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Sabine Grüsser
Wenn die "Biochemie der Gefühle"
versagt
Lernprozesse spielen eine wichtige Rolle bei der
Entstehung einer Sucht
Missbrauch oder Abhängigkeit von
bewusstseinserweiternden Substanzen (Alkohol, Rauschdrogen und
Medikamente) stellen in der Bundesrepublik die größte
Gruppe psychischer Störungen dar. So schätzt die Deutsche
Hauptstelle gegen Suchtgefahren, dass derzeit etwa 1,6 Millionen
Deutsche alkoholabhängig sind und 2,7 Millionen Menschen den
Alkohol missbräuchlich konsumieren. Außerdem wird von
16,7 Millionen Rauchern und etwa 290.000 von illegalen Suchtmitteln
wie Heroin oder Kokain abhängigen Personen ausgegangen.
Der Missbrauch und der Weg in die
Abhängigkeit lassen sich nicht auf eine isolierte Ursache
zurückführen. Langjährige Untersuchungen mit
verschiedensten Ansätzen haben gezeigt, dass die Ursache von
süchtigem Verhalten durch unterschiedliche Faktoren und
Voraussetzungen geprägt ist. So können sich Faktoren, die
zum Einstieg in die Abhängigkeit führen, von denen des
fortgesetzten Konsums unterscheiden. Abgesehen von
soziostrukturellen, soziopolitischen und anthropologischen
Bedingungen, muss den genetischen, psychologischen und
neurobiologischen Faktoren bei der Entstehung und
Aufrecht-erhaltung von Abhängigkeit eine große Bedeutung
beigemessen werden.
Seit 1965 entspricht die Sucht-Definition der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) einer Klassifikation nach den
verschiedenen Formen der Abhängigkeit. Hierbei werden mehrere
Typen nach der spezifischen Konsumform von psychoaktiven Stoffen
unterschieden (zum Beispiel: Morhintyp, Alkoholtyp, Kokaintyp,
Cannabistyp, Amphetamintyp). Wie die rasante Zunahme des
Drogenmissbrauchs unter Jugendlichen zeigt, lassen sich solche
klaren Abgrenzungen in verschiedene, fest umrissene Typen nur noch
selten durchführen. Der "moderne" Drogenkonsument ist
häufig polytoxikoman, das heißt er konsumiert in
Mischformen nach Stimmungslage und Verfügbarkeit verschiedene
Substanzen gleichzeitig oder in kurzen Abständen. Eine
Einteilung der bewusstseinserweiternden Substanzen kann nach deren
Abhängigkeitspotential, psychischen und sozialen Auswirkungen
sowie nach der chemischen Zusammensetzung erfolgen.
Nach internationalen Klassifikationssystemen
wird Missbrauch einer bewusstseinserweiternden Substanz dann
diagnostiziert, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien
innerhalb eines Jahres erfüllt wird: Versagen beim
Erfüllen wichtiger Verpflichtungen (Arbeit, Schule, Familie)
aufgrund von Substanzkonsum; wiederholter Konsum in Situationen, in
denen es deswegen zu körperlicher Gefährdung kommen kann;
wiederholte Gesetzeskonflikte wegen Substanzkonsum; fortgesetzter
Konsum trotz ständiger sozialer oder zwischenmenschlicher
Probleme, die durch die Einnahme verstärkt werden sowie
gesundheitliche Folgeschäden. Um die Diagnose
"Abhängigkeit von psychotropen (bewusstseinserweiternden)
Substanzen" zu stellen, müssen mindestens drei der folgenden
Kriterien erfüllt sein: der starke Wunsch oder Zwang, solche
Stoffe zu konsumieren; eine verminderte Kontrollfähigkeit im
Umgang damit; Toleranzentwicklung, das heißt Dosissteigerung
um den gewünschten Effekt zu verspüren; ein
körperliches Entzugssyndrom; die Vernachlässigung
sozialer und beruflicher Aktivitäten und der
missbräuchliche Konsum, also einen anhaltenden Gebrauch trotz
Nachweis eindeutiger Schäden.
Zusammenfassend kann man sagen, dass folgende
Hauptmerkmale eine Abhängigkeit kennzeichnen: die psychische
Abhängigkeit (wiederholte Einnahme, um positiven Zustand zu
erreichen), die körperliche Abhängigkeit (Anpassung des
Stoffwechsels: Toleranz- und Entzugserscheinungen) sowie soziale
und gesundheitliche Auswirkungen (soziale Beziehungen,
Leistungsfähigkeit, Beschaffungskriminalität).
Charakteristisches Merkmal einer Abhängigkeit ist jedoch vor
allem eine eingeschränkte Kontrolle über das
Suchtverhalten, das trotz negativer Konsequenzen fortgesetzt
wird.
Abgesehen von den oben dargestellten, die
Abhängigkeit charakterisierenden Merkmalen, sind bei
Betroffenen, neben genetischen Veranlagungen, gehäuft mit der
Sucht zusammen auftretende Krankheiten, wie die Veränderungen
der Persönlichkeitsstruktur bis hin zu
Persönlichkeitsstörungen, Depressionen,
Angststörungen oder Schizophrenien zu beobachten, die
einerseits als prädisponierende Eigenschaften bereits
vorhanden und andererseits als Folgeerkrankungen des süchtigen
Verhaltens auftreten können.
