Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2005 in Potsdam
Es gilt das gesprochene Wort
Am 3. Oktober 1990 erfüllte sich für die Deutschen ihr
jahrzehntelanger Wunsch, die Spaltung des Landes friedlich zu
überwinden und endlich geeint in einem demokratischen und
sozialen Rechtsstaat zu leben!
15 Jahre sind nun vergangen, seit die DDR in freier Ausübung
der Selbstbestimmung ihrer Bürger ihre Staatlichkeit beendete
und der Bundesrepublik beitrat, als die Einheit Deutschlands in
Freiheit hergestellt werden konnte. So hatte es wörtlich das
Grundgesetz vorgesehen, über 40 Jahre war in ihm dieses Ziel
"Einheit in Freiheit" vorgegeben, war bewahrt worden und hatte
bewirkt, dass es mit sehr unterschiedlichen politischen Methoden
angestrebt worden ist. Es hat Phasen der Resignation gegeben und
das große Pathos war von einer Politik der kleinen Schritte,
der Verhandlungen und der Zusammenarbeit abgelöst worden, die
sich letztendlich als wirksam erweisen sollte.
Fünfzehn Jahre sind seitdem vergangen, der Zeitraum fast einer
Generation! Die Gefühle der Freude und großen
Dankbarkeit, die ich damals - wie Millionen andere auch - empfunden
habe, sind bis heute keineswegs verblasst. Schließlich war
der 3. Oktober 1990 keine himmlische Fügung, kein bloßes
Geschenk, sondern ein hart errungenes Ergebnis der friedlichen
Revolution von 1989, also Ergebnis jener rasanten
Umgestaltungsprozesse, die am 18. März 1990 erstmals eine
freie Volkskammerwahl ermöglichten. Freie, gleiche und geheime
Wahlen - für DDR-Verhältnisse war das ein unglaublicher
Vorgang!
Über die persönliche und politische Freiheit, über
die Möglichkeit, die eigene Meinung in öffentlicher Rede
und freier Versammlung oder Demonstration zu vertreten, empfinde
ich noch immer ein Gefühl des Glücks. Erinnern wir uns
noch an das Leben in der DDR, wie wir uns übten in einer ganz
besonderen Technik, wo und zu wem man was sagen konnte und wo und
zu wem besser nicht, wie man tagsüber die öden
DDR-Zeitungen las und abends ins Westfernsehen flüchtete.
Erinnern wir uns noch, welch' Erniedrigungen und
Ängstlichkeiten man ausgesetzt war, wenn man einen Reisepass
beantragte für einen Besuch der Schwester oder des Onkels aus
dem Westen bei den "Abteilungen Pass- und Meldewesen der
Volkspolizei-Kreisämter" - wie es damals hieß. Erinnern
wir uns noch an die schleichende Militarisierung unserer Schulen
durch Wehrunterricht und GST, an das politische Strafrecht, das
viele Menschen in Gefängnisse brachte, weil sie ihr
Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung nicht aufgeben
wollten, an die Mauer, an das Gefühl des Eingesperrtseins, an
Mangelwirtschaft und Schlangestehen und an die Erfahrung, Urlaub
immer nur im Lande oder in eine Himmelsrichtung hin machen zu
können. Erinnern wir uns, wir Ostdeutschen, wenigstens
gelegentlich, allzu oft muss es ja nicht mehr sein.
Denn: Das alles haben wir hinter uns gelassen, davon haben wir
Ostdeutsche uns selbst befreit. Welch' große Leistung -
für unser ganzes wiedervereinigtes Land. Es ist ein
bleibendes, ein fröhliches Kapitel unserer deutschen
Geschichte, auf das wir alle gemeinsam stolz sein können. Doch
dürfen wir auch nicht vergessen, dass einer Phase der
Euphorie, des großen Glücks, die Zeit der
Ernüchterung folgte, wohl folgen musste, die Zeit
mühseliger kleiner Schritte, der Enttäuschungen, des
schweren Abschieds von gewohnten Sicherheiten und Erfahrungen der
Gemeinschaftlichkeit, einem Leben im schönen und doch
trügerischen Schein der Übersichtlichkeit, des Abschieds
von der "grimmigen Idylle", die die DDR auch war.
Die Erinnerung an 15 Jahre Deutsche Einheit bliebe lückenhaft,
würde nicht auch an die bedeutende Rolle der 10. Volkskammer
erinnert: Sie hat den 3. Oktober 1990 politisch mit vorbereitet.
