsmarktzahlen – sie liegen auf dem Tisch, Herr Singhammer – sind unbefriedigend; das ist völlig klar. Aber – auch das ist wahr – wir haben mit unseren Arbeitsmarktreformen darauf reagiert und wir werden die Chancen, die sich ergeben, nutzen, zum Beispiel mit der Jugendhilfe, die den Jugendlichen vor Ort mit verstärkten Anstrengungen und einer besseren Kooperation Perspektiven eröffnet. Auch die Binnenkonjunktur ist noch schwach.

Deswegen ist es wohl an der Zeit, dass wir den Kommunen zum Beispiel über die KfW helfen, Investitionen zu tätigen. Ich bin aber nicht dafür – das betrifft auch die heutige Debatte –, nach sechs Wochen Hartz IV schon über Detailänderungen zu reden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das aber fordern Sie ein und auch die Gewerkschaften zum Beispiel fordern das ein.

   Ich habe gestern mit Erstaunen gelesen, dass vor Änderungen im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktpolitik gewarnt wird. Es wird davor gewarnt, dass wir bei den Zuverdiensten Verbesserungen einführen. Ich halte das für einen völlig falschen Weg der Gewerkschaften. Unsere Arbeitsmarktpolitik ist auf Integration ausgerichtet. Wenn heute Langzeitarbeitslose keinen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt finden, selber aktiv werden und sich selber einen Zuverdienst suchen, dann ist es nach meiner Ansicht nicht gerecht, dass jemand von einem Zuverdienst von beispielsweise 400 Euro nur 57 Euro behalten kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dirk Niebel (FDP))

Ich glaube, dass das nicht weiterhilft. Ich bin übrigens froh, dass Frau Merkel Herrn Koch und Herrn Wulff von der Bremse geholt hat; denn dass das heute so ist, haben Sie von der Union zu verantworten, weil Sie im Vermittlungsausschuss auf der Bremse standen. Wir wollten etwas anderes machen, weil wir auf Integration setzen.

   Ich komme zum Schluss. Der Zuverdienst ist auch für die Menschen, die keine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, ein wichtiger Baustein. Für meine Begriffe hat das mit Detailänderungen nichts zu tun; das ist vielmehr die Verstärkung dessen, was wir wollen. Wir wollen den Menschen Brücken bauen und ihnen in den ersten Arbeitsmarkt verhelfen. Das wollen wir durch eine fortschrittliche Wirtschaftspolitik flankieren.

   Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Dirk Niebel, FDP-Fraktion.

Dirk Niebel (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Arbeitslosenstatistik ist über die Jahrzehnte hinweg, übrigens unabhängig davon, wer regiert hat, zum politischen Kampfmittel verkommen. Wofür brauchen wir denn eigentlich eine Arbeitsmarktstatistik? Sie sollte uns doch normalerweise das Ausmaß der Unterbeschäftigung in einem Land aufzeigen, damit wir auf dieser Grundlage die richtigen politischen Entscheidungen treffen können. Sie sollte uns eine Hilfestellung dafür geben, entscheiden zu können, welche politischen Maßnahmen eingeleitet werden müssen, um Unterbeschäftigung abzubauen und Beschäftigung aufzubauen, um Investitionen und Wachstum zu ermöglichen und dadurch auch die Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme zu verbessern.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Nichts von alledem macht die jetzige Arbeitslosenstatistik. Ich will nicht die Zahlen wiederholen, die der Kollege Singhammer genannt hat. Aber das Ausmaß der Unterbeschäftigung in Deutschland ist höher als die Anzahl der registrierten Arbeitslosen. Das weiß auch jeder. Auch weiß jeder, dass derjenige, der in einer Trainingsmaßnahme ist, zum Beispiel in einem vierzehntägigen Bewerbertrainingsseminar, selbstverständlich immer noch arbeitslos ist. Jeder weiß, dass eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme kein reguläres sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ist, selbst wenn der Mensch, der in dieser Maßnahme ist, individuell das Gefühl hat, einen Arbeitsplatz zu haben. Es ist aber kein wirklicher Arbeitsplatz. Es besteht auch während einer derartigen Maßnahme immer noch der Vorrang der Vermittlung, sodass man nach Recht und Gesetz jederzeit eine Maßnahme abbrechen müsste, um einen ungeförderten regulären Arbeitsplatz anzunehmen. Daher machen wir uns mit den Zahlen, die hier regelmäßig vorgelegt werden, schlichtweg etwas vor. Sie bilden keine anständige Entscheidungsgrundlage für politische Weichenstellungen. Deswegen müssen wir sie verändern.

   Es lohnt sich nicht, sie so zu verändern, wie Sie es vorhaben. Sie wollen die Arbeitslosenstatistik der Bundesagentur für Arbeit neben die der Internationalen Arbeitsorganisation stellen, die noch dazu einen anderen Monat beleuchtet, sodass der unbedarfte Leser vielleicht gar nicht mehr weiß, worum es geht. Die Statistik der Internationalen Arbeitsorganisation macht vor allem eines: Sie zählt denjenigen nicht als Arbeitslosen, der eine Stunde in der Woche arbeitet.

   Nun mag es Regionen in der Welt geben, wo es wichtig ist, eine Stunde in der Woche zu arbeiten, aber in unseren Regionen dient Erwerbsarbeit doch in aller Regel dazu, den Lebensunterhalt zu gewährleisten. Den Stundenlohn hätte ich schon gerne, der das bei einer Stunde Arbeit pro Woche gewährleistet. Das ist vielleicht ein Instrument, das die internationale Vergleichbarkeit herstellt, das aber nicht das Problem löst und uns keine Handlungsanweisung für politische Entscheidungen mitgibt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Ich möchte mit den Gerüchten aufräumen, die immer wieder gestreut werden, nämlich dass die Sozialhilfeempfänger neu in die Statistik aufgenommen worden seien. Jeder weiß doch, dass die Sozialämter flächendeckend in der Bundesrepublik ihre Hilfeempfänger zur Agentur für Arbeit bzw. damals noch zum Arbeitsamt geschickt haben mit der Auflage, sich Arbeit suchend zu melden und eigene Bemühungen nachzuweisen. Jeder weiß doch, dass auch Sozialhilfeempfänger durch das Programm „Hilfe zur Arbeit“ gefördert worden sind. Jeder weiß, dass es Verschiebebahnhöfe dergestalt gab, dass Sozialämter jemanden mit Lohnkostenzuschüssen exakt 360 Tage in Arbeit gebracht haben, weil anschließend die Agentur für Arbeit zuständig wurde, aber auch in der Form, dass Sozialhilfeempfänger vom Arbeitsamt nicht für geeignete Arbeitsplätze vorgeschlagen wurden, weil sie vermeintlich günstiger waren; denn sie haben dort keine Leistungen bezogen.

