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1965 Debatte um die Verjährung von NS-Verbrechen

Fotografie: am Rednerpult im Plenum
Ernst Benda, CDU
© Bundesbildstelle

Es muß dem deutschen Volk erlaubt sein, sich selbst von diesen Mördern befreien zu können

"Ich sehe mich ... nicht in der Lage - und ich bekenne das offen - in dieser Sache ohne Leidenschaft zu diskutieren. Ich meine, dass das eben angeführte Wort Leidenschaft in seinem wesentlichen Wortsinn gebraucht werden muss: wir leiden! Wir leiden unter dieser Frage, meine Damen und Herren, und mit uns leidet das ganze deutsche Volk. Wir müssen versuchen, unter Einsatz dieser Leidenschaft zu der richtigen Lösung zu kommen (...)

Wer von uns in dieser Frage überhaupt jemals in den letzen Tagen rechtliche, Gerechtigkeits- und politische Erwägungen angestellt hat - und wer von uns hätte das nicht? -, der steht bei dieser Frage unter einem solchen Druck seiner Überzeugung - ich sage: seines Gewissens -, dass das, was an Demonstrationen, Resolutionen, Eingaben oder was auch immer - achtbare Dinge, nebenbei gesagt - auf uns zukommen kann, weit zurücktritt gegenüber dem Druck dessen, was in jedem einzelnen von uns vorgeht (...)

Der Rechtsstaat heute muss auch die Gerechtigkeit anstreben, wobei er natürlich das richtige Rechtsgut der Rechtssicherheit weder vergessen noch auch nur vernachlässigen kann (...) Aber ich bestehe darauf - und es gehört für mich zum Begriff der Ehre der Nation -, zu sagen, dass dieses deutsche Volk doch kein Volk von Mördern ist und dass es diesem Volk doch erlaubt sein muss, ja dass es um seiner selbst willen dessen bedarf, daß es mit diesen Mördern nicht identifiziert wird, sondern von diesen Mördern befreit wird, daß es, besser gesagt, deutlicher gesagt, sich selbst von diesen Mördern befreien kann."

Ernst Benda, CDU

 

Die Verjährung hat einen tiefen rechtspolitischen Sinn.

"Was können wir tun, um im Einklang mit dieser Stimmung, mit dem Willen der Welt zu sein? Sollen wir mit ihr hassen, verfluchen, Schuld und Sühne verewigen? Nein, wir können der Welt nur schlicht und fest unseren Willen zum Recht dartun. Ein Mehr gibt es nicht. Zum Recht, zu unserem Recht gehört auch, dass Schuld, dass jede Schuld verjährt (...)

Fotografie: am Rednerpult im Plenum
Thomas Dehler, FDP
© Bundesbildstelle

Der rechtsstaatliche Gleichheitsgrundsatz und das Verbot der Willkür schließen jedes Ausnahmegesetz aus, jede Regelung, die sich gegen einen bestimmten Personenkreis wenden will oder aus einem bestimmten Anlass heraus die Rechtsfolgen für einen bereits abgeschlossenen Tatbestand ändern will. An diesem Grundsatz scheitert der Versuch, die Verjährungsfrist für den Mord der nationalsozialistischen Zeit, für die Beihilfe hierzu, für den Versuch des Mordes mit rückwirkender Kraft zu ändern (...)

Die Verjährung hat einen tiefen rechtspolitischen Sinn, auch bei Straftaten, die wir hier im Auge haben. Die Verjährung verzichtet der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens wegen auf die letzte Gerechtigkeit (...)

Vor Gott und dem Gewissen gibt es mehr als die Verjährung, es gibt die Vergebung. Ich kann mir keinen der Täter denken, die in jener verruchten Zeit schuldig geworden sind, der heute ohne Reue wäre. (...) Durch den Ablauf von Jahrzehnten, besonders im Abstand von einer ganz außergewöhnlichen Zeit, wandelt sich die Persönlichkeit und ist die Verjährung gerecht.

