Deutscher Bundestag
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Konstituierung des Deutschen Bundestages am 26.10.1998

Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zuerst und vor allem möchte ich mich bedanken für das Vertrauen, daß Sie mit Ihrer Wahl in mich gesetzt haben. Dieses Vertrauen verpflichtet. Und ich will mir alle Mühe geben, es zu rechtfertigen - durch Fairneß, durch Offenheit, durch parteipolitische Neutralität in der Amtsführung. Ich bitte Sie sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, mich dabei zu unterstützen!

Sehr geehrte Frau Professor Süssmuth: Sie haben in Ihrer langen Amtszeit als Bundestagspräsidentin Maßstäbe gesetzt. Das gilt nicht nur für die Art und Weise, wie Sie in diesem Hohen Hause präsidiert haben: fair und klar, sondern auch dafür, wie Sie den Deutschen Bundestag und seine Arbeit in der Öffentlichkeit repräsentiert haben: werbend, konsensbildend, über den tagespolitischen Streit hinausweisend und gleichwohl entschieden politisch. Dafür gebührt Ihnen der nachdrückliche und herzliche Dank des ganzen Hauses!

Danken möchte ich auch den Vizepräsidenten der 13. Legislaturperiode, den Kolleginnen Geiger und Vollmer, den Kollegen Hirsch und Klose: Sie waren gute Moderatoren unseres parlamentarischen Streits!

Mein Dank gilt auch allen ausgeschiedenen Mitgliedern des Bundestages. Darunter sind nicht wenige langjährige Kolleginnen und Kollegen, die durch ihre Arbeit, ihre Debattenbeiträge das Gesicht unseres Parlaments geprägt, die zum Ansehen des Bundestages wesentlich beigetragen haben. Ich wünsche ihnen allen auf ihrem weiteren beruflichen, politischen, persönlichen Lebensweg alles, alles Gute!

Und zuletzt möchte ich mich bei unserem Alterspräsidenten, dem Kollegen Gebhardt bedanken, daß und wie er die konstituierende Sitzung des 14. Bundestages eröffnet hat! Nunmehr gilt mein herzlicher Gruß den 178 neuen Mitgliedern. Seien Sie herzlich willkommen unter uns. Ihre Zahl zeigt wieder, daß Demokratie Wechsel ist, friedlicher Wechsel ist, den Sie in besonderer Weise personifizieren. Unser Parlament wird durch Sie jünger - und hoffentlich auch munterer - und es wird vor allem weiblicher: In den Bundestag sind 207 weibliche Abgeordnete eingezogen; so viele wie noch nie! Das ist gut so, seien Sie besonders herzlich begrüßt, liebe Kolleginnen!

Erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung. Als ich im Oktober 1990 zum ersten Mal im Deutschen Bundestag reden konnte, habe ich davon gesprochen, was es für mich bedeutete, über 30 Jahre lang - gewissermaßen aus weiter Ferne - parlamentarische Debatten zu verfolgen, welche Faszination die parlamentarische Demokratie auf mich ausübte, von Kindesbeinen an.

