Andrea Blätter
Rausch und Extase zwischen Normalität und
Ächtung
Schon immer und überall kannten und nutzten
Menschen bewusstseinserweiternde Substanzen
Aus den Ergebnissen transkultureller Untersuchungen, aus
geschichtlichen Dokumenten und aus archäologischen Funden
lässt sich entnehmen, dass psychotrope Substanzen in praktisch
allen Gesellschaften, sowohl in solchen mit einfachen Technologien
als auch in den komplexesten, bei gesellschaftlichen Anlässen
und zu Genusszwecken verwendet wurden, unabhängig von der
Epoche, der Religion oder der politischen Struktur.
Vor allem Alkohol, Tabak und Kaffee sind weltweit verbreitet.
Darüber hinaus haben viele andere Drogen große Bedeutung
in verschiedenen Kulturkreisen erlangt (zum Beispiel: Cannabis,
Opiate, Psychopharmaka). Andere Drogen sind nur in ihren
Ursprungsgebieten in Gebrauch und ihre Verbreitung ist regional
begrenzt (Kat, Betel, Kawa) beziehungsweise im Zuge von kulturellen
Kontakten und Unterwerfungen stark zurückgegangen (zum
Beispiel: Fliegenpilz, Bilsenkraut). Die Vielzahl der vorhandenen
Drogen und ihre unterschiedliche Verbreitung zeigen, dass heute in
allen Kulturen eine Drogenvielfalt herrscht und dass das
Drogenangebot nicht gleichmäßig genutzt wird, also nicht
alle in einer Kultur bekannten Drogen die gleiche
Attraktivität besitzen.
Die meisten der heute angebotenen Stoffe sind Importdrogen, denn
die weltweiten Kontakte und Handelsbeziehungen haben zu einem
verstärkten Austausch von Rauschmitteln geführt.
Deutlichstes Beispiel für die Verbreitung einer Importdroge
ist der Tabak. Bis zur Entdeckung Amerikas im Jahr 1492 durch
Kolumbus war Tabak als Pflanze nur auf diesem Kontinent verbreitet.
Anfang des 16. Jahrhunderts gelangte die Pflanze nach Spanien und
Portugal und verbreitete sich von dort aus schließlich
über ganz Europa und im 17. Jahrhundert in die ganze Welt, so
dass Tabak nun schon seit mehreren Jahrhunderten weltweit benutzt
wird.
Bemerkenswert ist insgesamt die außerordentliche
Diffusionsgeschwindigkeit von Rauschmitteln, welche jene anderer
Innovationsgüter deutlich übertrifft. Die bereitwillige
Annahme neuer Drogen erfolgt auch gegen den Widerstand staatlicher
oder kirchlicher Institutionen.
Die Einführung neuer Drogen ist mit der
Entdeckungsgeschichte der außereuropäischen Welt eng
verbunden. Vor allem europäische Kolonialmächte hatten
häufig ein starkes wirtschaftliches Interesse an Anbau und
Verbreitung dieser neuen "Cash-Crops". Die meisten
außereuropäischen Kulturen hatten allerdings schon vor
dieser Kontaktgeschichte eigene Drogen in Gebrauch. Lediglich der
Lebensraum der Inuit erlaubte keine eigene Drogenproduktion.
Da die Verwendung von Drogenpflanzen bis in prähistorische
Zeiten zurückreicht, sind die Anfänge des Drogenkonsums
heute kaum noch auszumachen. Als älteste Drogen gelten Alkohol
und Cannabis, aber schon die Verwendung von Fliegenpilzen wird auf
mindestens 7.000 Jahre zurückdatiert.
Bei allen Unterschieden zwischen den Wirkungsweisen der Drogen
verschiedener Substanzklassen wie Alkoholika, Opiate, Kokain,
Cannabis, Halluzinogene, Kaffee, Valium oder Zigaretten wirken doch
alle Drogen auf das Bewusstsein und die psychische Befindlichkeit.