   Diese Verschiebebahnhöfe wollten wir mit Hartz IV abschaffen. Die Bundesregierung ist schuld,

(Albrecht Feibel (CDU/CSU): Wo ist denn die Regierung?)

dass wir das nicht geschafft haben, weil keine einheitliche Trägerschaft zustande gekommen ist. Diese Regierung hat verhindert, dass die Trägerschaft einheitlich bei den Kommunen liegt und keine Verschiebebahnhöfe mehr entstehen können.

   Jetzt versteckt sich der Minister hinter Ausflüchten. Im letzten Monat hat er noch darauf hingewiesen, dass die Statistik nun aber wirklich ehrlich sei. Jetzt stellt er fest, dass sich die hohe Zahl von 5 037 142 als arbeitslos registrierten Einzelschicksalen aus Komakranken, Querschnittsgelähmten, Drogensüchtigen und Beinamputierten zusammensetzt.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Das ist unverschämt! – Hans-Werner Bertl (SPD): Also, Herr Niebel, jetzt hören Sie langsam auf!)

Wenn sich der Minister hinter derartigen Ausflüchten vor seiner Verantwortung versteckt, dann ist das ein Skandal! Das ist schäbig!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Werner Bertl (SPD): Sie diskreditieren sich aber selbst! – Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist eine schäbige Argumentation! Das sind die falschen Zitate und das wissen Sie ganz genau!)

   Der Minister hat doch selbst die Kriterien für Erwerbsfähigkeit festgelegt. Nach der rentenrechtlichen Regelung ist das derjenige, der drei Stunden am Tag arbeiten kann. Das kann auch der HIV-Infizierte sein, wenn die Krankheit noch nicht ausgebrochen ist, Kollegin Dückert. Das kann auch ein Mensch sein, dem beide Oberschenkel amputiert wurden, wenn auch nicht als Langstreckenläufer. Auch jemand, der krank ist oder an einer Substitutionstherapie teilnimmt, kann arbeiten. Derartige Therapien sehen Arbeit sogar als Bestandteil der Therapie an. Aber der Minister tut so, als ob die Zahlen, die er zu verantworten hat, durch die Bösartigkeit der Kommunen zustande kämen. Das ist ein Skandal.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Sie sind einer! – Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sind ein Skandal!)

   Ein weiterer Skandal besteht darin, dass der Minister immer noch nicht in der Lage ist, die Bundesagentur in den Griff zu bekommen.

(Hans-Werner Bertl (SPD): Herr Niebel, Sie werden langsam peinlich! Sie werden mit jedem Wort peinlicher für dieses Parlament!)

Herr Weise schlägt vor, dass 55-Jährige und Ältere nicht mehr vermittelt werden sollen. Das erinnert mich massiv an das Vermittlungsverfahren Ende 2003, an dem auch Sie beteiligt waren, Frau Roth. Erinnern Sie sich noch, welches Kriterium Herr Gerster hinsichtlich der Frage vorgeschlagen hat, wer erwerbsfähig ist? Er hat das Kriterium der Arbeitsmarktnähe bzw. -ferne vorgeschlagen. Ein älterer, kranker oder schlecht qualifizierter Mensch ist arbeitsmarktferner als ein junger, gesunder oder gut qualifizierter. Dass Herr Weise jetzt dasselbe Kriterium in Bezug auf ältere Menschen in Ostdeutschland vorschlägt, stellt den Versuch dar, die Statistik durch die Hintertür wieder zu entlasten, indem ganze Bevölkerungsgruppen aus den Vermittlungsaktivitäten der öffentlichen Hand ausgegrenzt werden. Das ist unsozial, dreist und nichts anderes als Trickserei.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Das machen wir doch nicht, Herr Niebel!)

   Eine solche Trickserei hat auch der Minister betrieben, um seinen Haushalt noch einigermaßen verfassungskonform erscheinen zu lassen, indem er beim ALG II die Zahlen der Ablehnungsquote hochgerechnet und die der Hilfeempfänger heruntergerechnet hat. Denn er wusste schon bei der Aufstellung des Haushalts, dass das Parlament betrogen wurde und dass der Haushalt verfassungswidrig ist.

   In der gesamten Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung kommt eher Lug und Trug zum Ausdruck als das Bedürfnis, Wachstum, Innovation und Impulse für neue Beschäftigung in diesem Land zu schaffen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Karin Roth (Esslingen) (SPD): Ich habe Ihnen erklärt, wie wir es meinen! Sie haben mir aber nicht zugehört!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd Andres das Wort.

(Ernst Burgbacher (FDP): Ein Blick auf die Regierungsbank ist herrlich! – Dirk Niebel (FDP), zu Abg. Ernst Burgbacher (FDP) gewandt: Das Wort „Regierungsbank“ ist richtig! Denn die Regierung ist ja nicht da!)

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Niebel, ich empfehle Ihnen dringend, Ihre Begriffswahl und Ausdrucksweise ein bisschen abzurüsten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel (FDP): Gerade Sie sind der Letzte, der sich das erlauben darf!)

Ich nenne das schäbig, was Sie Minister Clement unterstellt haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Vergangenen Freitag war ich in Heidelberg, wo Sie herkommen. Dort hat mir der AOK-Landesvertreter im Kreishaus eine Liste von Personen überreicht, die inzwischen als arbeitsfähig angesehen werden. Darunter befindet sich beispielsweise der tragische Fall eines beinamputierten Dialysepatienten, der gegenwärtig in einer Klinik liegt. Sie werden doch nicht allen Ernstes behaupten, dass ein solcher Mensch arbeitsfähig ist.

(Dirk Niebel (FDP): Das ist nicht in Ordnung, aber das sind doch keine 5 037 142 Dialysepatienten!)