Es erfüllt mich deshalb mit großer Bewegung, heute von Ihnen zum Parlamentspräsidenten gewählt worden zu sein. Daß ein ehemaliger Bürger der überwundenen DDR dieses Amt übertragen bekommt, ist dabei wohl mehr als eine Geste, es ist durchaus ein historisches Datum: Das ist keine unbescheidene Behauptung, denn sie meint ja nicht mich, sondern gilt dem eigentlichen Vorgang: Zum ersten Mal wurde ein Ostdeutscher in eines der hohen Ämter der gemeinsamen Republik gewählt - 8 Jahre nach der staatlichen Vereinigung ein Akt demokratischer Normalisierung in den immer noch nicht ganz konflikt- und vorurteilsfreien ost-west-deutschen Verhältnisse, ein Schritt im Prozeß, den innere Vereinigung zu nennen, wir uns angewöhnt haben. Dabei empfinde ich mich in einem gänzlich uneitlen Sinne als Stellvertreter, als Repräsentant meiner ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger: Ich bin weder mein Leben lang ein Widerstandskämpfer gegen die SED-Herrschaft gewesen, noch habe ich mich jemals mit dieser Herrschaft identifizieren können oder wollen. Darin stehe ich für vermutlich eine große Mehrheit meiner Landsleute in den ostdeutschen Ländern. Es gab das wirklich - das richtige Leben im falschen System. Und es bleibt weiterhin notwendig, was ich seit acht Jahren als "politischer Wanderprediger" einfordere: nämlich einen Unterschied zu machen zwischen dem Urteil über das gescheiterte System und dem Urteil über die Menschen, die in ihm gelebt haben, leben mußten, und die nicht alle gescheitert sind, gescheitert sein dürfen! Wenn die vielbeschworene innere Einheit wirklich gelingen soll, dann setzt sie jene Gleichberechtigung voraus, die erst durch die Anerkennung von Unterschieden ermöglicht wird, durch den Respekt vor andersartigen Biographien. Dieser deutsch-deutsche Diskurs, der Vergangenheit und Gegenwart einschließt, ist noch lange nicht an sein Ende gekommen. Und in ihm wird auch von Enttäuschungen die Rede sein müssen.

Wie viele andere Ostdeutsche habe ich auf die deutsche Einheit gehofft, solange ich politisch denke. Diese Hoffnung war aber - ganz und gar nicht nationalistisch - die Hoffnung auf Freiheit und Demokratie. Ostdeutschland hat in den letzten 8 Jahren einen Wandlungsprozeß durchlaufen, dessen Dramatik für die Menschen durch die Wörter "Transformation" oder "Umbruch" nicht auf den Begriff gebracht werden kann. Nachdem wir die sich plötzlich bietende Chance zu Freiheit und Einheit entschlossen wahrgenommen haben, verursachen die Probleme der Einheit - die Probleme, die wir uns immer gewünscht haben, wie Egon Bahr einmal gesagt hat -, erzeugen die Erschütterungen und Enttäuschungen des Einigungsprozesses tiefe Zweifel an der Demokratie selbst, an den Problemlösungsfähigkeiten demokratischer Politik. Allerdings: Ich habe in den letzten Wochen auch erlebt, wie die Erfahrung, daß der Wechsel zwischen Regierung und Opposition nicht nur theoretisch, sondern ganz konkret möglich ist, viele dieser Zweifel verringert hat. Und ich darf von dieser Stelle aus gewiß die Vermutung äußern, daß auch die respektvolle Art, wie die Parteien in dieser Situation miteinander umgegangen sind, daß die unaufgeregte, fast unspektakuläre Weise des demokratischen Machtwechsels beispielhaft ist für das, was altmodisch und doch so zutreffend "Gemeinsamkeit der Demokraten" genannt wird - ein überzeugender Ausweis entwickelter und gefestigter demokratischer Kultur Deutschlands!

Bonn ist eben nicht Weimar geworden und Berlin wird es, dessen bin ich gewiß, auch nicht werden!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 20. Juni 1991 hat der Deutsche Bundestag beraten und beschlossen, wie wir durch die Verlagerung von Bundestag und Teilen der Bundesregierung nach Berlin zur Vollendung der Einheit Deutschlands beitragen wollen Über 7 Jahre sind seither vergangen. 7 Jahre, in denen wir Vorbereitungen getroffen und um Vertrauen geworben haben. Der Deutsche Bundestag hat seither seine Vertragstreue und seine Aufmerksamkeit für alle Notwendigkeiten und Folgen dieses Schrittes bewiesen. Wir haben versucht, gerechte Lösungen für alle Menschen zu finden, die von diesem tiefgreifenden Vorgang in Berlin, in Bonn und in anderen Regionen betroffen sind.

