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Rede anläßlich der letzten Sitzung des Deutschen Bundestages in Bonn

Es gilt das gesprochene Wort

" "Zum letzten Mal..." - dies gilt heute offiziell für uns Abgeordnete, aber auch für viele Bonnerinnen und Bonner. Die Politik, das Parlament verläßt Bonn ausgerechnet zu einem der glücklichsten Zeitpunkte deutscher Geschichte: Wir blicken zurück auf 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland auf dem Fundament einer stabilen Verfassung, dem Bonner Grundgesetz, auf 50 Jahre Frieden in Deutschland, auf 10 Jahre Mauerfall und neun Jahre deutsche Einheit.
Diese Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt ohne jeden Zweifel mit dem Namen dieser Stadt verbunden. Der Umzug des Deutschen Bundestages bedeutet weder Abkehr von der noch Absage an die Politik, die in Bonn gemacht worden ist. Es geht doch nicht um Bonn gegen Berlin oder Bonner Politik gegen Berliner Politik. Es ist auch keine Wanderung zwischen einer angeblich alten Republik und einem neuem Deutschland, zwischen Föderalismus und Zentralismus oder zwischen Souveränität und Sonderweg. Die Grundkoordinaten deutscher Politik sind unabhängig von dem Ort, an dem Politik gemacht wird. Die in Bonn entwickelten demokratischen und föderalistischen Strukturen werden in Berlin fortleben, so lange unser, der Demokraten aller Parteien und Fraktionen, politischer Wille und das Engagement der Bürger dafür immer wieder neu die Voraussetzungen schaffen. Dafür treten wir ein.

200 zu 176 Stimmen - dies war vor 50 Jahren Entscheidung des Deutschen Bundestages zugunsten Bonns - so ausdrücklich - als provisorische Bundeshauptstadt. Bei aller Kritik an Bonn in den darauf folgenden Jahren - dies begann beim Klima und gipfelte im "Pflichthaß auf Bonn " (bei Heinrich Böll nachzulesen): Bonn war die richtige Stadt zum richtigen Zeitpunkt. Sicherlich mag Bonn als die sprichwörtlich gewordene "kleine Stadt am Rhein" provinziell und ziemlich unbekannt gewesen sein. Schließlich wurde erst zu Beginn der 50er Jahre die erste Ampel in Bonn aufgestellt. Die meisten Auslandskorrespondenten suchten ihren neuen Dienstort zunächst einmal auf der Landkarte.
Aber Bonn war eben auch überschaubar, freundlich und verzichtete gelassen auf grandiose Gesten und Kulissen, auf Pathos und Protzerei. Nach der Nazi-Diktatur hat diese Stadt geholfen, das Vertrauen in deutsche Politik im In- und Ausland wiederherzustellen. Sie war bescheiden und ruhig; sie war ein Ort, um sich auf den richtigen Weg zu besinnen, geschichtlich unbelastet, kulturell und wissenschaftlich pluralistisch. Karl Marx hat hier studiert, Gottfried Benn hier gelehrt.
Bonn erwies sich als die beste Wiege für die parlamentarische Demokratie eines Landes, das nach Ende des Zweiten Weltkrieges neu aufgebaut werden mußte. Nur Schritt für Schritt öffneten sich die Deutschen gegenüber den neuen Institutionen der parlamentarischen, pluralistischen, sozialen und rechtsstaatlichen Demokratie. Nach der nationalsozialistischen Herrschaft wußten viele, daß diese Demütigung der Menschenwürde nie wieder geschehen dürfe. Demokraten waren sie dadurch noch nicht. Es war eine große Leistung der Demokraten der ersten Stunde, Neugier und Interesse zu wecken. Die erste parlamentarische Debatte verfolgten Millionen von Bürgern und Bürgerinnen am Radio.
Damit bedeutete Bonn hoffnungsvoller und demokratischer Neuanfang. Es hat vorbildliche Debatten in Bonn gegeben - von den Anfängen bis heute. Ich erinnere an einige "Sternstunden": die Debatte über die Westbindung der Bundesrepublik, um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel, über die Todesstrafe, über die Verjährung von NS-Verbrechen, über die Debatte die paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Montanindustrie, über die Neuregelung des Gesetzes zum Schwangerschaftsabbruch im vereinten Deutschland und natürlich über den zukünftigen Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung.
Zu diesen Sternstunden trugen vor allem die politischen Hauptakteure der ersten Bonner Jahre bei: wie Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Carlo Schmid, Theodor Heuss, Thomas Dehler, Heinrich von Brentano, Franz Josef Strauß, Fritz Erler oder Herbert Wehner. Ihre Persönlichkeiten verhalfen dem deutschen Parlament zu einer zentralen Position im politischen Geschehen. Und ihre Lebenserfahrungen prägten die gemeinsame klare und eindeutige Absage an Extremisten und immer wieder auftauchende ideologische Rattenfänger.