Die Wahl zu dieser Volkskammer markierte einen bedeutenden
Wendepunkt in der Geschichte des Auf- und Umbruchs in der DDR: Sie
beendete die revolutionäre Phase und eröffnete die
parlamentarische. Am Tag der ersten Parlamentswahl in der DDR, die
diesen Namen auch verdiente, erhielten die Forderungen der
Demonstranten vom Herbst 1989 ihre demokratische
Legitimation.
Der Souverän erteilte dem Parlament einen klaren Auftrag: die
Herstellung der deutschen Einheit. Die Frage war nur, auf welchem
Weg dieser Wählerauftrag zu erfüllen war - nach Artikel
23 oder nach Artikel 146 Grundgesetz. Die ausgehandelte Formel
lautete dann: zügiger Beitritt, aber zuvor Verhandlungen. Dies
war in der Tat der einzig realistische Weg einer schnellen
Überwindung der deutschen Teilung im Angesicht des immer
weiter voran schreitenden ökonomischen und politischen
Zusammenbruchs der DDR und des damit einhergehenden Verlustes an
politischer Gestaltungsmöglichkeit.
Gerade einmal sechs Monate hatte die 10. Volkskammer Zeit, die
staatliche Einheit in Selbstbestimmung und in Anerkennung unserer
historischen Verantwortung zu vollenden. Der Regelungsbedarf war
gewaltig. Auf der Agenda standen die Wirtschafts-, Währungs-
und Sozialunion, die Prozesse der Rechtsangleichung, das
Stasi-Unterlagengesetz und eine Reihe internationaler
Abstimmungen.
Der Beitrittsbeschluss erging ausdrücklich erst nach Abschluss
des Einigungsvertrages und der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Wir
wollten einvernehmlich mit den Siegermächten und unseren
Nachbarn in die Einheit gehen. Und ich bin auch heute noch stolz
darauf, dass uns dies gemeinsam gelungen ist.
Natürlich hat es in diesen Monaten auch Fehler,
Versäumnisse, Überforderungen gegeben, wie sollte es auch
anders sein? Es gab ja kein Lehrbuch, in dem beschrieben
würde, wie ein demokratisches Parlament sich selbst
überflüssig macht, sich selbst und zugleich seinen Staat
abschafft - und das auch noch zu akzeptablen Bedingungen.
Was in diesem Parlament, der 10. Volkskammer, geleistet und
erreicht wurde, war ohne Vorbild. Und es konnte nur gelingen, weil
seine Mitglieder von vielen Seiten unterstützt wurden: von
Abgeordneten aus den alten Ländern, von der Bundesregierung,
von den Schwesterparteien und -fraktionen des 11. Deutschen
Bundestages, von vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern.
Auch an diese Solidarität sei heute, 15 Jahre danach, dankbar
erinnert.
Die letzte Volkskammer war - trotz der Kürze ihres Mandats -
mehr als nur ein Übergangsparlament, mehr als ein
Lückenfüller zwischen Diktatur und Demokratie. Sie hat es
geschafft, in das vereinte Deutschland eine auf die friedliche
Revolution der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger
begründete Demokratie mit einzubringen. Das ist eine
großartige, eine wahrhaft historische Leistung und wir
täten gut daran, diese Leistung im öffentlichen
Bewusstsein stärker zu verankern.
Der deutsche Vereinigungsprozess im Jahre 1990 wurde in einer
für das In- und Ausland atemberaubenden Geschwindigkeit
vorangetrieben. Die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs
haben sich dem Sog des Vereinigungsstrebens in Deutschland nicht
widersetzt. Mit ihrem Votum signalisierten sie Vertrauen in die
Zukunft Deutschlands.
In Bonn und Ost-Berlin wurde der Einigungsprozess als
Gestaltungsaufgabe begriffen, die sehr viel weiter reicht als nur
bis vor die eigene Haustür, die sehr viel mehr umfasst, als
nur die eigenen, innerstaatlichen Probleme: Das Einigungswerk
verlangte nach einer europäischen Perspektive, nach einer
Einbindung in den Prozess der europäischen Integration. Der
Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
DDR, der am 20. September 1990 in den Parlamenten ratifiziert
wurde, griff diese Perspektive verbindlich auf.