Im nächsten Jahr nun wird der 14. Deutsche Bundestag den großen Schritt tun und seinen Sitz in die alte Hauptstadt und neue Bundeshauptstadt Berlin, verlegen. Ich freue mich darauf, weil es eine Konsequenz aus der wiedergewonnen Einheit ist. Die Verlegung des Parlamentssitzes nach Berlin, wo sich das Parlaments- und Regierungsviertel über die ehemalige Sektorengrenze, über die ehemalige Mauer, dieses absurde und tödliche Monument der Teilung hinweg wie eine Klammer spannen wird, ist ein Teil der Verwirklichung des Wunsches von Willy Brandt: daß zusammenwächst, was zusammengehört. Mir erscheint Berlin als eine Chance für das Parlament wie für die Bundesregierung. Wir können sie nutzen, indem wir uns öffnen für die pluralistische, vielfältige Kultur in dieser Stadt. Wir, Sie alle, meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete, sollten diese Chance, die Berlin bietet, nutzen und den Diskurs, das Gespräch, den Streit zwischen Kultur und Politik tatsächlich intensivieren.

Der historisch außerordentliche Vorgang, ein lebendes, arbeitendes Parlament in eine lebendige, arbeitende, pulsierende Metropole zu verlagern und zu integrieren, wird uns in dieser Wahlperiode vor besondere Aufgaben stellen.

Dabei wird meine Sorge und Aufmerksamkeit besonders darauf gerichtet sein, daß allen Abgeordneten bestmögliche Arbeitsbedingungen und Wirkungsmöglichkeiten geschaffen werden. Wir brauchen ein Parlament, das vom ersten Tag an an seinem neuen Sitz arbeitsfähig ist. Nur ein gut funktionierender Bundestag garantiert auch die Funktionsfähigkeit unserer parlamentarischen Demokratie. Wir können uns keinen Einbruch und keinen Stillstand der gesetzgebenden, kontrollierenden und informierenden Aufgaben des Bundestages erlauben.

Wenn das Parlament seine Arbeit in Berlin aufnehmen wird, wird es Bonn verlassen. Hier am Rhein sagen manche, der Bundestag werde Bonn den Rücken kehren. Ich möchte dem widersprechen. Ich habe selbst erfahren dürfen, welche Anstrengungen diese Stadt unternommen hat, um den Abgeordneten gute Arbeitsbedingungen zu sichern und wie uns Bonn und die Bonnerinnen und Bonner mit offenen Armen empfangen haben. Wir haben gemeinsam die Entscheidung getroffen, daß in Zukunft Teile der Regierung ihren Sitzung in der Bundesstadt Bonn behalten. Das bedeutet zwangsläufig, daß der Deutsche Bundestag auch weiterhin mit Bonn verbunden bleiben wird. Wir hinterlassen keine tabula rasa, sondern eine funktionsfähige Bundesstadt!

Müssen die Menschen - vor allem im Westen - Angst vor einer neuen "Berliner Republik" haben? Gerade gegenwärtig wird in den Feuilletons wieder das goldene Zeitalter am Rhein beschworen - und zwar mit erheblichem elegischen Unterton. Vielleicht liegt es an meiner ostdeutschen Unbefangenheit, daß ich in das Klagelied nicht einzustimmen vermag.

Immerhin: Günter Grass warnte noch vor der Bundestagswahl: "Will man mit dieser preußischforschen Benennung die "Weimarer Republik" und deren Scheitern heraufbeschwören? Soll etwa Berlin, eine Stadt, die mit sich selbst nicht zu Rande kommt, die hinfällige Republik sanieren?"

Ich glaube nicht, daß diese Befürchtungen berechtigt sind. Nicht Berlin, die Stadt, hat den preußischen Militarismus entstehen lassen, sondern es waren die politischen und militärischen Eliten, die ihm zum Durchbruch verhalten. Nicht Berlin hat das Monster des Nationalsozialismus geboren, sondern eine in anderen Teilen Deutschlands erstarkende politisch-rassistische Bewegung hat - übrigens sehr spät - schließlich auch von der deutschen Hauptstadt Besitz ergriffen.

