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Das Parlament
Nr. 31-32 / 26.07.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Susanne Balthasar

Wer mit 30 noch allein ist, den bestraft die Sitte

Altersgrenzen sind reine Willkür, aber praktisch: Mit 18 darf man Auto fahren, mit 65 in Rente - dazwischen liegt eine Zeitenwende

"Bob Dylan wird diesen Monat dreißig Jahre alt", sagt Linus. "Das ist das Deprimierendste, was ich je gehört habe", antwortet Charlie Brown.

Natürlich glauben wir, das Leben vermessen zu können. Deshalb hat uns die Bürokratie, die die Zahlen besonders liebt, einen Haufen Grenzwerte in den Lebenslauf gestellt: Mit 18 dürfen wir den Führerschein machen, mit 21 auch juristisch verantwortlich sein und erst mit 65 ist Schluss mit der Vermesserei, und der Mensch wird in die Altersruhe entlassen. Zwischen Strafmündigkeit und Rentenreife kommt nicht viel, und damit es dazwischen nicht langweilig wird, haben wir uns selber einen Stolperstein dazwischen gesetzt: den 30. Geburtstag.

Mit 30, das weiß jedes Kind, ist man alt. So alt, dass man die wichtigen Dinge im Leben schon geschafft haben muss, sonst ist es zu spät. Wer mit 30 zum Beispiel noch allein ist, den bestraft die Sitte: "Nach gutem altem Brauch", berichtet das Internet, "hat Udo an seinem 30. Geburtstag die Rathaustreppen gefegt". Warum? Ganz einfach: "Er wurde 30 und ist noch nicht verheiratet. Dabei musste er so lange fegen, bis sich eine Jungfrau fand, die ihn frei küsste." Der arme Udo. Hat es auch nicht anders verdient. Mit 30, lieber Udo, solltest Du als Sieger durch das Lebensziel gelaufen sein, denn danach kommt die Schlusskurve: Die ersten Fältchen sind schon da, die grauen Haare kommen und schließlich die Gehhilfe, über die man dann eines Tages fällt und auf dem Teppichboden liegen bleibt. Genickbruch. Oder so. Der 30. Geburtstag ist der Tod der Jugend, und wer bis dahin nicht erwachsen geworden ist, bekommt auf den Gabentisch eine Ichkrise gelegt: "Ist mein Leben jetzt vorbei? Habe ich überhaupt noch eine Chance?"

Wieso sollte mit 30 die Jugend eigentlich vorbei sein? Ist man denn nicht so alt, wie man sich fühlt? Natürlich sind Altergrenzen ein soziales Konstrukt und als solches dem Wandel der Zeiten unterworfen. Vor 200 Jahren galten Über-60-Jährige als Methusalems; in den 1970er-Jahren sang Udo Jürgens: "Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an." Was also ist schon 30? Nichts weiter als eine Zahl, die zwischen 29 und 31 klemmt und nichts aussagt über den tatsächlichen Reifegrad des Geburtstagskindes. Und trotzdem gibt es Eltern, die schon beizeiten Sätze wie diesen sagen: "Der Peter Schmitz studiert noch, dabei ist der doch schon 30." Mit decodiertem Subtext heißt das: Der Peter Schmitz ist 'ne Pfeife und wird es immer bleiben. Oder: "Mit 30 hatte ich schon zwei Kinder. Aber heute ist das ja anders."

Das ist durchaus richtig, denn das statistische Elternalter ist in der Zwischenzeit von Anfang auf Ende Zwanzig geklettert. Aber wenn die Botschaft, dass man mit 30 ein ordentliches Mitglied der Gesellschaft zu sein hat, zuverlässig wie ein Einschreiben von einer Generation zur anderen weiter geleitet wird, setzt sich der Glaube verlässlich fest, dass mit 30 der Wendepunkt zwischen Jugend und Erwachsensein erreicht ist. Natürlich tritt der Umschwung nicht pünktlich am Geburtstag ein, genauso wenig wie der Silvesterabend in ein Leben ohne Zigaretten und Alkohol böllert. Aber Stichtage alarmieren zuverlässig wie die ersten grauen Haare: Jetzt ist es Zeit darüber nachzudenken, über die Vergangenheit und, daraus folgernd, über die Zukunft.

