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Marleen Stoessel
Jeder bleibt mit der Trauer allein
Deutsche, Tschechen und Polen erinnern sich an
das Verlorene
Von Pfarrer Oberlin, der uns in Büchners Erzählung
"Lenz" begegnet, wird berichtet, dass er einen Streit zwischen
Eheleuten schlichtete, indem er ein Faltbild zwischen ihnen
aufstellte, das aus der Sicht der einen Seite einen Vogel, aus der
der anderen eine Blume zeigte. Die jeweils daneben posierten
Eheleute sahen in demselben Bild das je Verschiedene und beim
Wechsel ihrer Position das jeweilige Bild des anderen... Paradigma
für einen "Perspektivenwechsel", den es nicht nur für
unsere Sicht auf den anderen, Ehegatten oder Fremden, sondern auch
für das Verhältnis zu unseren Erinnerungen, den eigenen
wie den fremden, fruchtbar zu machen gilt. So Peter Becher, der
Leiter des Adalbert Stifter Vereins, anlässlich einer
Genshagener Tagung in seinem kurzen Vortrag über die
Unterschiedlichkeit und Relativität der Erinnerungen von
Sudetendeutschen und Tschechen an Kriegsverbrechen, Vertreibung und
über die Verdrängung jeweiliger Schuld.
Unter dem Titel "Erinnerung an das Verlorene" traf man sich, wie
üblich in Genshagen, zu trilateralem, polnische und
französische Referenten einschließendem Gespräch,
mit Rudolph von Thadden als Gastgeber. Der
melancholisch-nostalgische Titel der Tagung bedurfte immer wieder
der Klärung: das "Verlorene" als materieller Verlust,
womöglich "Zerstörtes", oder/und als etwas immateriell
Vergangenes, das unser Gedächtnis bewahrt - vor allem aber die
unterschiedliche Bedeutung, die wir individuell und je nach
Herkunft ihm geben.
Der einleitende, weitgespannte Vortrag des in Göttingen
lehrenden Historikers Otto Gerhard Oexle zeichnete, dem
Ägyptologen Jan Assmann folgend, die Differenz zwischen
kulturellem und kommunikativem Gedächtnis nach: als tradiertes
Gedächtnis einerseits, und als ständig im lebendigen
Kontakt der Menschen sich entwickelndes und erneuerndes
Gedächtnis andererseits - um am Ende noch mal die eigene
Position zu umreißen: Das Selbst des Historikers sei
konstitutiv für die wissenschaftliche Erkenntnis. In der
Interferenz von Ereignis- und Gedächtnisgeschichte finden wir
die Vergangenheit nicht, "wie sie eigentlich gewesen ist" (Ranke),
sondern wie sie erinnert wird, also auch die Bedeutung, die wir aus
je verschiedener Perspektive Daten wie dem 17. Juni, dem 9.
November oder auch dem Warschauer Aufstand von 1944 geben. Oder,
wie der Warschauer Publizist Adam Krzeminski später in seinem
Referat vermerken wird: Es sei zu untersuchen, weniger wie es war,
als vielmehr, wie die Erinnerung an solche Ereignisse "manipuliert"
wurde - nichts weniger als eine "Generalrevision der diversen
nationalen Mythen" also.
Einen Ansatz zu solcher Revision vermochten die Beiträge
der Tagung auf verschiedenen Ebenen immerhin zu geben. In einem
brillanten Vortrag zeichnete
Jean-Jaques Jordi, Leiter einer in Marseille entstehenden
Gedenkstätte für die überseeischen Franzosen
(Mémorial National de la France d'Outre Mer) die Mythen
über die Algerien-Franzosen, die "pieds-noirs" nach - Mythen,
die bis in die Entstehungsgeschichte des Memorials nachwirken, das
sich einer Idee Mittérands von 1983 verdankt und nicht zuletzt
die Erinnerung an die Repatriierung der "pieds-noirs" nach der
Unabhängigkeit 1962 glorifizieren sollte. Diese
Rückführung sei jedoch in Wahrheit eine Katastrophe
gewesen, das Verhältnis der französisch (gewordenen)
Bevölkerung zu Arabern und Mohammedanern sei schon seit den
Zeiten der Kolonisierung problematisch gewesen. Umgekehrt seien bis
1962 die verklärten, von Generation zu Generation
weitergegebenen, aber auch sich ändernden Erinnerungen der
"pieds-noirs" in Frankreich hindernd gewesen für jegliche
Integration. Sein Fazit, das Jordi aus zahlreichen Interviews zur
Frage der Identität zog: "Wurzeln" sind eine "intellektuelle
Konstruktion", es gebe sie nicht, gerade der Mittelmeerraum, dem er
selber entstammt, mache eine Vielfalt der Wurzeln sichtbar, weshalb
die Algerier sich zu der in seinen Augen wiederum
übertriebenen Meinung verstiegen: Wir sind die ersten
Europäer, weil wir diese Mischungen sind! Wie übertrieben
auch - ein Wort, ein wohltönender Ruf in unser
identitätssüchtiges Ohr!