Und die Verjährung ist doch mehr als ein Ausfluss der Staatsräson. Sie ist im Grunde - nicht anders als der Verzicht auf die Todesstrafe - der Ausfluss weiter, wissender Humanität. Der Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit findet eben in der gesetzlichen Bestimmung der Verjährung seinen Ausgleich. Wer deswegen "lieber auf den Rechtsstaat verzichten" will, weiß nichts von der Idee des Rechtsstaates"

Thomas Dehler, F.D.P.

 

Auch Mörder stehen in einem Verfassungsstaat in der Hand des Rechts

"Ich weiß mich in der Schuld. Denn sehen Sie, ich bin nicht auf die Straße gegangen und habe geschrien, als ich sah, dass die Juden aus unserer Mitte lastkraftwagenweise abtransportiert wurden ... Ich habe mir nicht den gelben Stern umgemacht und gesagt: Ich auch! Ich weiß mich mit in der Schuld. Ich kann nicht sagen, dass ich genug getan hätte. Ich weiß nicht, wer das von sich sagen will. Aber das verpflichtet uns, das ist ein Erbe (...)

Fotografie: am Rednerpult im Plenum
Adolf Arndt, SPD
© Bundesbildstelle

Es gibt bei mir keine Berufung auf Rechtssicherheit, keine Berufung auf ein allgemeines Rechtsstaatsprinzip, sondern eine grundsätzliche Haltung zu allen Grundrechten überhaupt ..., auch wenn darin die Gefahr liegt, dass das den Mördern zugute kommt; denn ich bekenne mich dazu, dass in einem Verfassungsstaat ebensowenig wie die Opfer auch die Mörder aus der Hand des Rechts fallen können. Auch die Mörder stehen in einem Verfassungsstaat in der Hand des Rechts (...)

Es geht darum, eine sehr schwere und im Augenblick leider noch ganz unpopuläre Last und Bürde auf uns zu nehmen. Es geht darum, dass wir dem Gebirge an Schuld und Unheil, das hinter uns liegt, nicht den Rücken kehren, sondern dass wir uns als das zusammenfinden, was wir sein wollen: kleine demütige Kärrner, Kärrner der Gerechtigkeit, nicht mehr."

Adolf Arndt, SPD

 

Die Gerechtigkeit muss die Idee des Rechtsstaates sein

"Wenn aber Gerechtigkeit und Rechtssicherheit einander widerstreiten, dann plädiere ich doch für den Vorrang der Gerechtigkeit; denn, meine Damen und Herren, wenn wir nicht daran glauben, dass die Gerechtigkeit die Idee des Rechtsstaates ist, dann sollten wir auf den Rechtsstaat lieber verzichten."

Richard Jaeger, CSU

Wir werden eines Tages an den Auseinandersetzungen mit den NS-Verbrechern gemessen werden

"Wir werden durch die Form der sauberen Auseinandersetzung mit denjenigen, die zu kriminellen Verbrechern geworden sind, eine wichtige Lehre nicht nur für unser Volk, sondern vielleicht auch darüber hinaus geben können. Daran, wie ernst wir es mit diesem notwendigen Teil - der nicht für das ganze stehen kann - der Auseinandersetzung mit denjenigen, die Unrecht begangen haben, nehmen, werden wir eines Tages gemessen werden in der Frage, ob wir uns nach jener schrecklichen Zeit bewährt haben."

Gerhard Jahn (SPD)

Eine menschliche Gesellschaft muss sich im gerechten Urteil der Gerichte selbst reinigen können

"Wir wissen - und müssen leider wissen -, dass immer noch mit Taten und Tätern, mit Verbrechen und Verbrechern unter uns zu rechnen ist, auf die niemand berechtigterweise das Tabula-rasa-Prinzip anwenden kann, weil sich eine Gesellschaft, ein Volk selbst aufgäbe, wenn es die Verantwortlichen für so scheußliche Verbrechen unbehelligt als Vollbürger in gesellschaftlichen Ehren unter sich leben ließe. Es ist ... ein elementares Bedürfnis der menschlichen Gesellschaft, sich im gerechten Urteil der Gerichte selbst zu reinigen."

Max Güde (CDU)


ZeitPunkte: Daten und Fakten der 4. Wahlperiode (1961-1965)
Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/geschichte/parlhist/streifzug/g1960/g1960_22
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