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Susanne Balthasar
Von Pickeln und Pillen
Bei Jugendlichen ist die Suchtgefahr besonders
hoch
Es gibt Zeiten, da begegnen sich Vergangenheit
und Zukunft im Jetzt. Was war, ist noch nicht vorbei, und was sein
könnte, treibt in hoffnungsvollen Worten durch die geheizte
Wohnzimmerluft: Arbeit, Kinder, ein Haus, Tiere, insgesamt also ein
geregeltes Leben. Das wäre schön, sagen Birte und Frank,
ein Traum, der vielleicht wahr wird. Dann ist da aber noch die
Vergangenheit, die Frank auf den Couchtisch packt. Ein schweres
Fotoalbum, das ein anderes Leben bebildert.
Frank mit Baseballkäppi und Sackjeans,
in der Hand, die aus dem zu langen Sweatshirtärmel
herausguckt, eine Flasche Bier, die verquollenen Augen
gerötet, der Mund lächelt. Ein paar Jahre ist das her,
aber die zehn Jahre im Drogendelirium sind an seinem Gesicht
einfach vorbei gerauscht. Wie 23 Jahre sieht Frank so gar nicht
aus, dass ein Rot-Kreuz-Spendensammler, der zwischendurch an der
Tür klingelt, fragt, ob er schon 18 sei. Birte ist 29 Jahre
alt und trägt im Fotoalbum Minirock und enge T-Shirts, ihr
Partyoutfit. Auf dem Sofa sitzt sie jetzt in Jeans und
Reißverschlusspullover. Ein bisschen wehmütig wird er
schon, sagt Frank, wenn er die Bilder sieht: "Die Partys, das
Miteinander, sogar die Oberflächlichkeit fehlt manchmal."
Birte ergänzt: "Jetzt bist du clean und sitzt zu Hause." Die
Gegenwart ist eine Baustelle: Die Freunde, die Partys, das, was
ihre Jugend war, ist weg, und das Erwachsensein müssen die
beiden erst noch lernen.
"Erwachsen werden ist ein anstrengendes
Geschäft", sagt Andreas Gantner, Leiter des "Therapieladens",
einer Berliner Anlaufstelle für drogensüchtige
Jugendliche. Hier kommen nicht die Straßenkinder vom Alex oder
Zoo hin, sondern meistens solche, die zuviel Cannabis rauchen oder
Amphetamine schluck-en. Oder beides. Eine Pille zum Feiern, den
Joint zum Runterkommen, dazu oft Alkohol, Zigaretten, Speed oder
Kokain. Es sind Schulverweigerer und abgebrochene Lehrlinge, aber
auch Studenten oder Menschen wie Birte, die trotz Drogensucht bis
vor kurzem noch regelmäßig zur Arbeit gegangen sind. Sie
bilden eine Minderheit von fünf Prozent der deutschen
Jugendlichen. Probiert hat allerdings schon jeder Dritte einmal
illegale Drogen. Das hört sich viel an, schließt aber
auch einmaliges Experimentieren mit ein.
Gründe für die Lust am Rausch gibt
es viele: Mal etwas ausprobieren, dazugehören oder einfach,
weil gerade die Möglichkeit besteht. Drogen haben zwar
einerseits ein Looser-Image, aber auch das der Unangepasstheit, die
sich über solch kleinliche Ansichten hinwegsetzen und dabei
auch noch Spaß bringen. Grenzen überdehnen gehört
schließlich zum Jungsein und ist so weit normal. Normal ist
auch, damit beizeiten wieder aufzuhören. "Schlimm wird es
dann", sagt Andreas Gantner, "wenn es zum Kontrollverlust kommt,
die Begierde nach Substanzen zwanghaft und zur
Problembewältigung benutzt wird." Christiane F., die
Drogenikone der 70er-Jahre, beschreibt den Anfang vom Ende so: "Ich
zog das Pulver sofort durch die Nase ein. Alles, was ich
spürte war ein beißend bitterer Geschmack (...) Dann kam
es aber unheimlich schnell. Meine Glieder wurden wahnsinnig schwer
und waren gleichzeitig ganz leicht. Ich war irrsinnig müde,
und das war ein unheimlich geiles Gefühl. Die ganze
Scheiße war mit einem Mal weg." Raus aus dem Alltag, rein in
die Sucht - Probleme liefert die Pubertät schließlich wie
Pickel. Wer davor in den geistigen und emotionalen Dauerrausch
flüchtet, der läuft Gefahr, einen wichtigen anstehenden
Entwicklungsschritt nicht zu schaffen: Das Erwachsenwerden, also
eine Palette von Verhaltensweisen zu entwickeln, mit denen
Schwierigkeiten bewältigt oder innere Unruhe, Angst und
Unsicherheit ausgehalten werden können.