– Bleiben Sie ganz ruhig! Ich sage Ihnen offen: Es gibt eine ganze Menge solcher Fälle, über die auch in der Presse berichtet wird. Wir werden mit den Vertretern der kommunalen Spitzenverbände darüber reden, dass diese Fälle nicht in die Statistik gehören und dass die Betroffenen nicht als erwerbsfähig registriert werden können, weil sie es nun einmal nicht sind. Das hat im Übrigen mit der rentenrechtlichen Definition der Erwerbsfähigkeit, wonach jemand, der drei Stunden arbeiten kann, als erwerbsfähig gilt, zunächst einmal gar nichts zu tun.

   Damit sind wir beim zweiten Problem. Wir diskutieren zum zweiten Mal über einen Antrag, den man laut Kollegin Dückert ernst nehmen sollte. Aber jeder, der den Antrag liest, wird an der Ernsthaftigkeit relativ schnell zweifeln. Wir haben schon im September vergangenen Jahres lange Zeit damit zugebracht, über dieses wunderbare Schriftstück gemeinsam zu diskutieren. Herr Kollege Singhammer, ich weise Ihre Behauptung entschieden zurück, ich hätte mich über 8 Millionen Arbeitslose lustig gemacht. Lustig mache ich mich über Ihre Ausführungen in den Debatten

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken (CDU/CSU): So etwas Arrogantes wie Sie gibt es auch nur einmal!)

und über manches, was Sie kühn vertreten.

   Sie haben mich mit den 8 Millionen Arbeitslosen richtig zitiert. Das möchte ich betonen; denn alles andere hilft nichts. Ich möchte Ihnen einmal sagen – das ist während Ihrer Regierungszeit beschlossen und von uns mitgetragen worden; das ist unumstritten –, wen wir gegenwärtig als arbeitslos registrieren. Arbeitslos ist nach SGB III, wer zur sofortigen Arbeitsaufnahme verfügbar ist, sich bei einer Agentur für Arbeit gemeldet hat und gleichzeitig keiner Erwerbstätigkeit nachgeht oder aber weniger als 15 Stunden pro Woche arbeitet. Derjenige, auf den diese Definition zutrifft, wird als arbeitslos registriert, wenn er denn die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt. Natürlich können Sie nun alle auflisten.

   Mein Minister hat – um der Debatte den Wind zu nehmen – selbst gesagt: Es ist richtig, dass im letzten Monat 5,037 Millionen Arbeitslose registriert worden sind. Eigentlich muss man noch viele hinzurechnen, die in Maßnahmen stecken. Ein Beispiel: 330 000 Personen sind in der Existenzgründungsförderung. Diese gründen eine Ich-AG oder nehmen Überbrückungsgeld in Anspruch, weil sie sich selbstständig machen. Hätten Sie es gerne, wenn wir diese in der Arbeitslosenstatistik aufführten? Ein weiteres Beispiel: Im Januar dieses Jahres haben 88 000 Menschen, die einer geregelten achtstündigen Arbeit nachgehen, Lohnkostenzuschüsse erhalten. Sollen diese Menschen als arbeitslos registriert werden, obwohl sie beschäftigt sind? Können Sie mir einmal erklären, warum Sie eine solche Unsinnsdebatte heraufbeschwören?

   Ich habe den Eindruck, dass hier Anträge gestellt werden, nur um irgendwelche Diskussionen vom Zaum zu brechen, die gar nicht hierher gehören. Die in dem Antrag der CDU/CSU aufgeführten Gruppen an Personen, deren Zahl zu der bisherigen Zahl der Arbeitslosen addiert werden soll, sind regelmäßig nicht verfügbar, weil sie entweder verrentet sind, im Vorruhestand oder in Weiterbildungsmaßnahmen sind oder weil sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Auch Menschen, die in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sind, die also regelmäßig jeden Tag zur Arbeit gehen, kann man nicht als arbeitslos registrieren. Was wollen Sie eigentlich?

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ist das der erste oder der zweite Arbeitsmarkt? – Johannes Singhammer (CDU/CSU): Aber sie sind doch nur beschäftigt!)

   Herr Niebel hat behauptet – auch hier empfehle ich mehr Sachlichkeit und Abrüstung –, nun werde nach den statistischen Kriterien der ILO gezählt und danach gelte jeder, der nur eine Stunde arbeite, als nicht arbeitslos. Darf ich Sie darauf hinweisen, dass viele unserer Nachbarländer das genauso machen

(Dirk Niebel (FDP): Das macht es nicht besser!)

und dass die Zählung nach ILO-Kriterien völlig richtig ist. Wir haben in der Zwischenzeit die statistischen Voraussetzungen verändert, und zwar – entgegen der Behauptung von Herrn Niebel – mit Zustimmung des Bundesrates. Wir werden künftig die Arbeitslosigkeit nach einem anderen Verfahren messen, wonach 30 000 Menschen befragt werden. Am 1. März dieses Jahres werden zum ersten Mal die mithilfe dieses Verfahrens ermittelte Arbeitslosenquote und Arbeitslosenzahl öffentlich mitgeteilt. Damit sich niemand aufregen muss, werden wir – wir sorgen für Transparenz, damit klar ist, worüber wir reden – die bisher übliche Statistik neben der ILO-Erhebung veröffentlichen. Wir bieten also zwei Parameter an, mit denen man das Problem der Arbeitslosigkeit und der Unterbeschäftigung sowie die Beschäftigung genauer bewerten kann. Ich sage ausdrücklich, dass Herr Niebel mit seinen Einleitungsbemerkungen Recht hat:

(Dirk Niebel (FDP): Das macht mir Angst, wenn Sie mir Recht geben!)

Um das Problem vernünftig lösen zu können, muss man die Tatbestände kennen.

Damit komme ich zum dritten Problem. Unsinnigerweise wird von uns gefordert, endlich die Erwerbstätigen in den Mittelpunkt der Statistik zu stellen. Herzlichen Glückwunsch! Das habe ich in der letzten Debatte schon Herrn Fuchs gesagt. Herr Singhammer, Sie entblöden sich nicht, das hier zu wiederholen. Jeder, der die Statistik anschaut, stellt fest, dass sie die Erwerbstätigenzahlen enthält; man kann sie also da nachlesen. Die Bundesregierung sorgt jetzt sogar dafür – das wiederhole ich ausdrücklich –, dass die Erwerbstätigenzahlen früher zur Berechnung der Statistik herangezogen werden. Nach dem bisherigen Verfahren wurden sie immer mit zwei- oder dreimonatiger Verspätung berücksichtigt. Jetzt wird umgestellt: Die jeweils aktuellen Zahlen werden nach einem Monat in der Statistik enthalten sein.

