Neujahrsansprache von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (Deutschland Radio 1. Januar)
Es gilt das gesprochene
Wort.
"Zunächst möchte ich Ihnen allen ein gutes Jahr
wünschen. Ich verbinde diesen Wunsch mit einer konkreten
Hoffnung. Ich hoffe, dass es den Menschen in unserer Gesellschaft
gelingt, ein Verhältnis zueinander zu finden, das weniger von
Gleichgültigkeit und weniger von Vorurteilen geprägt ist.
Der Weg dahin ist nicht einfach, aber notwendig. Denn
Gleichgültigkeit und Vorurteile gehören zu den
Ursachen dafür, dass wir in den vergangenen Jahren mehr und
mehr rechtsradikale Untaten und Verbrechen erleben mussten.
Innerhalb von zehn Jahren sind knapp hundert Menschen in diesem
Land Opfer ausländerfeindlicher und rechtsextremistischer
Gewalt geworden. Jüdische Bürgerinnen und Bürger
fragen, wie weit sie noch sicher mit uns zusammen leben
können.
Es gibt viele Gründe, warum der Rechtsextremismus in
Deutschland in den vergangenen Jahren eine größere
Gefahr geworden ist. Aber zählen dazu nicht vor allem auch auf
Unkenntnis basierende Vorurteile gegenüber Menschen mit
anderen Lebensweisen und Erfahrungen, gegenüber Fremden und
Fremdem? Wer Geschichte und Kultur anderer Völker kennen
gelernt hat, der kann auch Menschen aus anderen Ländern mit
Interesse und Aufmerksamkeit begegnen. Es zählt zu den
bitteren Erkenntnissen der jüngsten Zeit, dass in unserem
Lande dort, wo es keine Offenheit gegenüber Nachbarn gegeben
hat und bis heute nicht gibt, ein gefährlicher Nährboden
für rechtsextreme Parolen und Verhaltensweisen entstehen
konnte.
Vorurteile gibt es genügend, die das Zusammenleben der
Menschen vergiften. Auch im Verhältnis zwischen Ost und West
sind noch zehn Jahre nach der Vereinigung viele Klischees und
Zerrbilder Barrieren für die Vollendung der Einheit geblieben.
Wir trauen uns in Ost und West wechselseitig fast alles zu. Leider
nicht nur im Positivem; der Fall Sebnitz hat es gezeigt.
Warum eigentlich bemühen wir uns so wenig, den anderen
Menschen kennen zu lernen? Warum greifen wir so oft auf
vorgefertigte Meinungen zurück? Es ist nicht immer leicht,
sich mit den anderen zu befassen, auch einmal mit ihnen sachlich zu
streiten. Es ist viel bequemer, sich einem offenen Gespräch zu
entziehen und mit seinen Vorurteilen weiter zu leben. Falsch ist es
trotzdem.
Wie viel Verantwortung haben staatliche Einrichtungen, um gegen
Vorurteile anzugehen? Schule kann Wissen vermitteln, aber reicht
das? Es ist mehr notwendig, um bei jungen Menschen Achtung vor dem
anderen und Toleranz gegenüber dem Andersdenkenden zu
entwickeln. Pluralismus heißt eben nicht nur Vielfalt sondern
eben auch Respekt vor der anderen Meinung. In der Familie, in der
Schule, in der Jugendarbeit muss Erziehung wieder viel wichtiger
werden. Ihre Ziele sollten sein: Menschlichkeit, friedfertige
Konfliktfähigkeit, demokratische Überzeugung, Toleranz,
Mitleidensfähigkeit.
Auch den Medien kommt große Bedeutung zu, wenn es darum geht,
die Grundlagen unserer Gesellschaft und die Grundwerte für
unser Zusammenleben lebendig zu halten. Was geht in den Köpfen
von Fernsehzuschauern eigentlich vor, denen Gewalt als Gegenstand
ihrer allabendlichen Unterhaltung geboten wird? Ich halte
dafür, dass Friedfertigkeit, Gewaltfreiheit, eine Kultur der
Anerkennung und der Achtung vor anderen Menschen höhere
Güter sind, als Einschaltquoten und Gewinne.
Gleichgültigkeit ist eine weitere Ursache unserer Probleme.
Wozu hat es geführt, dass allzu viele Menschen wegschauen,
wenn rechtsextremistische Jugendliche Ausländer drangsalieren
und mit Gewalt bedrohen? Es darf niemanden gleichgültig
lassen, wenn an Stammtischen oder unter Kollegen
ausländerfeindliche oder antisemitische Witze erzählt
werden. Gleichgültigkeit gegenüber dem Rechtsradikalismus
lässt den Eindruck aufkommen, dass Neonazis die Straße
beherrschen. Noch schlimmer; Neonazis missverstehen diese
Gleichgültigkeit als schweigende Zustimmung oder Billigung.
Das dürfen wir nicht zulassen, dagegen müssen wir
deutliche Zeichen setzen. Es war ein beeindruckendes Signal, als am
Abend des 9. November des vergangenen Jahres in Berlin und anderen
Orten Deutschlands die Menschen in großer Zahl gegen
Rechtsradikalismus und Ausländerhass demonstrierten. Das war
eine Kundgebung gegen Vorurteile, Intoleranz und
Gleichgültigkeit. Im vergangenen Jahr habe ich zahlreiche
Gespräche mit Menschen geführt, die sich wehren gegen
Vorurteile und Gleichgültigkeit. Sie haben sich engagiert
gegen den Rechtsradikalismus. Dieses Engagement, vor allem auch
junger Leute, verdient die Anerkennung der Öffentlichkeit, der
Medien und der Politik. Eine demokratische Kultur braucht dieses
Engagement, weil es um den Schutz von Menschenrechten geht. Denn,
es wird mit einigen großen oder weniger großen
Kundgebungen nicht getan sein. Auch ein Parteienverbot - so
notwendig es ist - drängt Rechtsextremismus und
Fremdenfeindlichkeit noch nicht zurück und überwindet
sie. Die Aufgabe ist größer; sie bedarf der
ständigen Aufmerksamkeit und der dauerhaften Anstrengung der
Demokraten, der anständigen Menschen in unserem Land. Ob in
unserer Gesellschaft die elementaren Regeln des menschlichen
Anstands, der humanen Gesittung gelten - das ist unser aller
Angelegenheit. Und dazu wünsche ich uns im neuen Jahr alles
Gute!"