Aus alledem folgt: Muster und Praktiken von Erinnerung und
Geschehen, bis zu ihren politischen Vereinnahmungen, Entstellungen
und Entschädigungsansprüchen, gleichen sich, ohne dass
man mit solcher Einsicht einem falschen Relativismus verfallen
müsste. Die "Befreiung", die der als Kind aus Breslau nach
Warschau vertriebene Adam Krzeminski empfand, war nichts anderes
als Widerhall eines derart in Frage gestellten Wurzel- und
Identitätsanspruchs, dem die Erzählungen von den
multiethnischen östlichen Randbezirken Polens, den "kresy"
(darüber Werner Benecke, Göttingen) oder die nicht
unkomischen Kindheitserinnerungen des tschechischen Exbotschafters
Frantisek Cerny ihrerseits entsprachen, im guten wie im
schmerzhaften Sinn.
Gegenständliche Erinnerung
Wie Erinnerung als Rekonstruktion gegenständlich wird,
zeigte anderntags die Denkmalschützerin Gaby
Dolff-Bonekämper in ihrem Vortrag über die "historisch
genaue" Wiederherstellung des Goethehauses in Frankfurt, des
Rathauses in Münster sowie der berühmten, im Krieg
völlig zerstörten Stadt St. Malo in der Bretagne. Unter
dem Generaltitel "Krieg - Zerstörung - Wiederaufbau- stellte
die TU-Professorin zwar präzise, aber erstaunlich zweifelsfrei
die in ihren Augen gelungene Rekonstruktion dieser Stätten und
Orte dar, die Verwendung der neuen Baumaterialien wie Beton im
(scheinbar) alten Gefüge (Fachwerk), ohne doch in der
äußerlich getreuen Kopie bis zum Knarzen von Dielen eine
historische Fälschung, zumindest das Paradox einer falschen
Echtheit zu erkennen. Dem Einwand Jordis, dass das Goethehaus eine
"geniale Fälschung" sein mag, aber doch eine Fälschung
bleibe, indem jeder Hinweis auf den menschlichen Wahnsinn, die
Barbarei fehle, der man mit anderen
architektonisch-ästhetischen Mitteln begegnen müsse,
entgegnete sie mit dem Hinweis auf die Bedürfnisse der
Menschen, die verständlicherweise nicht mit Ruinen leben
wollten. Vielmehr, so ihr affirmatives Fazit, der Ersatzbau werde
zum Original und so Bestandteil wieder des kulturellen
Gedächtnisses - mit anderen, doch nicht mit ihren Worten:
Verfälschung der Erinnerung.
Ganz anders ihre Nachrednerin, die Direktorin des Jüdischen
Museums in Paris, Laurence Sigal. Mit leiser Eindringlichkeit
erzählte sie eine Anekdote von dem aus Czernowitz stammenden
Schriftsteller Aharon Appelfeld. Der, befragt, ob er seinen
Heimatort einmal wieder besucht hätte, antwortete: Ja, aber er
habe ihn dort nicht mehr gefunden, sehr wohl aber einmal an einer
bestimmten Ecke in Jerusalem... Dies, wie Laurence Sigal weiter
ausführte, die exemplarische Frage des jüdischen
Verhältnisses zu Erinnerung und Gedenken, zum Paradox der
"Anwesenheit des Abwesenden". Oder anders, die Frage, wie
Verschwinden und Vergehen vereinbar seien mit Erinnerung, wie also
das Abwesende - entsprechend dem unsichtbaren Gott - anwesend sein
kann? Da es im Judentum wiederum nichts gäbe, was ein für
allemal verschwindet, sei Erinnerung im Judentum immer lebendig in
Überlieferung und Erzählung, im Aussprechen, im Gebet.