Abhängigkeit ist ein über einen
längeren Zeitraum hinweg stabiles Phänomen, bei dem
Lernprozesse entscheidend sowohl zur Entstehung wie
Aufrechterhaltung beitragen. Eine besondere Rolle kommt dabei,
neben dem Lernen am Modell (Drogenkonsum der Eltern), weiteren
Lernprozessen zu, wie den klassisch und operant konditionierten
(erlernten) positiven Drogenerwartungen.
Das Modell der klassischen Konditionierung
hat maßgeblich dazu beigetragen, die Entstehung des
zwanghaften Drogenkonsums, aber auch die Mechanismen des
Rückfalls zu erklären. So können ursprünglich
neutrale Reize (die Umgebung bei der Drogeneinnahme, der Anblick
der Spritze, bestimmte Gefühlszustände oder Erinnerungen
an Konfliktsituationen) mit der Drogeneinnahme und Drogenwirkung
assoziiert werden und dann als erlernte (konditionierte) Reize
Drogenverlangen und -konsum auslösen. Als Beispiel sei hier
ein Raucher genannt: Der gefüllte Magen, eine Tasse Kaffee
oder ein Glas Wein und eine gegenübersitzende Person, die sich
eine Zigarette anzündet, lassen den Raucher oft zu seiner
eigenen Schachtel greifen.
Ein weiterer Lernprozess, die operante
Konditionierung, trägt ebenso entscheidend zur Entwicklung
einer Abhängigkeit bei. Nach dem Konsum der Droge wirkt der
angenehme Effekt (Euphorie) belohnend, also verstärkend
(positive Verstärkung) auf das Verhalten. Wenn durch die
Einnahme Entzugserscheinungen sowie unangenehme Gefühle
vermieden oder beseitigt werden, wirkt das ebenfalls
verstärkend (negative Verstärkung). Diese
Verstärkungsvorgänge tragen dazu bei, dass der Konsum von
Drogen wiederholt wird. Das "Hirn" lernt nun, dass dieses Verhalten
subjektiv guttuend ist. Durch die Wiederholung dieser Erfahrung
über mehrere Jahre verlernt das "Hirn", sich mittels anderer
Strategien zu belohnen. Somit steigt das Suchtverhalten in der
individuellen "Triebhierarchie" nach oben, das heißt, dieses
pathologische Verhalten wird über alle anderen
Verhaltensweisen gestellt, um insbesondere in Stresssituationen das
psychophysiologische Gleichgewicht (Homöostase) wieder
herzustellen. Das pathologische Verhalten hat nun die Funktion
einer inadäquaten, für den Betroffenen noch einzig
anwendbaren Strategie "sich zu belohnen" bekommen.
Ein lerntheoretische und neurobiologische
Befunde integrierender Ansatz wurde entwickelt, um die mit der
Suchtentstehung zusammenhängenden Mechanismen genauer zu
erklären. So wird postuliert, dass durch eine Sensitivierung
des verhaltensverstärkenden Systems, auch Belohnungssystem
genannt, eine erlernte Aufmerksamkeit gegenüber
drogenassoziierten Reizen ausgelöst wird. Dies zeigt sich dann
in einer erhöhten Aufmerksamkeit für drogenassoziierte
Stimuli. Drogenassoziierte Reize rufen demnach einen spezifischen
erlernten motivationalen Zustand hervor, der Drogenverlangen
auslöst und zu einer erneuten Drogeneinnahme führen kann.
Die assoziative Verbindung der Reizpräsentation mit dem
Verstärkersystem führt unter anderem zur Bildung eines
impliziten Gedächtnisses, das der bewussten Verarbeitung nicht
zugänglich ist, dem so genannten Drogengedächtnis. Diese
Gedächtnisbildung könnte dazu führen, dass auch nach
jahrelanger Abstinenz drogenassoziierte internale und externale
Reize zum überwältigenden Verlangen nach dem Suchtmittel
führen. Möglicherweise wirken verhaltenstherapeutische
Expositionstherapien, in denen das konditionierte Verlangen nach
Drogen habituiert, auf dieses neurobiologische
Verstärkungssystem ein. Auch die so genannten
Anti-Craving-Substanzen (Anti-Verlangens-Substanzen) wie Naltrexon
oder Dopaminantangonisten reduzieren möglicherweise die
Anreize drogenassoziierter Stimuli, indem sie indirekt oder direkt
die Dopaminfreisetzung im Belohnungssystem blockieren. Entscheidend
ist jedoch, neben der Identifizierung von Situationen und Reizen
die den Drogenkonsum motivieren, dass der Betroffene während
seiner Abstinenzzeit und im Rahmen seiner Therapie neue, ihn
belohnende Verhaltensweisen erlernt, um im Falle einer psychischen
Belastung seine "Biochemie der Gefühle" durch adäquate
Strategien wieder ins Gleichgewicht bringen zu
können.
Dr. Sabine Grüsser leitet die
Interdisziplinäre Suchtforschungsgruppe Berlin (ISFB) am
Institut für Medizinische Psychologie der
Charité.
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