   In dieser Debatte über die Arbeitsmarktstatistik geht es Ihnen um etwas ganz anderes: Sie haben diesen Antrag eingereicht, damit in der Kernzeit eine Debatte zu einem bestimmten Thema geführt wird.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Darum geht es doch nicht, Herr Andres!)

Da wird zwar nichts Neues gesagt und auch die Fakten werden nicht zur Kenntnis genommen; aber man kann öffentlich über das diskutieren, was einem gerade so passt.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Mein Gott! Sagen Sie doch, dass Sie es nicht können!)

   Ich sage Ihnen ganz offen: Ich glaube, dass Sie die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zur Politik mit dieser Vorgehensweise nicht vergrößern; dadurch nimmt sie vielmehr ab.

   Zu den Zwischenrufen möchte ich sagen: Wir, diese Bundesregierung, haben die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe durchgesetzt.

(Dirk Niebel (FDP): Ihr habt es doch früher abgelehnt! – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ihr habt total versagt!)

Wir zählen jetzt richtig und ordentlich. Sozialhilfeempfänger werden in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen – wir haben das durchgesetzt –: Im letzten Monat waren es über 200 000 Menschen mehr, die in der Arbeitslosenstatistik erscheinen. Aber damit ist – auch das muss klar sein – die Arbeitslosigkeit nicht gestiegen; vielmehr gelten jetzt Menschen in der Statistik als arbeitslos, die schon vorher arbeitslos waren. Was wollen Sie eigentlich? Sie haben die Kraft, das zu machen, doch überhaupt nicht aufgebracht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel (FDP): Geschichtsklitterung! – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Haltet den Dieb!)

Wir machen das. Wir halten das für richtig und wir stehen auch dazu.

   Es ist völlig richtig, dass dieser Antrag keine Mehrheit bekommt und abgelehnt wird; denn ihn anzunehmen wäre eine zusätzliche Verhöhnung derjenigen, über die wir hier diskutieren. Das, was wir als Bundesregierung machen, kann sich sehen lassen und wir stehen auch dazu.

   Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Um Gottes willen! Total versagt! – Dirk Niebel (FDP): Das war die Fleisch gewordene Arroganz der Bundesregierung!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über den Sinn oder Unsinn von Statistiken. Konkret geht es um die registrierten Arbeitslosen. Sie kennen das berühmte Zitat, wonach nur Statistiken zu trauen ist, die man selbst gefälscht hat. Deshalb interessiert mich die Statistikdebatte nur zweitrangig.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Für die PDS im Bundestag sind das Schicksal und die Zukunft der 5 bis 9 Millionen von Arbeitslosigkeit Betroffenen wichtiger als ihre Erfassung.

   Allerdings sage ich auch: Die CDU/CSURegierung hat das Ausmaß der Arbeitslosigkeit immer verschleiert. Sie wollte nicht wahrhaben und vor allem nicht offenbaren, dass ihre Arbeitsmarktpolitik gescheitert war.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Ich erinnere mich noch sehr gut an Vorwürfe aus der CDU/CSU, wonach die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern auch deshalb so hoch sei, weil die Frauen im Osten gleichberechtigte Arbeit begehrten, während die Frauen im Westen wohltuend abstinent seien. Das zeigt nur, wie ideologisch mit Statistiken gespielt wird.

   Die Arbeitslosenstatistik von RotGrün ist ehrlicher. Sie kommt der Wahrheit näher, allerdings ohne sie wirklich zu erfassen. In einem der reichsten Länder dieser Welt, in einem der wirtschaftlich stärksten Länder dieser Welt und in einem der ehrgeizigsten Länder dieser Welt nehmen Arbeitslosigkeit und Armut dramatisch zu. Das ist ein Widerspruch. Die Statistik belegt ihn und das ist gut. Aber die Politik befördert diesen Widerspruch und das ist schlecht.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Im Gegensatz zu Rot-Grün habe ich für die PDS schon im Jahr 2002 gesagt: Die ganze Hartz-Prahlerei wird nicht weniger Arbeitslose bringen, sondern mehr arme Arbeitslose nebst Angehörigen. Die aktuelle Statistik und meine alltägliche Erfahrung geben mir – leider – Recht. Deshalb wiederhole ich: Wer den Binnenmarkt schwächt, wer reiche Unternehmen aus der Sozialpflicht entlässt, der handelt sozial ungerecht und wirtschaftlich unsinnig.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Das sage ich übrigens auch mit Blick auf die CDU/CSU. Wer unentwegt längere Arbeitszeiten und niedrigere Löhne fordert, der bekämpft die Arbeitslosigkeit nicht, sondern er befördert sie.

Wer eine Steuerpolitik fordert, bei der Wohlhabende entlastet und die Kommunen belastet werden, mindert nicht die Arbeitslosigkeit, sondern gibt ihr neue Nahrung.

   Aus all diesen Gründen lehnt die PDS den vorliegenden Antrag ebenso ab wie die Agenda 2010 nebst Hartz IV. Wir werben stattdessen für eine „Agenda Sozial“.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegen Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mir auch diesmal nicht verkneifen, etwas anzumerken, Herr Staatssekretär. Ich möchte übrigens fast sagen „Regierung Andres“; denn Sie sind bei dem wichtigen Thema auf der Regierungsbank richtig allein. Auch angesichts dieses Alleinseins finde ich: Wenn Sie hier reden, geht immer so ein starker Hauch von Arroganz und Besserwisserei durchs Plenum.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel (FDP))

Das ist meines Erachtens dem Thema nicht angemessen. Warum kann man nicht einmal sachlich über ein paar Punkte reden?