Die Deutsche Einheit, so hieß es in der Präambel des
Vertrags, werde vollendet im Bestreben, "einen Beitrag zur Einigung
Europas und zum Ausbau einer europäischen Friedensordnung zu
leisten, in der Grenzen nicht mehr trennen und die allen
europäischen Völkern ein vertrauensvolles Zusammenleben
gewährleistet". Mit anderen Worten: Deutsche Einheit und
europäischer Integrationsprozess - das waren und sind zwei
Seiten einer Medaille.
Gleichwohl waren im Vorfeld des Vereinigungsprozesses manche
unserer Nachbarn auch skeptisch. Mit Blick auf die europäische
Geschichte fragten sie sich, ob das vereinte Deutschland den
Kontinent dauerhaft stärken oder schwächen würde.
Die einen, die Franzosen, sorgten sich um die politische Balance,
um das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den zwei großen
Staaten Westeuropas. Und die anderen, unsere polnischen Nachbarn,
wollten endlich Gewissheit haben über den Bestand ihrer Grenze
im Westen.
All diese Sorgen wurden ernst genommen und ausgeräumt. 15
Jahre nach der deutschen Vereinigung ist unser Kontinent stabiler
und stärker als zuvor. Es gibt keine deutsche Frage mehr, die
uns oder unseren Nachbarn unter den Nägeln brennt. Wir pflegen
gute, belastbare Beziehungen zu allen europäischen Staaten,
insbesondere zu Frankreich und Polen. Und wir haben unsere neuen
Partner in Mittel- und Osteuropa sehr verlässlich auf ihrem
Weg in die NATO und in die Europäische Union begleitet. Wir
Deutsche werden nicht vergessen, dass ihr Einsatz für Freiheit
und Menschenrechte ganz entscheidend dazu beigetragen hat, die
deutsche Teilung, die Spaltung Europas und der Welt zu
überwinden. Ich freue mich deshalb darüber, dass das Land
Brandenburg und der Präsident des Bundesrates zum 15.
Jahrestag der Deutschen Einheit so viele Gäste aus den
europäischen Nachbarländern eingeladen haben. Sie sollen
zu Recht an unserer Freude teilhaben!
Mit der Osterweiterung der Europäischen Union im Mai letzten
Jahres verknüpften sich für die ostdeutschen Länder
Hoffnungen auf neue Märkte, auf neue Formen der
wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Keine Frage: Die geografische
Nähe zu diesen EU-Partnern eröffnet Chancen und zwingt
dazu, die eigenen Ressourcen und Potentiale stärker gerade in
diese Richtung zu entwickeln.
Zwei Erfahrungsvorsprünge gegenüber dem Westen
können die Ostdeutschen einbringen: Zum einen ihre Erfahrungen
aus dem fünfzehnjährigen Umbruch- und Reformprozess in
Ostdeutschland, der ja nicht zuletzt auch
mentalitätsprägend war, Aufgeschlossenheit und
Flexibilität förderte. Und zum anderen natürlich
ihre wirtschaftlichen und kulturellen Erfahrungen mit
osteuropäischen Partnern, etwa in Polen, Tschechien, der
Slowakei, Ungarn, den baltischen Staaten.
Es gibt offenbar viele Berührungspunkte auf beiden Seiten.
Doch ich frage mich: Wie gut sind die ostdeutschen Länder auf
diese Kooperation, auf diesen Wettbewerb mit den neuen EU-Partnern
vorbereitet? Welche wirtschaftlichen Potentiale haben wir heute in
Ostdeutschland? Letztlich: Wo stehen wir beim Aufbau Ost, was sind
die Perspektiven?
Entgegen früheren Vorstellungen oder Hoffnungen wissen wir,
dass wir nach 15 Jahren Aufbauarbeit erst (schon?) die Mitte des
Weges erreicht haben. Wir haben eingesehen, dass die von der
Verfassung vorgeschriebene Angleichung der Lebensverhältnisse
in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert,
als wir es uns 1990 erhofft oder manchmal auch eingeredet
haben.
Gegen alle Schwarzmalerei: Es ist sehr viel erreicht worden. Der
Osten ist kein Jammertal und auch kein Milliardengrab. Die Lage zu
beschreiben, bedarf es gehöriger Differenzierung. Denn es gibt
beides: Es gibt beachtliche Erfolge, etwa bei der Sanierung der in
der DDR vom Zerfall bedrohten Städte, bei der Modernisierung
des Kommunikationsnetzes oder der Straßen. Und es gibt eine
Reihe wettbewerbsfähiger Unternehmen - darunter einige
traditionsreiche und viele neue.
