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Jeannette Goddar
An 7.000 Abenden das Glas stehen gelassen
Der Weg in die Abhängigkeit vom Alkohol ist
oft kurz: Ein Porträt
Ob er es hätte wissen können, damals, als er das erste
Mal zum Glas griff? Der Krieg war noch nicht lange vorbei, die
Sektorenstadt Berlin lag in Trümmern. Man hatte nicht viel in
der geteilten Stadt und die Eltern des Neun- oder Zehnjährigen
hatten besonders wenig. Irgendwann zwischen dem Austragen von
Zeitungen in dem Arbeiterbezirk Moabit und der Aushilfe in einem
Kiosk hielt der Junge eines Tages ein Bier in der Hand. Und bald
darauf das nächste. Er kann gar nicht sagen, ob es ihm
schmeckte, nur, dass es schnell ging vom ersten Schluck bis zum
nächsten und zu der Zeit, als er immer öfter und immer
schneller trank. So erinnert er sich jedenfalls heute. Aber was
hätte er mit zehn schon gewusst? Nicht viel - was er aber
wusste war, dass der Vater selten nüchtern aus der Kneipe kam,
oft wirres Zeug redete und die Mutter schlug.
Aus dem Jungen ist ein Rentner geworden, der einen nicht
unbedeutenden Teil seiner Zeit damit verbringt, sich immer wieder
zu vergegenwärtigen wo er herkommt: Ich heiße Günter
(Name geändert). Ich bin Alkoholiker und es ist nicht
selbstverständlich, dass ich nicht trinke. Es war ein langer
Weg. Diese Botschaft will ich weitergeben.
Der Mann, der hier Günter heißt, sitzt in einem
kleinen Gruppenraum im Souterrain eines Hauses in Berlin-Wedding.
Obwohl er am anderen Ende der Stadt wohnt, ist er mehrmals in der
Woche hier. Die Räume gehören den Anonymen Alkoholikern,
genau genommen einer von 120 Gruppen, die es in Berlin und
Brandenburg gibt. Eben hat er noch den Hörer abgenommen, als
das Telefon klingelte. Eine Frau war dran, hörbar betrunken,
und wollte Hilfe, endlich mit der Sauferei aufzuhören.
Günter hat ihr gesagt, sie solle sich wieder melden, wenn sie
nüchtern ist und hat aufgelegt. So etwas käme häufig
vor, sagt er, sei aber völlig aussichtslos. Er ist nicht der
Ansicht, dass man erst ganz unten gewesen sein muss, um vom Alkohol
loszukommen. Aber dass man nur nüchtern den festen Willen
fassen kann, wenigstens das erste Glas stehen zu lassen, davon ist
er felsenfest überzeugt. So hat er es auch zu der Frau gesagt:
Du musst das erste Glas stehen lassen. Das mit dem Glas ist einer
der Leitsprüche der Anonymen Alkoholiker. Denn eigentlich,
sagt Günter, gehe es beim Alkoholismus immer nur um das erste
Glas: Wer das stehen lasse, brauche alle weiteren nicht mehr zu
trinken.
Sein letztes Glas liegt zwei Jahrzehnte zurück. Damals
hatte er nach vier klinischen Entzügen, die alle mit dem
nächsten Gang in die Kneipe endeten, den letzten schweren
Rückfall. Hals über Kopf und außer sich flog er nach
Köln, einer Frau hinterher. Auf dem Flughafen Köln-Bonn
hatte er einen kurzen lichten Moment. Er drehte um und flog
zurück. Drei Jahrzehnte hatte er da durchgesoffen, mehrfach im
Koma gelegen, war immer wieder knapp dem Tod entronnen. Er hatte
seine Frau, die längst zur Co-Abhängigen geworden war,
mehrfach an den Rande des Nervenzusammenbruchs gebracht, ein
miserables Verhältnis zu seinem Sohn und war im Job auf das
Schweigen seiner Kollegen angewiesen.
Drei Jahrzehnte lang war er in jeder Gaststätte der letzte
gewesen. Nie wusste er am nächsten Tag noch so genau, was sich
dort während seiner letzten Minuten oder Stunden zugetragen
hatte. Immer wieder hatte er sich geschworen, aufzuhören und
es nie getan. War der Gedanke besonders konkret geworden, wurde es
meist danach nur noch schlimmer, weil er zu allem anderen auch noch
sein schlechtes Gewissen wegtrinken musste. Zum ersten Mal richtig
schlimm war die Erkenntnis, wozu er in der Lage ist, mit 19. In der
Nacht des Mauerfalls betrank sich der Westberliner im Kasino einer
Bundeswehrkaserne in Niedersachsen zu. Schließlich klaute er
die Offizierskasse und zog um die Häuser. Danach saß
Günter sechs Monate im Gefängnis, voller guter
Vorsätze. Nach seiner Entlassung versoff er sein letztes Geld
schon bevor er den Zug zurück nach Berlin bestieg. Die
Bundeswehr, bei der er sich freiwillig gemeldet hatte, hatte ihn
unehrenhaft entlassen.