Das müssen Birte und Frank nun lernen.
Äußerlich sind die beiden in der Normalität des
Erwachsenenlebens angekommen. Sie leben in einer Wohnung, die so
aufgeräumt ist, dass man sie für einen Möbelkatalog
abfotografieren könnte. Nur noch die buntgepixelten Plakate
Berliner Clubs oder Party-Events an den Wänden erinnern daran,
dass ihr Leben einmal von farbigen Pillen und weißen Pulvern,
Medikamenten und Marihuana bestimmt war. Dass sie Glück,
Entspannung, Ausgelassenheit und Fitness geschnüffelt,
geraucht, gezogen und geschluckt haben. Dass nicht mehr zu tun ist
schon schwierig genug, aber dann kommen auch noch die anderen
Umwälzungen des Ausstiegs dazu: Die Freunde sind weg, Birte
hat, obwohl sie clean war, eine Fehlgeburt gehabt und wegen der
Therapie ihre Stelle als technische Zeichnerin gekündigt: "Das
war alles viel zu viel." Jetzt muss sie nicht nur ohne Aufputscher
leben, sondern das auch noch als Arbeitslose. Sie, die von sich
sagt, dass sie unter Drogen Siebenmeilenstiefel anhatte, ist
plötzlich ausgebremst. Frank dagegen ist vom Abhänger zum
Azubi geworden. Jetzt lernt er Industriekaufmann und hat die neue
Seite Arbeitseifer an sich entdeckt. In der Wirklichkeit der beiden
spielen Drogen - trotz zwischenzeitlicher Rückfälle -
keine reale Rolle mehr, sind allerdings als lockende Gefahr immer
im Hintergrund.
Zwischen Überforderung und
Strenge
Aus dem Hintergrund ist die Vergangenheit
nicht zu löschen. Beide Geschichten umkreisen denselben Punkt
aus zwei verschiedenen Richtungen. Nach einem Jahr Therapie sagt
Frank, dass er als Teenager überfordert war, zu früh
erwachsen sein musste. Als Ältester von drei Kindern einer
berufstätigen und allein erziehenden Mutter musste er die
Geschwister betreuen, einkaufen, den Familienbetrieb am Laufen
halten. Damals hat er das nicht als Überforderung
wahrgenommen. Heute sagt er, dass die Drogen ihm die
Möglichkeit gegeben haben, alles von sich zu werfen: "Das war
die Erlaubnis, Blödsinn zu machen." 13 war er damals, als er
seinen ersten Joint rauchte, dann kam der zweite, und weil das
Glück der Tüte allen Frust in Rauch auflöste, hat er
irgendwann morgens und täglich gekifft. Dann kamen Ecstasy und
Parties dazu, LSD und Kokain. Und Schuleschwänzen, der
Rauswurf aus der zehnten Klasse und der Wohnung der Mutter,
Jugendamt, Kriseneinrichtungen, Diebstähle, Leben auf der
Straße, dann Dealen und natürlich Drogen rund um die Uhr.
Auch Birte hat mal auf der Straße gelebt, ist in der Punk- und
Partyszene versackt und hat von Haschisch über Pillen und
Kokain bis Schmerztabletten, Alkohol und auch mal Heroin so
ziemlich alles genommen. Auch ihre Initialzündung war der
erste Joint: "Das war wie ein Befreiungsschlag. Von da an war ich
nur noch drauf." Ihre streng christliche Mutter hatte alles zur
Sünde erklärt, selbst Bücher, Hosen und Kino waren
Tabus. Im Dickicht der Verbote blieb Birte keine Möglichkeit,
eigene Wege zu finden: "Erwachsen werden konnte ich
nicht."