Doch ein selbst tragender Aufschwung - der ist weiterhin nicht in
Sicht. Vor allem die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist dramatisch.
Die Arbeitslosenquote ist nach 15 Jahren Einheit im Schnitt mit
18,4 Prozent noch immer fast doppelt so hoch wie im Westen. Im
Baugewerbe, das zu Hochzeiten in den neuen Ländern über
800.000 Menschen beschäftigte, gingen seit 1996 rund 400.000
Arbeitsplätze verloren. Ein schmerzhafter Einbruch, den auch
das starke Wachstum im verarbeitenden Gewerbe nicht ausgleichen
konnte, obwohl dieses Wachstum im Jahr 2004 mit 8,8 Prozent sogar
doppelt so hoch war wie im Westen.
Aber aus Fehlentwicklungen, Rückschlägen, sich
ändernden Bedingungen kann man bekanntlich lernen. Es ist eine
gute politische Richtungsentscheidung, bei der Vergabe
öffentlicher Gelder die Gießkanne künftig im
Schuppen zu lassen und vielmehr das zu fördern, was mittel-
und langfristig trägt und was Beschäftigungszuwachs
verspricht. Diese Neujustierung der Förderpolitik belegt
einmal mehr, dass Veränderung im Kopf beginnt: Der Aufbau Ost
ist ein nach vorne offener und sehr dynamischer Lernprozess - in
allen Bereichen und für alle Beteiligte.
Der Osten übrigens, das sollten wir anerkennen, ist nicht mehr
über einen Kamm zu scheren. Wir haben immer mehr
Leuchttürme, Wachstumskerne und Regionen, die sehr deutlich
auf einem erfolgreichen Weg sind und den Lebensverhältnissen
in den alten Ländern nahe kommen. Diese leistungsfähigen
Zentren mit zukunftsträchtigen Industrien um Leipzig, Dresden,
Eisenach, Jena und Potsdam, um das Chemie-Dreieck und die Werften
im Norden sind zugleich Ausgangspunkte für das wirtschaftliche
Erstarken ganzer Regionen. Ostdeutschland hat allein als
Industriestandort traditioneller Art keine Zukunft, sondern nur als
Forschungs-, Bildungs- und Innovationsstandort. Es ist eine Frage
der Prioritätensetzung, ob wir die Gelder in die immer bessere
Asphaltierung neuer Straßen stecken, oder ob wir massiv
Wissen, Bildung, Forschung fördern. Letzteres ist langfristig
allemal sinnvoller.
Wenn ich höre, dass vor vier Wochen in Prenzlau, also im
Norden Brandenburgs, Deutschlands größte
Produktionsstätte für Solarmodule in Betrieb gegangen
ist, dann verstehe ich das als ein hoffnungsvolles Signal für
die gesamte Region. Zumal es sich hier nicht nur um eine
zukunftsorientierte Technologie handelt, sondern auch um eine sehr
erfolgreiche Firma: Sie hat innerhalb von nur drei Jahren ihre
Kapazität verdreifacht und arbeitet inzwischen im
Dreischichtbetrieb.
Natürlich hat die veränderte Förderpolitik auch eine
Kehrseite: Wenn die Mittel jetzt in die Erfolg versprechenden
Zentren fließen, heißt das doch auch, dass künftig
anderen Regionen weniger Geld zur Verfügung steht. Das ist
nicht schön, sicher, aber es ist notwendig. Gleichwohl
dürfen wir die Randregionen nicht vergessen. Wir müssen
den Menschen, die dort leben, erklären, was ihre Chancen sind
und warum auch sie vom Erstarken der Zentren profitieren werden -
nicht sofort, aber doch absehbar. Und wir müssen sie
ermuntern, selbst aktiv zu werden, ihre Stärken und
Kompetenzen vor Ort zu bündeln, Partner zu suchen,
Kooperationen aufzubauen - auch über die eigenen Stadt- und
Landesgrenzen hinweg. Zu viel Kreativität ist verkümmert
in Zeiten der Alimentierung oder bei dem Versuch, jeweils nur zu
kopieren, was im Westen funktioniert.
