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Burkhard Weitz
Das heilige "Nein"
Das Christentum kennt eine lange Tradition des
Verzichts
Die Anonymen Alkoholiker sind die spirituellste Gruppe in
unserer Gemeinde", musste kürzlich ein Hamburger Pfarrer
gestehen. Dabei gehören die Anonymen Alkoholiker noch nicht
einmal wirklich zu seiner Gemeinde. Sie treffen sich zwar im Keller
des Gemeindehauses und sind religiös. Kirchlich binden wollen
sie sich aber ausdrücklich nicht. Dem Pfarrer kann man
keinesfalls vorwerfen, dass es in seiner Arbeit an
Spiritualität mangele. Er ist einer von den kreativen
Pfarrern, die überdurchschnittlich viele Gemeindemitglieder
begeistern und zur Mitarbeit anregen, und deren Gemeindehaus stets
gut gefüllt ist.
Anonyme Alkoholiker treffen sich sehr oft in kirchlichen
Räumen, obwohl sie sich ausdrücklich nicht mit der Kirche
identifizieren. Pastoren stellen ihnen die Räume in aller
Regel mietfrei zur Verfügung. Denn wie kaum ein anderes
Alltagsthema berührt das Thema "Sucht" den Kernbereich
christlicher Theologie.
Aus theologischer Sicht ist Sucht eine tief greifende
Störung der Gottesbeziehung. Sie degradiert den Menschen zum
Götzendiener, zum Sklaven einer Dingbeziehung. Die christliche
Theologie geht davon aus, dass der Mensch eine natürliche
Gottesbeziehung hat. Für sie ist Gott der Grund aller Liebe.
Da sich jeder Mensch danach sehnt zu lieben und geliebt zu werden,
strebt auch jeder Mensch danach, sich diesem Grund der Liebe zu
nähern: Gott. Jeder Mensch hat demnach eine Art
Gottessehnsucht. Aber nicht jeder Mensch spürt sie in sich.
Und dafür gibt es unterschiedliche Gründe.
Die ursprüngliche Gottessehnsucht kann - zum Beispiel
aufgrund einer Enttäuschung oder Verletzung - abgespalten
werden. Sie wird verdrängt, aber indirekt doch noch gelebt.
Die Gottessehnsucht kann aber auch im Konsum erstickt werden. Eine
Ersatzbefriedigung tritt an ihre Stelle, ein Rausch oder Kick, eine
Betäubung oder ein schnell erworbenes Glücksgefühl.
Auf jede Befriedigung folgt Ernüchterung. Wer nach der
Ernüchterung neue Befriedigung auf gleichem Wege sucht,
kultiviert allmählich in sich einen Drang, der sich schnell
zur Sucht entwickelt. Die Rede ist nicht nur von Alkoholismus,
Kokainsucht, Kauf-, Sex- oder Esssucht. Auch Macht- und
Besitzstreben kann Züge von Suchtverhalten aufweisen. Der
Süchtige huldigt dem Objekt der Begierde. Er lässt sich
versklaven. Die ihm angeborene Sehnsucht nach Liebe, die stets eine
freiwillige Bindung ist, verkümmert.
Die Sucht beraubt den Menschen seiner Freiheit, indem sie seine
Aufmerksamkeit auf immer den gleichen Gegenstand fixiert. Insofern
ist Sucht eine Gegenmacht zur Liebe. Liebe erfüllt sich nur in
Freiheit. Wer liebt, muss dem anderen Aufmerksamkeit schenken.
Dafür braucht er ein freies Herz und einen freien Verstand.
"Ich war so damit beschäftigt, Alkohol zu besorgen und zu
verstecken, dass ich keine Gefühle mehr für meine Frau
und meine Kinder hatte", schildert ein Anonymer Alkoholiker die
Zeit, bevor er trocken wurde. Je stärker und dauerhafter der
Drang nach Ersatzbefriedigung, desto mehr stumpft auch die
Gottessehnsucht im Menschen ab.
Die Sucht fesselt den Willen des Menschen und veranlasst ihn,
das zu tun, was er eigentlich gar nicht will. Zunächst
spürt der Süchtige keinerlei Freiheitsverlust. Bei ihm
überwiegt das neue Gefühl der Sicherheit. Der Alkohol
enthemmt, der Trinker bewegt sich scheinbar angstfreier unter
Menschen. Der Kaufsüchtige vergisst im Glücksgefühl
des Kaufens, was ihn eigentlich bedrückt. Doch je stärker
die Sucht, desto mehr Zeit und Anstrengung nimmt sie in Anspruch.
Der Junky befasst sich irgendwann ausschließlich damit, sich
Drogen für den nächsten Kick zu beschaffen. Der
Esssüchtige muss sein Konsumverhalten immer umständlicher
verheimlichen.
Schon bald drängen sich dem Süchtigen die Anzeichen
dafür auf, dass er seine Freiheit an die Sucht verloren hat.
Doch er leugnet die Anzeichen vor sich selbst und vor anderen,
obwohl sie immer offensichtlicher werden. Wenn ihm dämmert,
dass die Sucht von ihm Besitz ergriffen hat, beginnt die
Verzögerungsphase. Mit Sprüchen wie: "Morgen höre
ich auf" oder: "Ich muss erst mein Leben in den Griff bekommen,
dann ..." vermeidet der er den einzigen Schritt zu gehen, der ihm
jetzt bleibt: den Verzicht.