Nein, nicht um die Gefahren eines neuen preußisch-militaristischen Zentralismus wird es in Berlin gehen. Berlin als geographischer Ort wie als Schmelztiegel der deutsch-deutschen Probleme zwingt auch uns, das Parlament, uns diesen Problemen ganz unmittelbar zuzuwenden. Die eine sehr gegenwärtige, sehr notwendige Perspektive heißt, wie sie der Publizist Klaus Hartung formuliert hat: "Die Frage für die 'Berliner Republik' kann nur sein: Hat sie mehr Kraft und Möglichkeiten, die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland durchzusetzen?" Ich hoffe sehr, daß sie diese Kraft entwickelt. Aber die andere Perspektive ist nicht weniger gewichtig: Auch die Westdeutschen müssen sich auf das vereinte Deutschland und seine Veränderungen einlassen.

Genauer besehen allerdings sind unsere Vereinigungsprobleme selber nur ein Teil, ein Unterkapitel globaler Probleme und Veränderungen, die uns Deutsche immer mitbetreffen. Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, der 14. Deutsche Bundestag konstituiert sich in bewegten Zeiten. Sicher, die akute Gefahr einer Eskalation der kriegerischen Auseinandersetzungen im Kosovo wurde vorerst vermieden. Aber wir wissen alle, wie fragil diese neugeschaffene Situation ist, daß die militärische Bedrohung, die Gefahr von Hunger, Seuchen und Kälte für die hunderttausende Flüchtlinge beileibe nicht endgültig gebannt ist. Die noch im Amt befindliche Bundesregierung, Vertreter der noch zu wählenden neuen Regierung und das gesamte Parlament haben mit ihren Entscheidungen und mit der Debatte in der vorletzten Woche bewiesen, daß verantwortliches Handeln der Deutschen in Europa möglich ist. Ich zolle all denen meinen Respekt, die mit diesem hohen Verantwortungsbewußtsein und gewichtigen moralischen Argumenten auf beiden Seiten dieser Debatte gestritten haben. Das macht Mut für die Arbeit in der bevorstehenden Legislaturperiode.

Aber nicht nur in Europa ist die Kriegsgefahr weiterhin nicht von der Tagesordnung verschwunden. Die Welt schaut mit Bangen darauf, ob die in Washington mühsam ausgehandelten Vereinbarungen zu einem dauerhaften Frieden zwischen den Israelis und den Palästinensern führen werden. Wir Deutschen haben ein besonderes Interesse daran, daß dieser Friedensprozeß vorankommt.

In Deutschland erleben wir zur Zeit selbst, wie sehr diese eine Welt in den Zeiten der Globalisierung zusammenwächst. Nicht nur an den Börsen haben die Turbulenzen einer von Asien und Rußland ausgehenden Währungs- und Finanzkrise auch unsere ökonomische und soziale Lebenswirklichkeit erreicht. Mehr denn je stehen wir vor der Aufgabe, unsere politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten mit unseren europäischen Nachbarn abzustimmen und auf diesem Wege den mit Maastricht begonnenen Weg der europäischen Einigung zu vollenden. Die gemeinsame europäische Währung wird unweigerlich - und ich begrüße das - unseren Alltag verändern, jeden einzelnen bewußt "europäisieren".

Der Übergang von einer klassischen Industriegesellschaft in eine Dienstleistungs- und Mediengesellschaft, das unbewältigte Problem der Massenarbeitslosigkeit, die daran geknüpften unabweisbaren Umbauerfordernisse für unsere sozialen Sicherungssysteme - all dies markiert Herausforderungen, die auch in nationalem Maßstab nach neuen, innovativen, unkonventionellen Lösungen geradezu schreien. Die Antworten der Politik sind im Zeichen weltweiter Interdependenzen sicher nicht einfacher geworden. Aber die Menschen in unserem Land erwarten doch mit Recht von uns, dem von ihnen gewählten demokratischem Parlament, daß wir uns dieser Herausforderungen ernsthaft annehmen!