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Das ist demagogisch, was von Ihrer Seite kommt! – Weitere Zurufe von der SPD)

   Sie treten hier als Besserwisser auf. Das ist nicht die Art, die die Menschen draußen erwarten. Sie unternehmen den Versuch, alles schönzureden, und sagen: Alles ist in Ordnung; das kann sich sehen lassen. – So haben Sie es gerade wörtlich gesagt. Angesichts dessen frage ich mich, warum Sie die letzten zehn Landtagswahlen nacheinander verloren haben. Die Menschen draußen scheinen das anders zu sehen. Das Thema Arbeitslosigkeit ist das Thema Nummer eins und müsste auch für die Bundesregierung, die hier so voll präsent ist, Thema Nummer eins sein. Vielleicht geben Sie das an das Kabinett weiter, Herr Staatssekretär.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir reden hier über die Arbeitslosenstatistik. Es geht um die Frage, ob wir miteinander über registrierte Arbeitslosigkeit, verdeckte Arbeitslosigkeit, stille Reserve, von mir aus auch Schwarzarbeit reden können. Es geht darum, das einmal zusammen in den Blick zu nehmen, weil es da ja Gemeinsamkeiten gibt. Die Betroffenen sind nicht im richtigen Markt, weil sie Schwarzarbeit machen, oder sie sind nicht im richtigen Markt, weil sie in Maßnahmen sind, oder sie sind nicht im richtigen Markt, weil sie sich nicht trauen, sich zu bewerben, weil sie keine Chancen sehen; das ist die stille Reserve. Ein paar davon, so sage ich einmal – zurzeit sind es 5,037 Millionen –, sind statistisch registriert. Das ist das Einzige, was die Betroffenen unterscheidet. Es ist doch wohl angezeigt, sich einmal darüber zu unterhalten, ob das alles so sinnvoll ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir führen hier eine Statistikdiskussion, während die Arbeitslosigkeit, auch die registrierte Arbeitslosigkeit, den Höchststand in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erreicht hat, Frau Roth.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Sie wissen doch, warum! Wegen der Sozialhilfe!)

Es sind 435 000 mehr als im selben Monat des Vorjahres. Es sind 573 000 mehr als im letzten Jahr. Sie können das alles nicht mit der Umsetzung von Hartz IV erklären.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Natürlich!)

– Natürlich nicht! Die Zahlen wären auch so nach oben gegangen. Es sei Ihnen aber zugestanden, dass das hinzukommt.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Wie großzügig!)

Sie haben durch das, was da passiert, auf dem Arbeitsmarkt – den Eindruck habe ich jedenfalls – ein totales Chaos angerichtet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Spätestens an der Stelle muss man den Mut haben, einfach einmal zurückzublicken und zu fragen, wie denn der Bundeskanzler Gerhard Schröder hier angetreten ist. In der Regierungserklärung 1998, zu Beginn der sechs Jahre, die wir jetzt hinter uns haben, hieß es:

Wir wollen uns jederzeit daran messen lassen …, in welchem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beigetragen haben.

Bei diesem Höchststand habe ich nicht den Eindruck, dass Sie einen großartigen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geleistet haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel (FDP))

Dann gab es die Aussage, dass man zum Ende der letzten Legislaturperiode hin bei 3,5 Millionen registrierten Arbeitslosen sein wollte. Auch daran muss man doch zumindest erinnern können.

   Die Verantwortung für die Arbeitslosigkeit hat der Bundeskanzler längst abgegeben. Die Sache scheint ihm zu heiß geworden zu sein. Er hat den Mantel der Verantwortung in die Garderobe von Wirtschaftsminister Clement gehängt und ausdrücklich gesagt: Du bist für den Arbeitsmarkt und für Hartz IV zuständig.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): So ist es!)

Man muss sich das einmal vorstellen: Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ist nicht bereit, die Hauptverantwortung dafür zu übernehmen, dass sich auf dem Arbeitsmarkt endlich etwas bewegt. Das müsste für ihn Thema Nummer eins sein. Er müsste bei einer solchen Debatte hier sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Herr Clement hat zu Beginn dieses Jahres zur Umsetzung der Hartz-Reform, also der Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, gesagt: Jetzt kommt die Wahrheit ans Licht. Die Zeit der Dunkelziffern und Verschiebebahnhöfe ist vorbei. – Es ist drei, vier, fünf Wochen her, dass er das gesagt hat. Ich habe im Moment den Eindruck: Die Dunkelziffer wird wieder etwas größer.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Warum denn?)

Angesichts des Streits mit den Kommunen

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Das müssen wir uns genauer anschauen, jawohl!)

und der Diskussion darüber, ob man ältere Langzeitarbeitslose in Ostdeutschland mit etwas anderem bedienen soll, habe ich nicht den Eindruck, dass die Zeit der Verschiebebahnhöfe vorbei ist. Hier ist wieder Verschieberei in großem Maße im Gange.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Karin Roth (Esslingen) (SPD): Nein, nein!)

   Lassen Sie mich auch zum eigentlichen Thema noch einige Sätze sagen. Wir wollen ja hier über die Statistik reden,

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie wollen das!)

auch wenn wir bisher über alles Mögliche geredet haben, was den Arbeitsmarkt betrifft: Was spricht denn dagegen, dass man sich einmal ernsthaft die Mühe macht – das ist der Kernpunkt unseres Antrages –, die wirkliche Unterbeschäftigung festzustellen?

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Herr Weise ist nicht der Minister!)

Sicherlich findet man viele Zahlen. Ich habe mich in den letzten zwei Tagen immer dann, wenn ich Zeit hatte, mit den Statistiken auseinander gesetzt. Wir haben so viele Zahlen, dass keiner mehr weiß, welche richtig und wichtig sind.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Das ist das Problem von Ihnen!)

Ich will damit nicht sagen, dass die nicht alle notwendig sind. Warum bringen wir aber nicht die Kraft auf, einmal wirklich über das Thema Unterbeschäftigung zu reden

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Tun wir doch!)

und hierbei nicht nur über die Kategorie registrierter Arbeitsloser, sondern auch über die Menschen in Maßnahmen? Selbst der Sachverständigenrat redet ja davon, dass es sich hierbei um eine Form verdeckter Arbeitslosigkeit handelt.

   Lassen Sie uns also auch einmal darüber reden, statt in diesem Bereich nur mit Verschiebebahnhöfen zu arbeiten. Gerade im letzten Jahr haben Sie Menschen, die Trainingsmaßnahmen absolvieren, also klassische Maßnahmen, durch die man auf den Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet wird, aus der Statistik herausgenommen. Dabei suchen diese Menschen natürlich Arbeit. Sie bereiten sich ja gerade darauf vor, wieder eine Arbeit aufzunehmen. Sie aber sagen, weil sie sich in einer Maßnahme befinden, zählen sie nicht. Es muss endlich damit aufgehört werden, mit einer solchen Art von Verschiebebahnhöfen zu arbeiten.