Die empfundene Wirkung ist dabei nicht allein von der Pharmakologie
der verwendeten Substanzen, sondern auch von verschiedenen inneren
und äußeren Faktoren (Set und Setting) abhängig.
Drogenwirkungen variieren je nach biologischen, sozial-interaktiven
und kulturellen Faktoren. Unterschiedliche kulturelle Konzepte
haben viele verschiedene Formen von Drogenkonsum hervorgebracht,
die zeigen, dass der Gebrauch verschiedene wichtige Funktionen in
persönlichen und gesellschaftlichen Bereichen erfüllt. Um
zu verstehen, warum Drogenkonsum eine so große
Attraktivität besitzt, ist es hilfreich, die Funktionen von
Drogenkonsum kennenzulernen.
Drogenkonsum kann zu einer Steigerung des genussvollen Erlebens
beitragen: Er hat hedonistische Funktionen: Dabei kann eine
alltägliche Verwendung als Genussmittel gemeint sein oder eine
sporadische rauschhafte Ekstase. Hedonistische Funktionen von
Drogenkonsum sind aber nicht in jedem Fall gegeben. Vor allem
Neulinge müssen oft erst lernen, einen Rausch zu geniessen.
Auch Abhängige erleben kaum noch Vergnügen beim Konsum,
sondern versuchen Entzugssymptome zu vermeiden. Hier zeigt sich der
Januskopf der hedonistischen Funktion: Genuss führt zur
Abnutzung und verlangt nach neuen "Thrills".
Identitätsbildende und gruppenstärkende Funktionen von
Drogenkonsum sind besonders verbreitet. Die Ausübung und
Darstellung von Rollenidentität wird vereinfacht. Gemeinsamer
Drogenkonsum markiert Gruppenzugehörigkeit, steigert das
Wir-Gefühl und schafft Solidarität weit über den
Rausch hinaus. Vor der Entwicklung entsprechender synthetisch
hergestellter Pharmazeutika hatten Drogen unerlässliche
medizinische Funktionen. Dies gilt insbesondere für Opiate als
Schmerzmittel, aber für alle psychotropen Pflanzen sind
indigene Rezepte für medizinische Anwendungen bekannt.
Religiöse Funktionen von Drogenkonsum sind dann gegeben,
wenn durch den Rausch beziehungsweise die Opfergabe das subjektive
Empfinden des Kontaktes oder der Kommunikation mit einer
spirituellen Welt entsteht. Auch wenn in den modernen
Hochreligionen solche Formen der spirituellen Belehrung und
Erbauung abgelehnt werden, spielen sie doch in verschiedenen
archaischen, klassischen und auch zeitgenössischen
Gruppierungen eine maßgebliche Rolle.
Drogenkonsum hat ökonomische Funktionen, indem er
kommerzielle Profite für Produzenten, Händler und
Mittelsmänner schafft. Legale Drogen sorgen für
fiskalische Einnahmen von erheblicher Höhe. Bei illegalen
Drogen sind die wirtschaftlichen Funktionen besonders
offensichtlich mit politischen Funktionen verknüpft, denn
Illegalität macht Drogen teuer, und die erwirtschafteten
Schwarzgelder werden häufig in andere illegale Geschäfte
investiert. Insbesondere der Zusammenhang zwischen Drogen- und
Waffenhandel beziehungsweise Unterhalt von Armeen und die
Finanzierung terroristischer Aktivitäten sind aus vielen
Krisenregionen bekannt. Die wirtschaftlichen und politischen
Funktionen des Drogenkonsums werden in der Regel nicht von den
Konsumenten genutzt, sondern eher von anderen, welche die
Konsumenten als Einnahmequelle entdeckt haben. Die
wirtschaftspolitischen Möglichkeiten der Ware Droge werden
vermutlich auch in Zukunft dafür sorgen, dass ein
entsprechender Absatzmarkt bestehen bleibt.