Die Politik muß gerade in einer Zeit beschleunigten Wandels und auseinanderdriftender gesellschaftlicher Interessen ihre Gestaltungskraft beweisen - sonst nimmt der Politikverdruß wieder zu, der wiederum Nährboden des Rechtsextremismus ist.

Daß Menschen auf Veränderungsdruck auch mit Ängsten, mit Abwehr, mit Ausgrenzungsversuchen reagieren, muß uns nicht wundern. Es liegt aber an der Überzeugungskraft demokratischer Politik, ob solcherart Mechanismen unserer gesellschaftliches Zusammenleben dominieren. Bei Jürgen Habermas ist zu lesen:

"Der beschleunigte Wandel moderner Gesellschaften sprengt alle stationären Lebensformen. Kulturen bleiben nur am Leben, wenn sie aus Kritik und Sezession die Kraft zur Selbsttransformation ziehen. Rechtliche Garantien können sich immer nur darauf stützen, daß jeder in seinem kulturellen Millieu die Möglichkeit behält, diese Kraft zu regenerieren. Und diese wiederum erwächst nicht nur aus der Abgrenzung von, sondern mindestens ebenso sehr aus dem Austausch mit Fremden und Fremdem."

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, will mir als eines der notwendigen und wichtigen Motive unserer Arbeit in den nächsten vier Jahren erscheinen: "Die Einbeziehung des Anderen" (wie die Habermas'sche Formel heißt), also unser Umgang mit kulturellen, ethnischen, religiösen, sozialen und Geschlechter-Differenzen wird ein Ausweis dafür sein, wie modern, wie europäisch unser Deutschland ist, wie modern, wie europäisch dieses Parlament unser Land macht, durch seine gesetzgeberischen Initiativen zum Staatsbürgerschaftsrecht, zur Integration der bei uns lebenden Bürger ausländischer Herkunft, zum Umgang mit Minderheiten, zur Reform des Sozialstaats, zur Selbstbestimmung und Stärkung der demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten der mündigen Bürgerinnen und Bürger. Bei allen Meinungsverschiedenheiten im einzelnen zwischen den Parteien, bin ich doch überzeugt davon, daß wir im Ziel einer solidarischen und toleranten Gesellschaft beieinander bleiben sollen und können!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen gute Nachbarschaft anstreben und fortsetzen mit den anderen europäischen Völkern auf dem Weg zum Europa der Bürger; die Beziehungen zwischen den Parlamenten können einen Beitrag zu dieser guten Nachbarschaft leisten, sie vertiefen und festigen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Welt kleiner geworden ist, müßte ich jetzt viele Staaten nennen, die uns wichtig sind und die einen solchen Beitrag des Deutschen Bundestages erwarten und begrüßen. Stattdessen will ich einen Satz aus dem Wahlkampf auf die internationalen Parlamentsbeziehungen ummünzen: Lassen Sie uns nicht alles anders, aber manches noch besser machen. Stellvertretend darf ich aus ostdeutscher Erfahrung und eingedenk des unvergeßlichen Beitrags unserer mittel-osteuropäischen Nachbarstaaten zur deutschen Einheit einen unserer unmittelbaren Nachbarn nennen: Jeder auch unserer Gäste aus dem diplomatischen Corps wird es richtig verstehen, wenn ich sage, daß am Werk der deutsch-polnischen Freundschaft weiter gearbeitet werden muß.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, daß rechtsextremistische, neonazistischen Parteien bei der Bundestagswahl keinen Erfolg hatten, war gewiß der einzige Anlaß zu ungeteilter Freude bei allen im Bundestag vertretenen Parteien. Aber Entwarnung wäre nicht angemessen. Ich bin sicher, im Namen aller Fraktionen zu sprechen, wenn ich an unsere Pflicht erinnere, die Gegner der Demokratie abzuwehren und in ihre Schranken zu verweisen. Es gibt Gegner der Demokratie, die sich als Linke definieren, und es gibt Gegner der Demokratie auf der extrem rechten Seite des politischen Spektrums. Gegenwärtig entfaltet linker Extremismus in Deutschland kaum gewalttätige Wirksamkeit, wohingegen ein nennenswerter Teil vorwiegend der männlichen Jugend in rechtsextremistisches Fahrwasser gerät. Wir müssen uns gemeinsam mit dieser Gefährdung befassen, um sie gemeinsam zu bestehen. Es soll hier nicht von den Aufgaben die Rede sein, die auch unter dem Gesichtspunkt des Rechtsextremismus Gegenstand z.B. beschäftigungs- und bildungspolitischer Debatten sein werden. Meine Anregung ist es, jenseits dieser Aufgaben eine Anstrengung zu unternehmen, den Grundwerten unserer Verfassung neue öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen, damit die Bürgerinnen und Bürger sich bewußt bleiben, was ihnen persönlich wie gesellschaftlich verloren gehen wird, wenn Feinde der Freiheit wirklich Einfluß gewinnen würden.