   Noch einige Stichworte zu den Zahlen. Ich habe mir hier die Frage aufgeschrieben: Haben wir schon eine Unterbeschäftigung in einer Größenordnung von 9 Millionen?

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Was?)

– Sehen Sie, das habe auch ich mir gedacht. – Sie finden inzwischen aber solche Aussagen, weil wir nicht den Mut haben, einmal alle Zahlen zusammenzuführen. Sie finden in dieser Woche in der „Welt“ unter der Überschrift „Die Statistik trügt“ ein Beispiel. Da wird versucht, alles zusammenzuzählen; dabei kommt der Autor auf 9 Millionen.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Die „Welt“!)

– Auch die „Süddeutsche Zeitung“ schafft das, genauso wie die „Wirtschaftswoche“.

(Zuruf von der FDP: Auch das „Handelsblatt“! – Karin Roth (Esslingen) (SPD): Wir haben doch darüber mit den Experten geredet! Wo waren Sie denn da, Herr Meckelburg?)

Ich habe das Gefühl, der Etikettenschwindel besteht darin, dass Sie nicht die Kraft aufbringen, einmal mit uns gemeinsam eine Statistik aufzustellen, in der alle Zahlen zusammengebracht werden. Dann würden wir wissen, wie hoch die Unterbeschäftigung in Deutschland wirklich ist. Sie liegt wesentlich höher als die Zahl, die uns im Zusammenhang mit registrierten Arbeitslosen ständig genannt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das sollte der Andres einmal mit nach Hause nehmen!)

   Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch gleich eine Frage unterbringen, die vorhin eine Rolle gespielt hat. Es geht um die Visaproblematik. In dem Zeitraum, wo Visa sehr locker ausgegeben worden sind, sind immerhin 5,6 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen. Glauben Sie wirklich, Frau Dückert – Sie haben das Thema ja angesprochen –, dass diese 5,6 Millionen Menschen, die über Kiew, Moskau und andere Stellen eingereist sind, nach Deutschland gekommen sind, um den Kölner Dom zu besichtigen oder im Schwarzwald Urlaub zu machen?

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist eine solche Unverschämtheit, was Sie machen! Setzen Sie sich einmal mit den Zahlen auseinander!)

Wenn Sie das wirklich glauben, zeugt das von sehr viel Naivität. Hierdurch ist auch ein großer Schaden durch Schwarzarbeit entstanden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir diskutieren das heute vor dem Hintergrund von 5 Millionen registrierten Arbeitslosen. Schauen Sie dabei einmal in den Bereich der Jugendlichen: 635 000 Jugendliche unter 25 sind arbeitslos und 410 000 junge Menschen befinden sich in Maßnahmen der BA. Allein schon das Verhältnis von 635 000 registrierten Jugendlichen zu denjenigen, die nicht registriert werden, weil sie sich in Maßnahmen befinden, ist interessant. Insgesamt kommen wir auf über 1 Million junger Menschen, die nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt angekommen sind. Das ist die Realität in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das ist ganz schlimm! Die haben keine Perspektive!)

   Lassen Sie mich eine weitere wichtige Zahl in den Vordergrund rücken. Sie haben es sich in der letzten Zeit angewöhnt, besonders auf die Zahl der Erwerbstätigen hinzuweisen. Ich glaube, die wichtigere Zahl ist die der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Genau! – Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die stehen in der Statistik! Lesen Sie sie endlich einmal!)

Hierbei handelt es sich um die Arbeitsverhältnisse, die ich nach wie vor als typisch für Arbeitnehmer ansehe, Frau Dückert. Schauen Sie sich einmal die Entwicklung in diesem Bereich an: Im September 2001 gab es davon 28,2 Millionen, 2002 27,8 Millionen, 2003 27,2 Millionen und 2005, also ganz aktuell, 26,7 Millionen. Das sind 1,5 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte weniger und damit auch 1,5 Millionen Arbeitsplätze weniger. Hier sieht man das Problem, das wir haben: Es gibt zu wenig Arbeitsplätze, um die Leute aus der Arbeitslosigkeit herauszuholen. Das ist das zentrale Thema, dem Sie sich doch endlich einmal widmen sollten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich will noch einige Sätze zu Hartz sagen, weil das ja der große Wurf sein sollte.

(Zuruf von der SPD: Haben Sie nicht zugestimmt?)

– Wir haben nicht allen Teilen von Hartz zugestimmt; es gibt ja immerhin Hartz I bis Hartz IV.

   Da gibt es zum Beispiel die PSA, die Personal-Service-Agenturen. In diesem Zusammenhang sind jährlich 350 000 neue sozialversicherungspflichtige Jobs versprochen worden.

(Dirk Niebel (FDP): 23 000 sind es geworden!)

Realität zum Stand Januar: Es sind 27 500.

   Bei der Ich-AG, dem großen neuen Instrument – ich würde auch erst einmal abwarten, wie das zweite Jahr der Ich-AGs aussehen wird –, sind jährlich 500 000 Jobs versprochen worden; bis jetzt sind es 240 000 geworden.

   Das Programm „Kapital für Arbeit“, der so genannte Job-Floater, war so erfolgreich, dass Sie es bereits im Frühjahr letzten Jahres eingestellt haben.

(Dr. Axel Berg (SPD): Wenn Sie bessere Vorschläge haben, dann lassen Sie uns darüber diskutieren! Aber lamentieren Sie nicht!)

Es hat viel Geld gekostet und statt der jährlich 120 000 neuen Jobs jährlich 12 800 gebracht.

   Auch über Hartz, so muss man feststellen, sind die Menschen nicht nur in den ersten Arbeitsmarkt gekommen, sondern auch in Bereiche, die der Sachverständigenrat zu der verdeckten Arbeitslosigkeit rechnet. Das muss an der Stelle einmal gesagt werden.

   Ich möchte die letzte Minute meiner Redezeit auf die Frage verwenden: Wie gehen wir mit älteren Arbeitslosen um? Wir brauchen diese älteren Menschen auf dem Arbeitsmarkt, weil sie Erfahrung haben, und führen zurzeit eine Diskussion darüber, ob wir die Lebensarbeitszeit verlängern müssten.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erst mal müssen wir Ihre Frühverrentungspraxis stoppen!)