Bis ins 16. Jahrhundert war Drogenkonsum anscheinend vielerorts
ein integraler Bestandteil des religiösen und kulturellen
Lebens. Die soziale Kontrolle der Gemeinschaft, der Respekt vor der
spirituellen Kraft der Substanz oder auch reduzierter Zugang haben
suchthafte Konsummuster weitgehend verhindert. Mit aufkommender
Dominanz des Christentums wird religiöser Drogenkonsum
dämonisiert und verboten. Gleichzeitig beginnt die
Kosmopolitisierung und Industrialisierung von Drogen als
Handelswaren. Dieser Prozess ist im Zuge einer stufenweisen
Globalisierung bisher nicht abgeschlossen.
Die Geschichte der Sucht in Europa und Nordamerika kann grob
drei Phasen unterschieden werden:
1. Exzessives Schwelgen im Rausch wird als normales Verhalten
akzeptiert (zum Beispiel Tacitus: Germania; klassisches
Griechenland; Mittelalter).
2. Exzessives Schwelgen im Rausch wird als sündhaft und
liederlich geächtet (16. und 17. Jahrhundert, Ära des
Calvinismus, Kolonialzeit, Christliches Paradigma).
3. Exzessives Schwelgen im Rausch wird als psychiatrische
Erkrankung und medizinisches Problem aufgefaßt (19.
Jahrhundert, Entstehung der psychiatrischen Wissenschaften).
Dass Drogen suchtauslösend sein können, wurde zuerst
für Alkohol (1772), später für Morphium (1873) und
Kokain (1880er-Jahre) entdeckt. Ausschlaggebend für diese
"Entdeckungen" war die Neuentwicklung des Branntweins, der, genau
wie später Morphium und Kokain eine chemische Aufarbeitung zur
Potenzierung der ursprünglichen Wirkung darstellt. Auch die
miserablen Lebensbedingungen vieler Industriearbeiter (zeitweilig
wurde der Lohn auch in Branntwein ausbezahlt) in Europa sowie der
Unterworfenen in den Kolonien und die zahlreichen Kriege trugen zu
einer Ausbreitung suchthafter Konsummuster mit Ventil- und
Kompensationscharakter bei.
In zahlreichen Kulturen außerhalb des euro-amerikanischen
Kulturkreises kam die Bekanntschaft mit Sucht zusammen mit den
frühen Kolonialkontakten. Eine Entsprechung zu
europäischen Phasen der Suchtentwicklung könnte
unterscheiden zwischen: vorkolonialer Phase (Drogenkonsum im
religiösen und sozial-interaktiven Rahmen wird als normales
Verhalten akzeptiert); kolonialer Phase (erzwungene Übernahme
christlicher Paradigmen, gleichzeitig massive Einfuhr neuer
Drogen); moderner Phase (Übernahme westlicher medizinischer
Paradigmen).
Allerdings kann nicht von einer vollständigen
Übernahme "westlicher Werte" in Bezug auf Drogenkonsum
ausgegangen werden.
Der Kulturhistoriker Rudolf Gelpke, der die Einstellungen zu
Drogen im Orient und Okzident verglichen hat, konstatiert eine
Geringfügigkeit der Unterschiede der
außereuropäischen Hochkulturen gegenüber der
modernen westlichen Zivilisation. Diese "Kultur des weißen
Mannes" dominiere zunehmend die internationale Kulturlandschaft und
führe zu einer puritanisch geprägten Einheitskultur, die
durch ihre aggressive Dynamik auffalle. Insbesondere in der
ablehnenden Haltung zu Rausch und Ekstase unterscheidet sich danach
die westliche Kultur von den meisten anderen. Während andere
Kulturen den Umgang mit veränderten Bewusstseinszuständen
oftmals als Kontakt mit der spirituellen Welt von ihren Mitgliedern
geradezu verlangen, wird dieser Bereich in der westlichen Welt
tabuisiert und ausgeklammert. Erst diese Ausgrenzung und die damit
verbundene Unkenntnis geeigneter Umgangsformen macht Drogen zu
jenen Monstern, als die sie heute vielfach dargestellt werden.
Dr. Andrea Blätter arbeitet als wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Institut für Interdisziplinäre
Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg.
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