Friedhelm Wolski-Prenger
Woran krankt eigentlich die globalisierte
Ökonomie?
Zur Psychologie des Kapitalismus
Psychische Voraussetzungen und Folgen der
weltweiten Wirtschaftsentwicklung sind Gegenstand zweier
lesenswerter Untersuchungen, die sich im Titel jeweils einer
wertenden Attributierung des "Kapitalismus" bedienen, des "Turbo"-
oder des "Raubtier"-Kapitalismus. Als Kapitalismus wird jeweils
eine Wirtschaftsordnung verstanden, in der das wesentliche Motiv
für ökonomisches Handeln die maximalen Gewinn bringende
Anlage von Kapital ist.
Im Zentrum des Interesses des Coburger
Philologen Fritz Reheis steht die menschliche Zeiterfahrung, die er
durch Okkupation des "Turbokapitalismus" gefährdet sieht. Der
fortschreitenden Beschleunigung immer weiterer Lebensbereiche durch
die Wirtschaft setzt er die Forderung nach "Entschleunigung"
entgegen. Das populär verfasste und an einen breiten
Leserkreis adressierte Buch ist in drei Teile gegliedert.
Zunächst geht Reheis überzeugend den weithin bekannten,
vielfach durchlittenen Symptomen erschöpfender Hetze in
Arbeitswelt und Privatleben nach.
Im zweiten, etwas theoretischer gehaltenen
Teil "Diagnose und Entstehungsgeschichte" wird die Beschleunigung
aus Sicht unterschiedlichster Disziplinen erklärt. Neben
biologischen Dispositionen sieht Reheis vor allem die Hierarchie
der Märkte als Zeitdiebe. Die Märkte für Güter,
Arbeit oder Ressourcen würden von den globalisierten
Finanzmärkten mit ihren auf Sekunden geschrumpften
weitreichenden Entscheidungen unter radikalen Zeitdruck
gezwungen.
Suche nach dem Königsweg
Schwächer wird das Buch im dritten Teil,
der "Therapie". "Slow food"-Bewegungen, individuelle
Verhaltensänderungen oder auch Globalisierungskritiker wie
"attac" werden kaum hinreichen, um sich gegen die mächtigen
Beschleunigungsinteressen durchzusetzen. Wenn auch ein
Königsweg zu menschlicherem Tempo kaum von einem Autor allein
erwartet werden kann, hätte das Buch hier durch etwas mehr
Realismus gewinnen können.
Altbundeskanzler Helmut Schmidt, gewiss nicht
als grundsätzlicher Kritiker des Kapitalismus bekannt,
bezeichnete 1998 in seinen "Düsseldorfer Vorlesungen" zur
ökonomischen Globalisierung die Auswüchse des
"shareholder value" als "Raubtierkapitalismus". Peter Jüngst,
Sozialgeograph von der Universität Kassel, greift diese
Metapher in seiner Psychopathologie des auf globale Dominanz
zielenden US-amerikanischen spekulativen Kapitalismus
auf.
Raubtieren und den Besitzern von
Finanzkapital sei "Gier" als wesentlicher Antrieb gemeinsam.
Jüngst zeichnet psychohistorisch nach, wie Gier derart
wirkungsmächtig werden konnte, dass Michal Müller,
Vizevorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, kürzlich einen
nicht erklärten Wirtschaftskrieg zwischen den USA und Europa
ausmachte.
Ausgehend von der Krise des "klassischen"
fordistischen Kapitalismus, also der vornehmlich industriellen
Kapitalverwertung, informiert Jüngst auf der Basis einer
soliden Einführung in das sozialpsychologische Instrumentarium
über psychologische Erklärungen pathologischer
wirtschaftspolitischer Strategien.