Parallel dazu läuft die Diskussion darüber, wie man mit den älteren Arbeitslosen umgehen soll. Der Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit hat diese Frage ja in dieser Woche angesprochen.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Was wollen Sie?)

Ich sage Ihnen ganz deutlich: Es geht nicht an, dass wir uns überlegen, diese Personen aus der Arbeitsmarktstatistik und den entsprechenden Zahlungen herauszunehmen, sodass mit einem Schlag wieder 181 000 Menschen aus den entsprechenden Leistungen herausfielen und auf der Straße stünden.

   Mit dem Punkt, den Herr Weise angesprochen hat,

(Zuruf von der SPD: Er hat falsch gedacht!)

hat er genau den Finger in die Wunde gelegt.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Weise ist Ihr Parteifreund! Das wissen Sie auch!)

Wir können arbeitsmarktpolitische Maßnahmen auflegen und Statistikzählereien machen, wie wir wollen – es bleibt dabei, dass wir uns der Frage stellen müssen, die Karl-Josef Laumann in der letzten Woche aufgeworfen hat: Wir müssen uns ganz verstärkt – das gilt auch noch für die Zeit, die Sie haben, bis Sie abgewählt werden – der Frage zuwenden, wie wir Menschen in den ersten Arbeitsmarkt bringen, wie wir Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt generieren können, wie wir alle Politikfelder auf das Ziel orientieren können, das da lautet: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Denn das hilft allen Systemen, das hilft den Menschen und das würde notfalls sogar Ihnen helfen, wiedergewählt zu werden. Wenn Sie sich nicht ändern, werden Sie bei einer der nächsten Wahlen Ihre Mehrheit verlieren. Das kann ich Ihnen garantieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Werner Bertl, SPD-Fraktion.

Hans-Werner Bertl (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in meiner schon ziemlich langen politischen Arbeit drei Punkte gelernt, nämlich erstens die Opposition ernst zu nehmen, zweitens mich mit Anregungen und Vorstellungen der Opposition ernsthaft auseinander zu setzen und drittens grundsätzlich der Opposition nicht schlechte Absichten zu unterstellen. Ich fand diese Grundsätze immer gut; auch ich war mal in der Opposition.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Da werden Sie bald wieder sein!)

Ich wäre auch gern mit Ihrem Antrag so verfahren. Allerdings ist es zu offensichtlich, dass es Ihnen schon bei Antragstellung, am 29. Juni letzten Jahres – in Kenntnis der Tatsache, dass die Systematik in der Statistik mit Wirkung zum 1. Januar dieses Jahres geändert werden würde –, ausschließlich darum ging, den Eindruck zu vermitteln, dass alle Daten, die in Deutschland über den Arbeitsmarkt erhoben werden, Lug und Trug seien und dass das einzige Ziel einer bundesweiten Sammlung von Daten sei, den Menschen die tatsächliche Situation zu verschleiern. An dieser Stelle wird – das sage ich Ihnen ganz ehrlich, meine Damen und Herren – Opposition für mich fragwürdig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ich sage Ihnen noch etwas: Noch haben nicht alle hier in diesem Land vergessen, wie Sie 1998 die Statistik verbogen und frisiert, 400 000 Menschen in Wahl-ABM geschoben und so die Menschen getäuscht haben.

(Beifall bei der SPD – Dr. Axel Berg (SPD): Vor jeder Wahl war das!)

Im Gedächtnis ist übrigens auch, dass Arbeitslosengeldbezieher in vorruhestandsähnlichen Maßnahmen – § 428 SGB III – seit 1986, als diese Regelung eingeführt wurde, nicht mehr mitgezählt werden.

   Es ist nicht falsch, sondern richtig, eine gute Datenlage zu fordern, da nur in Kenntnis der realen Situation Instrumente wirkungsvoll entwickelt und auf dem Arbeitsmarkt eingeführt werden können. Da haben Sie vollkommen Recht; ich glaube, da können wir uns finden.

(Abg. Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Bertl, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hans-Werner Bertl (SPD):

Nein, ich versuche, hier fertig zu werden.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Der ist fertig!)

   Ich wäre einverstanden, meine Damen und Herren, wenn die Opposition die Idee eines Statistiksystems hätte, welches uns mit Erkenntnissen versorgen würde, von denen Sie behaupten, wir hätten sie nicht.

   Der nächste Vorwurf, den ich Ihnen machen muss. Entweder haben Sie noch nie aufmerksam die ersten vier Seiten der Statistik der Bundesagentur für Arbeit gelesen

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Wir haben nicht nur die ersten vier Seiten gelesen! – Gegenruf der Abg. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben gar nichts gelesen!)

oder Sie versuchen hier – in der Hoffnung, es merkt keiner, weil sich ja letztendlich nicht sehr viele in diesem Land mit dieser Statistik beschäftigen –, die Situation zu verschleiern. Jeder Bundestagsabgeordnete erhält jeden Monat ein Heft, in dem auf mehr als 60 Seiten eine Datenlage dargestellt wird, die alle von Ihnen in Ihrem Antrag erhobenen Forderungen bereits umfasst.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss (SPD))

Das heißt, die Transparenz, die Sie sich laut Ihrem Antrag für den Arbeitsmarkt wünschen, wird hier auf mehr als 60 Seiten dargestellt.

   Im Gegensatz zu Ihrem großen Statistikpfusch von 1998 mit der Verschiebung der 400 000 Arbeitslosen haben wir seit 1. Januar durch die Aufnahme der arbeitsfähigen Empfänger von Sozialhilfe eine Klarheit in das Statistiksystem gebracht, die für die Beurteilung des Arbeitsmarktes meines Erachtens richtig und wichtig ist.

(Beifall bei der SPD)

Politisch war das für uns kein einfacher Schritt. Wir haben davon nicht profitiert, denn wir haben den Menschen deutlich gemacht, dass eine große Gruppe von Menschen in unserem Land überhaupt nicht gezählt wurde. Erst wir haben sie in die Statistik hineingenommen, wie der Staatssekretär gerade gesagt hat.

   Das heißt, ein großer Unterschied zwischen uns ist: Wir wussten, dass damit die Zahl der Arbeitslosen über 5 Millionen steigt, aber wir wollten diese Wahrheit und Klarheit auf dem Arbeitsmarkt.

(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel (FDP): Warum haben Sie das dann abgelehnt, als wir das vor Jahren beantragt haben?)