Chancenlos sind die neuen Länder jedenfalls nicht. Mit dem
Solidarpakt II haben sie bis 2019 eine solide Finanzierungs- und
Planungssicherheit. Diese Leistungen bilden einen
verlässlichen Rahmen für die weitere Entwicklung, ein
stabiles Fundament.
Aber Zukunftsgestaltung darf eben nicht nur im Rahmen von
Förderprogrammen diskutiert werden. Die eigene Phantasie
bleibt gefragt. Interessante Perspektiven bietet vor allem die
EU-Osterweiterung. Durch diese sind die ostdeutschen Länder
aus der europäischen Randlage in eine Mittellage gekommen, die
wir zu einer "europäischen Verbindungsregion" ausgestalten
müssen. Das bedarf großer Anstrengungen, etwa in der
regionalen und überregionalen Verkehrs- und Raumplanung und in
der Förderung von Waren und Dienstleistungen, die ihre Kunden
und Märkte in der grenzüberschreitenden Arbeitsteilung
suchen. Notwendig ist, Entwicklungspotentiale auszuloten und
auszubauen, das in den neuen Ländern brach liegende
Osteuropa-Knowhow zu reaktivieren und Fachkräfte gezielt
für künftige Kooperationen auszubilden. Denn überall
entlang unserer Ostgrenze entstehen neue Märkte, die auch
für ostdeutsche Produzenten wichtig sind. Werden diese Chancen
nicht genutzt, werden die neuen Länder bestenfalls Transitland
bleiben - und nicht eine Verbindungsregion im Zentrum der
Europäischen Union.
Natürlich weiß ich, dass viele der Europäischen
Union gegenüber skeptisch gestimmt sind, weil sie diese als
sehr nüchtern und schwer durchschaubar erleben. Glaubt man
einer Infratest-Umfrage aus Anlass des ersten Jahrestages der
EU-Osterweiterung (vom Mai 2005), dann befürchten knapp 37
Prozent der Deutschen einen beschleunigten Abbau von
Arbeitsplätzen zugunsten der neuen EU-Länder. Diese
Furcht ist alarmierend und lässt wenig Raum, auch die vielen
positiven Entwicklungen gebührend wahrzunehmen: Schon nach
einem Jahr Ost-Erweiterung zeigt sich, dass die neuen Märkte
wachsen. Der Export deutscher Produkte in die neuen
Mitgliedsländer erreicht inzwischen das Volumen der Ausfuhr in
die USA, was sich wiederum günstig auf die Schaffung neuer
Arbeitsplätze in Deutschland auswirkt. Der wirtschaftliche
Austausch, die Handelsbeziehungen aber auch die kulturellen
Kontakte waren noch nie in der Geschichte so intensiv wie
heute.
Dennoch: Die verbreiteten Sorgen vor der Europäischen Union,
einer zu geringen öffentlichen Wahrnehmung, müssen wir
ernst nehmen. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern
sagen, dass die Zukunft Deutschlands untrennbar mit Europa
verbunden ist. Die Europäische Union ist von ihren
Anfängen her und bis heute vor allem ein unerhörtes
Friedenswerk gewesen und bleibt es! Wir müssen für die
Vernunft, für die Rationalität dieser Union werben: dass
wir angesichts des immer härter werdenden internationalen
Wettbewerbs nur gemeinsam Freiheit sichern, nur gemeinsam Wohlstand
bewahren und nur gemeinsam die Umwelt schützen
können.
Deshalb auch muss es uns gelingen, aus der Europäischen Union
eine wirkliche soziale Gemeinschaft zu machen. Sonst werden die
Menschen dauerhaft Angst vor ihr haben. Denn es war doch die Angst
vor einem unsozialen Europa, die eine Mehrheit der Franzosen und
Niederländer veranlasst hat, gegen den Verfassungsvertrag zu
stimmen. Sie haben Europa als einen Raum der immer brutaler
werdenden Konkurrenz wahrgenommen, in dem sie durch ungebremstes
Lohn- und Sozialdumping bedroht werden. Diese Angst gibt es auch in
Deutschland und deshalb ist es richtig, wenn wir mit der
Erweiterung des Entsendegesetzes dafür sorgen, dass derjenige,
der aus anderen Ländern Dienstleistungen in Deutschland
anbietet, das zu den Bedingungen tun muss, die hier herrschen.