Und plötzlich, nach dem Ausflug ins Rheinland, machte etwas
"Klick". Er ging zu demselben Arzt, der ihn schon so oft gesehen
hatte. Der warf seinen üblichen skeptischen Blick auf den
geschundenen Körper und die geschundene Psyche und drohte, ihn
zwangseinzuweisen. Günter wehrte sich. Weder wollte er noch
einmal in ein Krankenhaus noch eine weitere
medikamentengestützte Entgiftung hinter sich bringen. Er werde
sich alleine durchzittern durch die Tage und Nächte, die so
ein Entzug nun mal dauert. Dass das lebensgefährlich ist,
wusste er, sagt er: "Aber ich wollte endlich selber die
Verantwortung für mich übernehmen." Es klappte.
Wenig später ging Günter das erste Mal zu den Anonymen
Alkoholikern und sagte, er sei Günter und er sei Alkoholiker.
Mit diesem Statement fängt in jeder einzelnen Gruppe jede
einzelne Sitzung an. Jeder sagt seinen Namen, gerne auch einen
falschen und dass er Alkoholiker sei. Letzteres, daran glauben die
Anonymen Alkoholiker fest, gilt nicht nur am ersten Tag, sondern
auch noch nach 20 Jahren abstinenten Lebens. Alkoholiker ist man
nicht irgendwann einmal gewesen. Alkoholiker bleibt man. Nie wird
es selbstverständlich, nicht zu trinken. Genauso wie man
aufhören wollen muss, muss man wollen, dass es so bleibt.
An der Wand, vor der Günter sitzt, steht ein weiteres
Leitmotiv der Anonymen Alkoholiker: "Gott gebe mir die
Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die
Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden." Viele Anonyme
Alkoholiker sind religiös. "Als Trinker fühlt man sich
Jahre oder Jahrzehnte machtlos", sagt Günter, "irgendwann ist
da eine höhere Macht, die sagt: Ich bin bei dir! Ich helfe dir
da raus! Das lässt einem Gott plötzlich ganz nah
vorkommen."
Der Anlass für die Gründer der Anonymen Alkoholiker
war dabei ein eher weltliches Treffen. Bill und Bob, ein
Finanzmakler und ein Arzt, waren beide schwere Trinker mit
zahllosen abgebrochenen Therapien hinter sich. 1935 trafen sie sich
zufällig im US-Bundesstaat Ohio. In zahllosen Gesprächen
miteinander gelang es ihnen, sich gegenseitig vom Trinken
abzubringen. Sie fanden ein Prinzip, an das die Anonymen
Alkoholiker bis heute fest glauben: Du musst es selber schaffen,
aber du schaffst es nicht allein. Bob und Bill gründeten die
erste AA-Gruppe, der bis heute mehrere Tausend folgten. Sie alle
arbeiten ohne staatliche Unterstützung in dem festen Glauben,
dass ein nicht trinkender Alkoholiker eine Familie Gleichgesinnter
braucht. Die meisten gehen über Jahre und Jahrzehnte mehrmals
in der Woche in ihre AA-Gruppen.
Günter brauchte tatsächlich eine neue Familie. Kaum
war er trocken, trennte er sich von seiner Frau. Die kam auch schon
aus einer trinkenden Familie - und setzte, das liegt jedenfalls
nahe, in der Ehe nur fort, was sie zuhause gelernt hatte: die Sucht
mitzutragen, zu vertuschen, jemandem immer wieder auf die Beine zu
helfen. In der Suchttherapie gilt dieses Verhalten als
Kardinalfehler, weil es dem Süchtigen immer wieder nicht nur
Zu-, sondern auch Ausflucht bietet. Günter sagt heute dennoch,
er könne der Frau, die es all die Jahre mit ihm aushielt, kaum
dankbarer sein: "Sie hat mir das Leben gerettet." Als er clean war,
funktionierte die Ehe vorne und hinten nicht mehr. Vielleicht hatte
sie sich schlicht an einen trinkenden Ehemann gewöhnt.
Günter suchte sich eine völlig neue Umgebung, in der
nicht getrunken wird. Jahrelang tat er sich schwer, sich der
allgegenwärtigen Versuchung des Alkohol auszusetzen. Er
verzichtete auf den Kneipenbesuch, auf Betriebsfeiern und
Familienfeste. Freunde, sagt er, habe er ohnehin nicht gehabt.
"Trinker suchen sich in der Regel Trinker. Was die sonst so tun ist
nicht so wichtig."
Heute macht es ihm nichts mehr aus, wenn andere in seiner
Gegenwart das eine oder andere Glas trinken. Nur Saufgelage tue er
sich nicht mehr an. Davon habe er genug gesehen.
Grundsätzlich, resümiert er, sei Alkohol für viele
Menschen aber schließlich ein großes Vergnügen - und
richte nur bei manchen unermesslichen Schaden an. Woran es liegt,
dass er vom Teenagerdasein geradewegs in den Alkoholismus abglitt,
weiß er bis heute nur in Auszügen. Ein Teil läge
sicher in der Familie, auch wenn er kaum seine Eltern dafür
verantwortlich machen könne. Andere Teile hat er in seiner
Persönlichkeit gefunden, in Minderwertigkeitsgefühlen
oder der Unfähigkeit, Konflikte auszuhalten. So ganz genau,
weiß er aber auch, wird er der Ursache wohl nie auf den Grund
kommen. Fest steht nur, dass es jahrzehntelang etwas gab, das
stärker war als er. Ihn fest im Griff hatte, und zwar umso
fester, je schlechter er sich dabei fühlte. Es ist vorbei, an
jedem nüchternen Abend ein kleines bisschen länger. An
über 7.000 Abenden hat er das erste Glas stehen gelassen.
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin.
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