Ein 30. Geburtstag kann ganz schön lange dauern. Bei mir waren es 20 Jahre. Mit zehn Jahren tauchten die ersten Fotos vor meinen Augen auf: Ich, daneben ein Mann, davor zwei Kinder. Ich würde ein Haus, ein Auto und einen ordentlichen Beruf haben. Kieferorthopädin oder Tierärztin. Später schien mir das spießig zu sein, und wollte reich und berühmt werden, aber bloß nicht 30, also unvorstellbar alt und sicher spießig werden. Lange Zeit kann man zwischen Fremd- und Eigenentwürfen, Altideen und Neueinfällen wählen wie zwischen Himbeer- und Erdbeereis. Entscheidungen sind aufschiebbar, denn das ganze Leben ist ein Provisorium. Heute studiere ich dies, morgen lerne ich vielleicht schon das. Liebe ja, aber bitte noch nichts Endgültiges, wir sind doch alle noch so jung, und arbeitstechnisch machen Zeitverträge und Freiberuflerschaft jede Karriereplanung lächerlich. Aber dann kommt er doch, der Tag, an dem das Leben um eine Entscheidung bittet.

Denn wer ehrlich ist, der muss zugeben: Wer mit 30 noch keine Karriere, kein Auto und kein Haus geschafft hat, steht mächtig unter Zugzwang. Mit 15 kann man noch fantasieren, Chefarzt oder Richter zu werden, Rockstar oder Modell. Das Leben ist ein Universum von Möglichkeiten. Doppelt so alt haben die Träume dann eine Geschichte des Scheiterns hinter sich. Dies hat nicht geklappt und das auch nicht - warum sollte es in Zukunft klappen? Bin ich überhaupt so toll, wie ich mit 18 dachte? Höchste Zeit also, das Ego an der Realität abzuarbeiten. Wer jetzt noch seine Biografie auf Kurs bringen will, muss sich schon gehörig auf den Hosenboden setzen.

Denn wer kennt nicht einen dieser Dauerjugendlichen, die sich mit Ende 30 noch so durchwursteln, bis die Stahlblase dann am 40. platzt, wenn es schon längst zu spät ist? Mit 40 gilt man vielen Arbeitgebern schon als verfallen. Wer da mit 30 noch im Dickicht der Möglichkeiten herumirrt, hat unter Umständen schon den Ausgang verpasst. Wohin das führen kann, hat Sven Regener in seinem Roman "Herr Lehmann" beschrieben. Herrn 30er-Krise erklärt ein Buchvertrieb so: "Und 30 Jahre alt zu werden, weiß Herr Lehmann, ist Scheiße, weil man da langsam ‚beginnt, eine Vergangenheit zu haben, eine gute alte Zeit und den ganzen Scheiß.' Und weil auf einmal alle anfangen zu fragen, was man denn bitte schön anfangen wolle mit dem eigenen Leben. Denn dass jemand zufrieden damit ist, Kellner zu sein, ist in dieser Stadt, in der alle ‚eigentlich Künstler' sind, nicht vorgesehen - ‚aber was ist das für ein trauriger Umgang mit dem, was man tut, wenn man es immer nur als Zwischenlösung ansieht, als nichts Richtiges?' Selbst einen Dauerhänger im Kreuzberger Hängerbiotop überholt am Ende die abgelebte Zeit. Das kann zum Ziel führen, aber erst einmal zu Depressionen.