Diese Entscheidung ist zukunftsweisend, denn das vereinte Europa
muss für mehr stehen als für Gewerbefreiheit und
Wettbewerb. Es macht keinen Sinn, wenn die Europäische Union
für die fortwährende Verschärfung des Wettbewerbs
zuständig ist und die nationalen Regierungen die soziale
Abfederung organisieren müssen.
Doch auf der anderen Seite ist nötig, besser aufeinander zu
hören, was die Interessen des Anderen sind, was die
Länder Osteuropas für Ziele und Hoffnungen mit ihrer Art
von Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik erreichen wollen. Das
müssen wir zur Kenntnis nehmen, wie auch umgekehrt die
Interessen und Ziele, die Politiken Deutschlands, Frankreichs,
Spaniens oder anderer westeuropäischer Länder auf
wirkliches Verständnis in Osteuropa hoffen. Deshalb war es ja
auch so ermutigend und beeindruckend, dass bei den
EU-Finanzverhandlungen die osteuropäischen Länder bereit
waren zu einem ganz ungewöhnlichen und gemeinsamen Schritt:
Für den Preis einer Einigung mit allen Partnern schlugen sie
für sich selbst - trotz großen Nachholbedarfs - vor, auf
zugesagte erhebliche finanzielle Mittel zu verzichten. Wann hat es
das schon gegeben in der EU!
Das zeigte einmal mehr, wie ernst es den mittel- und
osteuropäischen Ländern mit Europa ist, wie sehr sie
seinen, unseren gemeinsamen europäischen Erfolg wollen. Und
zugleich lehrt es uns, wie wichtig es ist, Verständnis
für den jeweils anderen Partner in Europa zu entwickeln,
über gemeinsame und verschiedene Interessen und Ziele,
über unsere Probleme und Ängste offen miteinander zu
diskutieren. Nur so lässt sich der Gemeinschaftssinn der EU
dauerhaft vertiefen, sind wir in der Lage weitere Schritte der
Integration zu gehen, um den Sorgen der Bürger vor der
Globalisierung begegnen zu können und gemeinsam für die
Bewahrung und Erneuerung der größten Kulturleistung
unseres Kontinents, das europäische Sozialstaatsmodell, zu
arbeiten.
Wir haben allen Grund diesen Sozialstaat als unsere
größte europäische Kulturleistung zu verteidigen.
Er unterscheidet unseren Kontinent mehr als alles andere von den
anderen Kontinenten, er trägt die Werte, die die
"europäische Lebensform" ausmachen. Die soziale Einhegung der
freien Marktwirtschaft hat wesentlich zum Erfolg der
europäischen Demokratien und zur Sicherung des sozialen
Friedens beigetragen.
Die deutsche Einheit sollte die europäische Einigung
befördern. Das war der einmütige Wunsch vor 15 Jahren,
sowohl der frei gewählten Volkskammer wie des Bundestages, so
stand es im Einigungsvertrag. Das gilt auch heute. Wir haben nicht
zuletzt aus den Erfahrungen des glücklichen, aber auch
schwierigen Prozesses der Deutschen Einheit allerdings gelernt: Es
ist eine Sache, Verträge über Gemeinschaften
abzuschließen, eine gemeinsame Währung zu schaffen und
Wirtschaftsunternehmen zusammenzuschließen. Es ist aber eine
andere, wahrlich nicht weniger wichtige Sache für das zu
sorgen, was wir uns angewöhnt haben, die "innere Einheit", die
gesellschaftliche Einheit zu nennen. In Deutschland sind wir auf
dem Weg zu diesem Ziel ein beträchtliches Stück
vorangekommen, trotz aller ökonomischen und sozialen
Differenzen im Lande, davon bin ich überzeugt. Wir werden auch
in Europa weiter vorankommen, wenn wir begreifen, dass Europa mehr
ist und mehr sein muss als ein gemeinsamer Wirtschafts-Raum. Seit
Herodot nämlich ist Europa immer auch und vor allem ein
Kulturbegriff gewesen, die Bezeichnung für einen gemeinsamen
Geist, für eine Wertegemeinschaft, für einen Raum der
Verständigung und des Verstehens. Dem bleiben wir Deutschen,
in der Mitte des Kontinent lebend, verpflichtet - um unserer
nationalen Einheit willen, die wir vor 15 Jahren auf so
friedlich-glückliche Weise wiedererlangt haben!
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