Als kleiner Junge habe ich - eher unfreiwillig, weil mein Vater darauf bestand - die Reden aus dem Deutschen Bundestag am Radio über den Sender RIAS verfolgen können. Genauso wie mein Vater nutzten damals viele Bürgerinnen und Bürger aus der DDR die einzige Chance, mittelbar die parlamentarische Arbeit in Westdeutschland zu erleben. Das gilt Später als Jugendlicher und Erwachsener habe ich dann nicht nur freiwillig, sondern auch immer interessierter und intensiver diese Debatten verfolgt. Aus Bonn fand das demokratische Deutschland, fand die Alternative zur ideologischen Enge und Kleingeisterei zu uns in den anderen deutschen Staat. Und damit wuchsen die Zweifel daran, ob die Politik der DDR und ihre autoritären Strukturen wirklich die richtige Konsequenz aus dem Nationalsozialismus sein könne. Bonn war für uns, für viele Ostdeutsche ein Symbol, ein Sehnsuchtsort für unsere Sehnsucht nach demokratischer Freitheit. Das wird unvergessen bleiben.

Heute können wir nicht ohne Stolz behaupten: Deutschland hat die Chance des demokratischen Neuanfangs genutzt. Vielleicht steht nun im Vordergrund, daß Demokratie sehr mühsam sein kann. Entscheidungen zu treffen, zwischen miteinander konkurrierenden Zielen abzuwägen, den Konsens zu suchen - alles dies ist leichter gesagt als getan. Manchmal unbefriedigt, aber mindestens ebenso oft erleichtert erkennt man, daß es in der Demokratie eben nicht die eine, endgültige Wahrheit gibt.

Die Zustimmung zur Demokratie ist in Westdeutschland auch mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik ganz allmählich gewachsen. Wenn jetzt mit dem Finger auf die Ostdeutschen gezeigt wird, weil dort erst - oder nur noch - ein Fünftel der Bürger die Demokratie für die beste Staatsform hält, frage ich, warum den Ostdeutschen nicht auch die Zeit des Suchens und der Überzeugung gegönnt werden soll. Die Erfahrungen der Ostdeutschen mit der Demokratie sind in den 90er Jahren fundamental anders als die Erfahrungen der Westdeutschen damals. Das Ja zur Demokratie muß erbracht werden angesichts großer und so schwer zu verkraftender Veränderungen, von sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Umbauproblemen, von zäher Arbeitslosigkeit und sozialer Verunsicherung und Benachteiligung. Ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Demokratie stellt sich da nicht von selbst ein. Die Mühen der Ebene scheinen unüberwindbar. Freiheit scheint als Widerspruch zur Sicherheit. Wir haben als Parlament eine Bringschuld, nämlich eine Politik, die es erlaubt, Freiheit und Gerechtigkeit als ein untrennbar miteinander verknüpftes Paar zu begreifen.

Wenn wir uns von der Bundeshauptstadt Bonn verabschieden, nehmen wir das als Auftrag und Herausforderung mit nach Berlin.

Von Bonn aus ist deutsche Politik weltweit wieder anerkannt worden. Vor allem auch, weil sie in Bonn europäisch geworden ist. Die entscheidenden außenpolitischen Schritte, die Europa weitestgehend Frieden und Stabilität garantiert haben, wurden von hier aus mit initiiert: Als erstes nenne ich bewußt die Aussöhnung mit Frankreich, dann den Erfolg des atlantischen Bündnisses, die Entspannungspolitik nach Osten, die Auflösung der alten Feindbilder, der gesamteuropäische Friedensprozeß auf der Grundlage der KSZE-Schlußakte von Helsinki, all' dies über die gesamte Zeit verbunden mit stetig wachsender europäischer Integration. Das sind Leistungen nicht nur der Nachbarn in Europa, sondern der deutschen Außenpolitik, die von Bonn aus getrieben worden ist.

Dies gilt auch für die deutsche Einheit. Ohne Bonn kein Berlin: Bonn und seine Deutschlandpolitik, die als europäische Aussöhnungs- und Friedenspolitik ausgerichtet war, hat den Weg für das geeinte Deutschland geebnet. Und das die gesamte Zeit nie offen in Frage gestellte Selbstverständnis Bonns, ein Provisorium eine provisorische Hauptstadt zu sein, hat die Tür zur Einheit Deutschlands stets offen gehalten.

Die Entscheidung für Berlin bedeutet Abschied von Bonn. Das läßt sich nicht beschönigen. Aber sie enthält nicht eine Spur von Undank oder Ablehnung dieser Stadt und ihren Menschen gegenüber. Im Gegenteil: In Berlin müssen wir erst noch beweisen, daß wir den letzten, den besten 50 Jahren deutscher Geschichte, weitere gute 50 Jahre, diesmal für ganz Deutschland hinzufügen können.
Wir Parlamentarier werden immer wieder Grund haben, an eine gute Zeit in Bonn, den Ort und die Art des Erwachsenwerdens der deutschen Demokratie zu denken. Die Politik und die Menschen, die im unmittelbaren und mittelbaren Umfeld gearbeitet haben, sind dank der rheinischen Mentalität herzlich aufgenommen worden. Manch' ein Bonner hat uns vorgelebt, was Geduld, Gelassenheit und rheinischer Humor Wert sind. Im Namen aller Parlamentarier möchte ich Ihnen, Frau Oberbürgermeisterin, stellvertretend für alle Menschen in dieser Stadt heute versichern: Wir haben uns in Bonn und im Rheinland sehr wohl gefühlt. Bonn bleibt Bundesstadt mit einer wohl einmaligen Vergangenheit - und mit viel Zukunft. Ich bin mir bewußt, daß der Deutsche Bundestag zu dieser Zukunft einen Beitrag leisten kann, in dem er nämlich die Zusagen einhält, die der Stadt gemacht worden sind.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit."

Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/1999/018
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