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Das Parlament
Nr. 11 / 08.03.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Jens Hacke

In der Nachhut

Zeitgeschichtliche Kontroversen

Das Kennzeichen unserer Zeit, so schrieb der britische Historiker Eric Hobsbawm einmal, sei das Gefühl einer permanenten Gegenwart, der jegliche organische Verbindung zur Vergangenheit fehle. Trotzdem ist die Geschichte in den letzten Jahren wieder sehr präsent. Historisches im Film, Fernsehen, Museen und Feuilletons - all dies findet den Weg in die Öffentlichkeit und wird begierig konsumiert.

Ob dieses historische Interesse mit dem Bedürfnis nach kollektiver Identitätskonstruktion zusammenhängt oder lediglich eine kompensatorische Funktion in Zeiten beschleunigten Wandels besitzt, darüber ist man uneins. Die Historiker neigen dazu, ihre eigene Rolle und die Bedeutung ihrer Debatten zu überschätzen. Dies dokumentiert auch dieser Sammelband, hervorgegangen aus einer Tagung des Potsdamer Zentrums für zeithistorische Forschung.

Das Spektrum reicht von der Aufarbeitung einzelner deutscher Debatten (Fischer-Kontroverse, Historikerstreit, Wehrmachtsausstellung, Goldhagen) bis zu Fragen im Umgang mit historischer Schuld in verschiedenen Gesellschaften generell (Österreich, Frankreich, Polen, Schweiz, Polen). Während zu den außerdeutschen Themen abgewogene und informierte Überblicke zu den Grundlinien öffentlicher Diskurse gegeben werden, kreisen die mehrheitlich mit der Bundesrepublik befassten Arbeiten zumeist um die Streitpunkte der Historiker und deren Rolle in der Öffentlichkeit. Nur Ingrid Gilcher-Holthey und Martin Sabrow beklagen - bezeichnenderweise - die versäumten Auseinandersetzungen über Zäsuren jüngeren Datums wie 1968 und 1989.

Zu den deutschen Dauerbrennern zunftinterner Selbstreflexion gibt es überdies nicht allzu viel Neues zu berichten. Konrad Jarausch und Imanuel Geiss werten Fischers Kriegsschuldthese als berechtigten wissenschaftlichen Streit, der im nationalkonservativ geprägten Klima der frühen Bundesrepublik "liberalisierend" gewirkt habe. Fischer setzte die unbequeme Frage nach dem deutschen Sonderweg auf die Tagesordnung, so dass Hitler nicht mehr zum "Betriebsunfall" deklariert werden konnte.

Den Kontroversen um den Nationalsozialismus wird hingegen lediglich der Rang von "Scheindebatten" zuerkannt: Weder der Historikerstreit noch die Disputationen um die Wehrmacht und Goldhagens These vom "eliminatorischen Antisemitismus" hätten die Forschung einen Schritt weitergebracht, so das selbstbewusste Historikerurteil. Im Gegenteil, Emotionalisierung und Vereinfachung der Argumente gingen immer auf Kosten einer differenzierten Betrachtung.

Hier scheint also das Problem zu liegen. Zwar wissen die Historiker viel, können sich aber schwer Gehör verschaffen. Dazu passt auch die kleinlaute Erkenntnis, dass - wie Norbert Frei und Ulrich Herbert zugestehen - öffentliche Debatten zumindest auf das Fach selbst zurückwirken, indem aus ihnen neue Fragen für die um Aufmerksamkeit bemühten Historiker entstehen, sei es die Intensivierung der Holocaust-Forschung in Deutschland nach dem Streit um die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Völkermordes, sei es die gesamtgesellschaftlich neu gestellte Frage nach den Tätern der NS-Diktatur im Anschluss an Goldhagen und die Wehrmachtsausstellung.

Dies zeigt, dass die deutschen Historiker der Zeitgeschichte oft hinterherhinken. Die deutsche Zeithistorie ist in die Jahre gekommen. In dem Maße, in dem die Geschichte des Nationalsozialismus "an politischer Gegenwärtigkeit verliert", so beschreibt Michael Jeismann das Problem, ist die Vergangenheit wieder offen und daher auch eine Aktualisierung der Forschungsperspektive nötig.

Zwar lässt sich über die Geschichte viel kontroverser und moralisch selbstgewisser urteilen, wenn die Zeitzeugen bereits verstummt sind. Solche historischen Debatten sind dann allerdings nicht mehr zeitgeschichtlich zu nennen und bergen die Gefahr, zu "Erregungszuständen" zu verflachen, wie Brigitte Seebacher-Brandt gegen den aus ihrer Sicht verheerenden Einfluss der 68er einwendet.

Die eigentliche Zeitgeschichte der heute "Mitlebenden" darf insofern durch die lange Fixierung auf die NS-Zeit nicht marginalisiert werden. Denn öffentliche Diskussionen um die jüngere Zeitgeschichte der alten Bundesrepublik, der DDR und der nun bald anderthalb Jahrzehnte zurückliegenden Einigung erscheinen angesichts gegenwärtiger Orientierungsschwierigkeiten nötiger denn je.

Martin Sabrow, Ralph Jessen, Klaus Große Kracht (Hrsg.)

Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945.

C.H. Beck Verlag, München 2003; 378 S., 15,90 Euro

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