Ritual und Form des jüdischen Gedächtnisses seien das
Gegenteil von einem Denkmal in seiner Sichtbarkeit und
Gegenständlichkeit: Jedes Denkmal, so ihr Resümé,
töte das Gedächtnis, jüdische Museen seien also
Museen des Verschwindens...
Den Spuren des Verschwindens als Spuren eines Zerstörten
folgte auch die Bremer Religionswissenschaftlerin Sabine Offe in
ihrem sensiblen Kommentar zu einer kleinen Foto-Ausstellung, die im
Treppenhaus des Schlosses von Genshagen zu besichtigen war:
Aufnahmen, die der Stadtgeschichtler Ulrich Knufinke von Orten
machte, wo einstmals Synagogen gestanden hatten - heute mehr oder
weniger banale Plätze, Häuser, Läden, wo (fast)
nichts mehr an die ehemaligen Stätten erinnert. Ohne den
Kontext, ohne dieses Wissen bliebe das Abwesende endgültig
zerstört, für die Erinnerung endgültig verloren.
Auch hier Kritik an aller Erinnerung, allem Gedenken, welches sich
als eindimensionale Deutungsmacht selbst ermächtigt, die
Geschichte zugunsten der eigenen Interessen umlügt und
fälscht, die Opfer noch einmal erniedrigt.
Dass, wie Jordi konstatierte, es nur viele Erinnerungen gibt, so
viele wie einzelne Menschen sind, dass jede einseitig okkupierte
Erinnerung eine Fälschung sei, wurde nicht zuletzt erfahrbar
in all den vielen Einzel-Erzählungen, zu denen Thadden am Ende
noch einmal aufrief: zum Nachdenken über die Frage, was man
persönlich seit oder nach dem Krieg als Verlust empfinde. Wie
indes solches Wort nicht mehr nur relativ, sondern schlicht
hinfällig wird und jegliche Legitimationskraft verliert, wurde
am bewegendsten von Adolf Juzwenko vor Augen geführt.
Juzwenko, Leiter des altehrwürdigen Ossilineums - Bibliothek
und polnisches Nationalarchiv in Breslau - wurde 1939 als Kind
polnisch-ukrainischer Eltern geboren: Die Söhne wurden
polnisch wie der Vater, die Töchter ukrainisch wie die Mutter,
so die Regel. Der Konflikt ging also "mitten durchs Bett". Für
ihn gibt es keinen Verlust, weil der Krieg mit Verfolgung,
wechselnder Okkupation, Abschlachten, Bränden und Gewalt eine
einzige Hölle war, die Furcht vor den Russen nach dem
Hitler-Stalin-Pakt noch größer als die vor den
Deutschen.
Bleibt jeder mit seiner Erinnerung, seiner Trauer allein, wie
der Künstler Jochen Gerz es am bekannten Beispiel seines
allmählich in den Boden gesunkenen Holocaust-Mahnmals in
Hamburg erläuterte, so gelang es Hausherr von Thadden, noch
bevor Juzwenkos erschütternder Bericht den ins Schweigen
mündenden Schlusspunkt setzte, an einer eigenen Erfahrung die
Verarbeitung von Verlust und Trauer sichtbar zu machen.
Was, so Thaddens Überzeugung, wissenschaftliche
Untersuchung nicht zu leisten vermag, das könne indessen
allein das Einander-Erzählen, die solidarische Aktion und
Kommunikation. Auf seine Initiative hin, und mit Hilfe vieler, vor
allem polnischer Beteiligten, gelang es ihm, in seinem
ostpommerschen Heimatort den völlig verkommenen Friedhof
wiederherzurichten, die Grabsteine sowohl mit polnischen als auch
deutschen Inschriften zu versehen: Der einstmals deutsche Friedhof
wurde so auch ins polnische und damit gemeinsame Gedächtnis
aufgenommen - das Totengedenken auch hier der immer wieder neu zu
entdeckende Anfang jeglicher Kultur.
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