Andreas Gantner hat tagtäglich mit
solchen oder ähnlichen Biografien zu tun: "Die Probleme sind
unterschiedlich, aber sie wählen alle denselben Weg, sie zu
lösen." Wer schon als Kind den Haushalt schmeißen muss
oder überbehütet ist, trinkende oder schlagende Eltern,
Depressionen oder Angst hat, hyperaktiv oder ein Scheidungskind
ist, dem wachsen die Probleme in der Pubertät über den
Kopf. Wenn der innere Frieden mit Rauschmitteln vermeintlich wieder
hergestellt wird, ist die Gefahr groß, abzurutschen. Je eher
der eigentlich anstehende Entwicklungsschritt übersprungen
wird, desto mühsamer muss er später gelernt werden.
Deshalb sagt Andreas Gantner: "Je jünger die Konsumenten sind,
desto größer sind die Risiken." Zwar hat er beobachtet,
dass seine Klienten immer jünger werden, aber das, sagt er,
sei noch kein Indikator dafür, dass die Drogensucht zunimmt.
Die letzte Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung hat ergeben, dass sich die Zahlen in den letzten
zehn Jahren kaum verändert haben.
Wie alles andere ist auch Drogenkonsum Moden
unterworfen. Während in den 90er-Jahren die neuen
Designerdrogen von fünf Prozent der Jugendlichen geschluckt
wurden, ist deren Konsum seither nicht weiter angestiegen. Momentan
ist kiffen wieder populär. Ein Drittel der Jugendlichen hat
schon einmal Haschisch oder Marihuana probiert - 1989 waren es nur
18 Prozent. Gantner sieht darin einen Beleg, das die Hanfbewegung
inzwischen in der Jugendkultur fest verankert ist: Kiffermusik,
Jamaika-Klamotten, Wasserpfeifengeschäfte und das Hanfblatt
als allgegenwärtiges Kultbild geben dem Joint ein schickes
Image. Eltern, die selber gekifft haben, sehen das bei den eigenen
Kindern oft nicht so eng. Bei den meisten geht diese Phase dann
auch wieder vorbei. Über eine Drogenkarriere entscheidet nicht
der Zufall oder das Angebot, sondern die psychische
Stabilität. "Viele rutschen zwar rein, die keine Probleme
haben", sagt Andreas Gantner, "aber die lassen es dann auch
wieder."
Die, die es nicht lassen landen dann unter
Umständen in der "Einbahnstraße, Sackgassenende", wie
Birte sagt. Dabei hat sie von außen betrachtet ein ganz
normales Leben geführt, ist zur Arbeit gegangen. So normal,
dass niemand auf die Idee gekommen wäre, dass sie den ganzen
Tag "drauf" war. Die Wahrheit hat nur sie gesehen. So große
Atome, sagt sie, und zeigt mit den Händen eine
kindskopfgroße Kugel. Aber auch das sei für sie normal
gewesen. Und, dass sie nicht mehr gewusst habe, wo sie aufhört
und andere Menschen anfangen. Als Frank dann mit 150 Pillen und
zehn Gramm Speed in einer Disco erwischt worden war, und die beiden
eine Nacht im Gefängnis verbracht hatten, wusste Birte, dass
etwas passieren muss. Frank wollte erst nicht mit in die Therapie,
ist ihr dann aber doch gefolgt. Das erste Jahr ist geschafft.
Vieles aus der Vergangenheit ist auf-, aber nicht abgearbeitet, die
Zukunft zeichnet sich erst schemenhaft ab. In der Zwischenzeit
sitzen die beiden nüchtern auf ihrem Sofa. Ob sie stolz darauf
sind? "Stolz?", fragt Birte zurück, "nee, so weit sind wir
noch nicht."
Die Autorin arbeitet als Journalistin in
Berlin.
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