Besonders betroffen sind Frauen. Oft steigt die Angst schon ab dem 29. Geburtstag fieberkurvenartig bis zum Anschlag, denn die biologische Halbwertzeit von Frauen ist mit 30 erreicht. Pünktlich zum 30. fällt ihnen mit der Klarsicht der Schockerkenntnis ein, dass sie doch ein Kind haben wollen. Früher dachten sie: Mal sehen, ich weiß nicht, später vielleicht, nicht jetzt. Jetzt sind sie 30 und Dauersingle, frisch getrennt oder mit Männern liiert, die doch lieber Fußballspielen als Windeln wechseln. Plötzlich wachsen überall Frauen aus dem Boden, die den Termin verschlafen haben: Mit dem Kind, das klappt nicht, wir sind ja beide gesund, aber du weißt ja, über 30 sind die Eier porös wie alte Turnschuhe... Selbst Stars wie Julia Roberts und Jennifer Lopez werden wegen Überschreitung des Verfallsdatums in die Fruchtbarkeitsklinik eingeliefert. Bei anderen wiederum setzt am 30. erst die Panikattacke und dann der Heiratszwang ein. Wer weiß schon, ob da noch ein Besserer kommt?

Nun könnte man meinen, die 30er-Krise sei ein Zeitgeistphänomen. Nicht umsonst heißen die Über-30-Jährigen heute "Thirtysomethings", da steckt das Selbstfindungsdrama schon im Namen. Entstanden im Ewigkindergärten wie Deutschland, wo junge Leute 85 Semester studieren, um noch ein bisschen die schöne Studizeit zu genießen, weil danach der böse Arbeitsmarkt lauert. Tatsächlich aber ist das Phänomen uralt. Schon die 68er wussten um den Zusammenhang von Dreißigsein und Lebensplänen, weshalb sie den Slogan "Trau keinem über 30" ausgaben. Dass Rainer Langhans im Rentenalter noch immer in einer Sexkommune lebt, beweist nicht, dass der Spruch veraltet ist.

Auch Honoré de Balzac kannte die große Zäsur im Menschen-, besonders im Frauenleben, und widmete ihr den Roman "Die Frau von Dreißig Jahren". Heldin Julie d'Aiglement, eingeschlossen in einer unglücklichen Ehe, verschreckt in besagtem Alter die Lebensschau: "Ihre Leidenschaft wird stark angesichts der Ahnung einer erschreckenden Zukunft." Nun tun sich für Madame d'Aiglement gerade angesichts der Alterschwelle Möglichkeiten auf: Will sie ihr Leben wie bislang fristen? Oder das Ruder noch einmal herumreißen und sich einen Liebhaber nehmen? Denn noch ist sie zwar nicht mehr blutjung, aber auch noch nicht steinalt. Eine Frau in den besten Jahren sozusagen, die noch schön ist, aber das Leben auch schon erfahren hat. Dass Madame d'Aiglemet mit ihrem Ausbruchsversuch scheitert, nun ja, das mag Schicksal sein oder die damalige Zeit. Balzac selbst findet tröstende Worte, indem er das schöne Alter von 30 Jahren als "jenen poetischen Gipfel im Leben einer Frau" nennt, an dem sie "dessen Lauf umfassen und ebenso in die Zukunft wie in die Vergangenheit blicken kann". Das sind doch schöne Aussichten.

Schön ist auch, dass die meisten Menschen, die ihren 30. Geburtstag schon lange hinter sich haben, so lange, dass sie die Rentengrenze bereits zu überschreiten drohen, sagen: Von 30 bis 40, das ist die schönste Zeit im Leben. Warum? Weil man ein bisschen erwachsen ist, aber auch noch ein bisschen jung. Denn dass mit 30 die Jugend stirbt, das behaupten die auf der anderen Seite, die Zahnspangenträger und Britney-Spears-Fans. Die, die es besser wissen, wissen, dass es nach jeder Krise erst mal aufwärts geht. Und sich der Stolperstein im Rückblick auch zur ersten Treppenstufe auf dem Weg nach oben verklären lässt.

Susanne Balthasar (30)

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