Das Christentum kann auf eine ausgeprägte Theologie des
Verzichts verweisen, die auf die alten Traditionen der
Wüstenväter zurückgeht. Diese Asketen hatten sich im
dritten und vierten Jahrhundert in die mittelägyptische
Wüste zurückzogen, um dort den Kampf mit dem aufzunehmen,
was sie als die inneren Dämonen empfanden. Sie suchten die
Loslösung von allen innerweltlichen Abhängigkeiten. Sie
widerstanden den Anfechtungen von Sicherheit, Besitzstreben und
Sexualität. Das heilige "Nein" war ihr Pfad zu Heiligkeit und
Ganzheit.
Nur eine starke Persönlichkeit kann diesen Weg des
Verzichtes einigermaßen erfolgreich beschreiten. Die
Persönlichkeit des Süchtigen ist jedoch während der
Leugnungs-, Erklärungs- und Verzögerungsphase gebrochen.
Er glaubt, jederzeit verzichten zu können, aber in Wahrheit
ist er dafür zu schwach. Irgendwann muss sich der
Süchtige sein Scheitern eingestehen. Nun setzt die Phase der
Selbstaufgabe ein. Er kapituliert vor der Sucht. Er schämt
sich, wie der Trinker aus "Der kleine Prinz" von Antoine de Saint
Exupery. Der trinkt, um zu vergessen, dass er sich seiner
Trunksucht schämt - ein verhängnisvoller Zirkel.
In zwölf Schritten beschreiben die Anonymen Alkoholiker die
Loslösung aus der Sucht. "Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol
gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr meistern
konnten", lautet der erste Schritt. Er beschreibt den Zeitpunkt, an
dem die Verzweiflung den Süchtigen zum Verzicht treibt. Von
nun an übergibt sich demnach der Alkoholiker einer anderen
Macht.
Die ursprüngliche Gottessehnsucht mag durch die Sucht bis
zur Unkenntlichkeit abgestumpft sein. Ein Rest bleibt jedoch immer
erhalten. Viele Süchtige finden den Ausweg aus ihrer
Abhängigkeit erst dann, wenn sie "ganz unten" angelangt sind.
Wenn sie ihre Freiheit nicht mehr aus eigener Kraft wieder
herstellen wollen, sondern sich in diesem Bestreben ganz aufgeben.
Dann erst ist dieser letzte Rest an Gottessehnsucht freigelegt.
Theologen sagen auch: Dann ist der Mensch frei für die
göttliche Gnade.
Entsprechend lautet der zweite Schritt der Anonymen Alkoholiker:
"Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als
wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann."
Sofern der Süchtige nun zu einer Sprache des Glaubens
vordringt, erlebt er die neu gewonnene Freiheit nicht mehr
bloß als Bedrohung, als schwarzes Loch voller Risiken und
Unwägbarkeiten. In der neuen Freiheit begegnet ihm geistliche
Fülle. Entsprechend lautet der dritte Schritt für die
Anonymen Alkoholiker: "Wir fassten den Entschluss, unseren Willen
und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir Ihn verstanden -
anzuvertrauen."
Der Süchtige mag nun wieder Herrschaft über sein
Verhalten erlangt haben. Aber die Sucht lässt ihn dennoch
nicht los. Jedes kleine Nachgeben gegenüber der Sucht zieht
den vollständigen Rückfall nach sich. Vor allem
während der Ausnüchterung steigert sich das Verlangen
nach der Droge bis ins Unerträgliche. Im so genannten kalten
Entzug, bei dem der Junky keinen Zugang mehr zur Droge oder zu
Substituten hat, bringen Schweißausbrüche, Anfälle
von Schüttelfrost und Magenkrämpfe den Süchtigen bis
an die Grenze dessen, was er ertragen kann.
Und noch etwas erschwert Süchtigen den Ausstieg aus seiner
Sucht. Die moderne Gesellschaft verlangt dem Einzelnen immer
seltener ab, bei sich die Fähigkeit zum Verzicht zu
kultivieren. Nur wer sich im Verzichten geübt hat, trägt
in sich die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung. Je weniger
jemand in Kindheit und Jugend den Verzicht gelernt hat, desto
schwerer wird er ihm als Erwachsener fallen. Dem Süchtigen
bleibt keine andere Wahl als zu verzichten, will er im Kampf gegen
die Droge nicht unterliegen.
Von nun an muss der Süchtige sich stets selbst prüfen.
"Buße" nennt die klassische Theologie eine solche
Selbstprüfung. Dazu zählt das uneingeschränkte
Eingeständnis eigener Fehler. Ferner die Bereitschaft,
für die göttliche Gnade offen und somit im Innersten
demütig zu bleiben. Und schließlich das Bestreben,
gegenüber anderen Fehler der Vergangenheit wieder gut zu
machen. Die Kraft zur Erneuerung - so sagen es auch die Anonymen
Alkoholiker, die sich an keine Kirche binden - kann nur von
außen kommen. Von Gott.
Der Autor ist Redakteur des evangelischen Magazins
"Chrismon".
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