   Eigentlich – ich bin ganz froh, dass einige von Ihnen noch hier sind – wäre Ihr Antrag gar nicht nötig gewesen, wenn Sie sich einmal die Mühe gemacht hätten, sich nur vier Seiten dieser Statistik – ich finde das für Bundestagsabgeordnete sehr attraktiv – anzusehen.

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Ich habe mir die Mühe gemacht! Ich habe doch gerade etwas dazu gesagt, Herr Kollege!)

Auf Seite 1 dieser Statistik erhalten Sie – das dauert gar nicht lange; das kann man während einer Sitzung mal eben machen – eine Übersicht über alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigen in unserem Land im Monatsschnitt. Sie sehen den Zugang an Arbeitslosen, und zwar differenziert nach vorheriger Erwerbstätigkeit oder Ausbildung. Sie bekommen Informationen, wie hoch der Anteil der Frauen und der Männer ist, wer jünger ist als 25 Jahre usw. Sie erfahren die Arbeitslosenquote bezogen auf abhängige zivile Erwerbspersonen, Empfänger des Arbeitslosengeldes II und, seit diesem Jahr, des Sozialgeldes. Gemeldete Stellen werden genannt, Teilnehmer aktiver Arbeitsmarktpolitik.

   Das heißt: Alles, was Sie reklamieren und von dem Sie behaupten, da werde etwas verdeckt und man habe keinen Überblick mehr, finden Sie hier aufgeführt: berufliche Weiterbildung, Trainingsmaßnahmen, PSA, Arbeitsgelegenheiten, Existenzgründungsschutz, Überbrückungsgeld –

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das ist doch vorhin alles genannt worden!)

all das steht in dieser Statistik, meine Damen und Herren. Das Ganze wird dann auch noch schön aufbereitet und bezogen auf Westdeutschland und Ostdeutschland dargestellt, das heißt, auch in dieser Hinsicht kann ein Vergleich vorgenommen werden.

   Außerdem lohnt sich für Sie die Seite 4, denn dort bekommen Sie die Informationen wirklich sehr dezidiert: Wie viele Menschen befinden sich in beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen, in Vollzeitmaßnahmen? Wie viele behinderte Menschen befinden sich in Maßnahmen? Wie viele befinden sich in Wiedereingliederungsmaßnahmen? Auch der ganze Bereich der beschäftigungsbegleitenden Systeme ist mit aufgenommen worden.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das hat er doch alles vorhin in seiner Rede gesagt!)

– Mein lieber Herr Hinsken, die Zahlen, die Sie in Ihrem Antrag fordern, liefert uns die Bundesagentur für Arbeit auf den ersten vier Seiten ihrer Statistik. Diese Zahlen umfassen sogar den Bereich der Arbeitsteilzeit und der nicht arbeitslosen Leistungsempfänger. Ich muss daher sagen: Sie vermitteln den Menschen den Eindruck, als würde in diesem Land gelogen und betrogen

(Dirk Niebel (FDP): So ist es!)

und als könnte kein Mensch wissen, wie die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Wahrheit ist aber: Jeden Monat erhält jeder von Ihnen diese Statistik. Sie brauchen nur vier Seiten daraus zu lesen und haben einen umfassenden Überblick über die Situation auf dem Arbeitsmarkt.

   Es gibt noch etwas Neues, was zumindest für diejenigen interessant ist, die sich ab und zu mit der Statistik der Bundesagentur für Arbeit beschäftigen. Auf den Seiten 60 und folgende findet jeder die entsprechenden Daten für seine Stadt bzw. seinen Kreis. Man muss also deswegen nicht mehr mit dem Leiter der örtlichen Arbeitsagentur sprechen. Auf diesen Seiten gibt es auch die genauen Zahlen zu den Arbeitslosengeld-II-Beziehern.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Wie viele sind denn tatsächlich beschäftigungslos?)

   Herr Andres hat es eben schon gesagt: Die ILO-Statistik ist kein Ersatz für die BA-Statistik. Wir werden vielmehr beide Statistiksysteme nebeneinander stellen. Die ILO-Statistik hat einen großen Vorteil: Sie wird in 123 Staaten und auch bei der OECD angewandt.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Sie hat einen Vorteil: dass sie geringer ausfällt!)

Unsere BA-Statistik wird von Eurostat und von allen europäischen Staaten anerkannt.

   Man kann also sagen: Auf der einen Seite gibt es mit der BA-Statistik eine sehr differenzierte Arbeitsmarktstatistik, die uns in den Stand setzt, die richtigen Instrumente zu entwickeln. Auf der anderen Seite haben wir mit der ILO-Statistik ab 1. März dieses Jahres die Möglichkeit, volkswirtschaftliche Vergleiche – genau das ist der Schwerpunkt der ILO-Statistik – zwischen 123 Staaten zu ziehen.

   Wenn Sie die ernsthafte Absicht hätten, einen höheren Erkenntnisgewinn zu erzielen, um daraus resultierend eine entsprechende Arbeitsmarktpolitik zu gestalten, dann müssten Sie Ihren Antrag zurückziehen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Bei Ihnen hat es immer noch nicht hingehauen! Wir haben noch 5 Millionen Arbeitslose!)

Wir können Ihren Antrag nicht umsetzen, weil die Daten, die Sie fordern, Ihnen jeden Monat auf über 60 Seiten zugestellt werden.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Darum geht es doch gar nicht!)

   Ich kann Ihnen nur empfehlen: Bitte beschäftigen Sie sich mit dieser Statistik und bitte versuchen Sie nicht, den Menschen Sand in die Augen zu streuen, indem Sie behaupten, Arbeitsmarktpolitik würde nur noch auf Grundlage falscher Daten betrieben!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Singhammer und Meckelburg haben hervorragende Reden gehalten!)

   Bevor wir uns über die Fragen streiten, welches Statistiksystem sinnvoller ist und ob alle Daten vorliegen – ich behaupte: sie liegen vor –, empfehle ich Ihnen: Entwickeln Sie mit uns Hartz IV weiter – Sie haben in einigen Bereichen schon mitgemacht und Blockaden aufgehoben –, damit wir die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen können!

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/4463 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Arbeitsmarktstatistik aussagekräftig gestalten – Ausmaß der Unterbeschäftigung verdeutlichen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3451 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.

[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 161. Sitzung – wird am
Montag, den 28. Februar 2005,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15161
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