Von den USA aus verbreite sich die "flexible
Kapital-akkumulation", deren Durchsetzung durch den Wegfall der
Systemkonkurrenz mit Zusammenbruch des Realsozialismus
begünstigt worden sei. Diese durch spezifisch amerikanische
psychische Dispositionen induzierte Phase des Kapitalismus
führe zur psychischen Labilisierung der Individuen und zur
Auflösung gesellschaftlicher Kompromisse, die den
Industriekapitalismus prägten: "Auf dem Hintergrund
zunehmender Schwächung bisheriger psychosozialer
Kompromissbildungen und Über-Ich-Positionen wurde ,Gier' als
eine Mischung ?desublimierter' Libido, aber auch Aggressivität
freigesetzt."
Die freigesetzte "Gier" wirke - ausgehend von
den Aktienbesitzern - direkt oder vermittelt auf die
Entscheidungsträger der Unternehmen (Manager) und führe
bei diesen zu einem Gemisch interdependenter psychischer
Befindlichkeiten aus erzwungener Identifikation mit den
Anteilseignern, aktivierten Ängsten, Aggressivität,
narzisstischer Explosion und eigener Gier. Sich häufende
kriminelle Handlungen von Managern nicht nur in den USA (Enron)
belegen diese Sichtweise.
Die resultierenden Konzernstrategien
(aktuelles, Jüngst noch nicht bekanntes Beispiel: General
Motors/Opel-Saab), die eher auf kurzfristige Rendite als auf
langfristigen Unternehmenserfolg zielen, hätten weitere
psychosoziale Labilisierungen zur Folge. Verfolgt würden im
Resultat Ausgrenzungsstrategien gegen Teile der eigenen Belegschaft
oder Feinderklärungen gegenüber Wettbewerbern, die
"kannibalisiert" (zerstört oder einverleibt)
würden.
Letzteres sei nicht selten objektiv sogar
gegen die ökonomischen Interessen der Handelnden gerichtet und
offenbare dadurch die partielle Pathologie wirtschaftlichen
Handelns. Der ständige Zwang zu steigenden Kapitalrenditen
intensiviere diese Prozesse, die Jüngst zusammenfassend
paranoid-schizoiden Verhaltens- und Denkweisen zuordnet.
Folgen für die Zukunft
Je widerstandsloser sich der
"Raubtierkapitalismus" weltweit durchsetze, desto stärker
würden seine Auswirkungen auf die Sozialisation nachwachsender
Generationen. Eine ungesteuerte Sozialisation hin zu
individualistischem aggressiven Verhalten werde, so prognostiziert
Jüngst nicht zuletzt mit Blick auf die USA, nicht ohne Folgen
für die demokratischen Institutionen, den sozialen
Zusammenhalt wie auch für die Ökonomie bleiben. Für
die Individuen bedeute die grenzenlose Durchsetzung flexibler
Kapitalakkumulation wachsende Abhängigkeiten von
Fremdsteuerungen.
Potenziert würden die auch im "Norden"
spürbaren negativen Konsequenzen vor allem in den
"Entwicklungsländern". Die in den letzten Jahren, etwa mit dem
Irak-Krieg oder auch durch den Zusammenbruch des
niederländischen Toleranz-Modells der Koexistenz
unterschiedlicher Kulturen deutlich werdenden Kontroversen zwischen
islamischen und "westlichen" Tradtionen interpretiert Jüngst
als beiderseitigen aggressiven Narzissmus.
Der Autor neigt nicht zur Entwicklung
weitreichender Gegenkonzepte. Vielmehr sieht er als einen wichtigen
Schritt zur Re-Humanisierung der Ökonomie die Aufdeckung
"krankhafter Komponenten der Wirtschaft". Daher sei eine umfassende
Bildung jenseits unmittelbar verwertbarer "Qualifikationen" zu
fordern, um den beschriebenen negativen sozialisatorischen
Tendenzen zu begegnen. Soviel Zeit, das meint auch Fritz Reheis,
müsse die Gesllschaft sich lassen.
Peter Jüngst
Raubtierkapitalismus?
Globalisierung, psychosoziale
Destabilisierung und territtoriale Konflikte.
Psychosozial- Verlag, Gießen 2004; 262
S., 24,90 Euro
Fritz Reheis
Entschleunigung.
Abschied vom Turbokapitalismus.
Riemann Verlag München 2003; 319 S.,
20,- Euro
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