Es gibt angesichts dieser Probleme eine europäische Debatte über den Zustand unserer Gesellschaften, die sich mit den Problemen der sozialen Kohäsion beschäftigt. Das klingt in der deutschen Sprache am besten, wenn man es mit einer Frage übersetzt: Was hält die Gesellschaft zusammen? Dies wird eine zentrale Frage unserer Debatten sein müssen, denn die Antwort liegt nicht schon auf der Hand, wenn es um einzelne politische Entscheidungen geht. Der italienische Politologe Norberto Bobbio hat in einem Essay über die Toleranz eine Wendung benutzt, die dem Gehalt nach schon bei Hannah Ahrendt zu lesen war: Es gebe nur zwei Arten, das Zusammenleben zu organisieren, entweder durch Kompromisse oder durch Unterdrückung. Lassen Sie uns in diesem Hause einen Umgang miteinander pflegen, der Kompromisse ermöglicht, die die Gesellschaft zusammenhalten. Das glaubwürdige Streben nach Gerechtigkeit und das Ausmaß an Toleranz, welches gute Nachbarschaft ermöglicht, sind in diesem Zusammenhang unverzichtbar.

Rita Süssmuth hat in ihrer Eröffnungsrede vor vier Jahren von der Demokratie als der einzigen Staatsform gesprochen, "die nicht von der Arroganz des endgültigen Wissens geprägt ist". Diese Grundüberzeugung sollte unser aller parlamentarisches Verhalten bestimmen!

In den Reden meiner Vorgänger finden sich viele Ermahnungen und Ermunterungen zu Fairneß und Toleranz, zum Zuhörenwollen und Zuhörenkönnen - jenen elementaren Voraussetzungen dafür, daß Demokratie funktioniert. Es ist nicht mein Eindruck, daß die Zuhörbereitschaft zunimmt, daß die Bereitschaft sich ausbreitet, von der Meinung und der Argumentationskraft eines Anderen sich sehr beeindrucken zu lassen. Läßt sich das durch Appelle ändern? Wohl nicht. Aber vielleicht paßt hier ein kleiner Satz von Martin Walser, der mir vor vielen Jahren - also schon zu "DDR-Zeiten" - hilfreich war. "In meinem Kopf hat mehr als eine Meinung Platz".

Von uns Politikern, von uns Parlamentariern zu verlangen, daß wir bessere Menschen sein sollten als die anderen, ist illusionär und unziemlich. Aber daß wir in dem, was unsere ureigenste Sache ist, unweigerlich als Vorbild wirken, positiv oder eben negativ, das ist wohl nicht zu bestreiten. Also sollten wir parlamentarisch das überzeugend vorleben, was die Demokratie ist: Energische Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden Interessen, Meinungen, Ansprüchen und zugleich die Bereitschaft, die Fähigkeit zum Kompromiß, zum Konsens! In einem der großartigen Gedichte von Friedrich Hölderlin findet sich dafür eine wunderbare poetische Formel: "Versöhnung mitten im Streit".

Ich danke Ihnen für Ihre geduldige Aufmerksamkeit!

Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/1998/001
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