|
|
Andrea Dunai
Vom Klebstoff zum Cannabis
Ungarn: Erst langsam entwickelt sich ein Netz
aus Aufklärungs- und Hilfsprogrammen für
Drogensüchtige
Als der ungarische Hanfverein im April 2004 einen Antrag auf
eine Demonstration beim Landespolizeiamt einreichte, ließ die
Antwort ziemlich lange auf sich warten. Die Ordnungshüter
mussten offensichtlich erst noch im aktuellen 190-seitigen
Drogenbericht der Regierung blättern, um sich über die
neuesten Richtlinien eine Orientierung zu verschaffen und danach
einen Plan zur Vorbeugung eventueller Zusammenstöße auf
der Straße zu entwerfen. Für beide Aufgaben gab es
genügend Gründe. Der liberale Koalitionspartner der
Regierung, der Bund der Freien Demokraten, plädiert seit
längerer Zeit dafür, die so genannten leicht
stimmungssteigernden Mittel wie Hanf, Marihuana und Haschisch aus
dem Katalog der verbotenen Drogen zu entfernen. Für dieses
Ziel kämpft ebenfalls der Hanfverein, dessen Kundgebungen
mehrmals zu Ausschreitungen mit den Drogengegnern führten. Auf
die Liberalisierungswünsche haben die Teilnehmer der
Gegendemonstrationen bis jetzt immer mit Eierwürfen und
Prügeleien reagiert.
Der spezielle und allgemeine Diskurs über Drogen hat eine
relativ kurze, aber umso intensivere Karriere hinter sich. In der
"fröhlichsten Baracke des real existierenden Sozialismus"
existierten zwar gesetzliche Sanktionen des Drogenkonsums, diese
wurden jedoch aufgrund des brennenden Alkoholproblems so gut wie
nie thematisiert. Das Hauptaugenmerk war auf die trüben
Statistiken zum Alkoholgenuss gerichtet, denn die Zahlen der
Verbraucher stiegen - insbesondere seit 1978 - in
regelmäßigen Abständen. Die ersten vorsichtigen
Ergebnisse sozialpolitischer Forschungen und Umfragen sprachen von
einer "schleichenden Tendenz". In der Folge mussten Betriebs- und
Fabrikdirektoren sorgfältiger mit ihrem Bestand aus dem
"Protokollschrank" umgehen, denn niemand konnte wissen, in welchem
Gast oder Kollegen ein Geheimrevisor steckte.
Demgegenüber beschränkte sich der Drogengenuss
für Privilegierte auf die illegale Einfuhr westlicher
Rauschmittel, für das gemeine Volk wiederum, unter anderem
Schüler, auf das Schnüffeln des flüssigen Klebstoffs
"Technokolrapid". Die berüchtigte rote Tube mit goldener
Inschrift galt seit den späten 70er-Jahren als auffällig,
und es gehörte mit zur Aufklärung der Kinder, vor den
schädlichen Wirkungen dieses chemischen Mittels zu warnen.
Die politische Wende sorgte dafür, dass auch dieses
Kultprodukt aus den Regalen verschwand. Seitdem greift man nicht
mehr zum Klebstoff mit dem dazu passenden Nylonsack, um sich durch
einen Atemzug gute Laune zu verschaffen. Die freie Marktwirtschaft
hat die Verbreitung der Vielzahl an existierenden Drogen
ermöglicht, was Anfang der 90er-Jahre zum gründlichen
Wandel der bisherigen Betrachtungsprinzipien führte. Die
Justiz verabschiedete mit drakonischer Strenge ein Drogengesetz,
das den Drogenkonsum jeglicher Art mit einem Freiheitsentzug bis zu
drei Jahren bestrafte. In Weiterbildungskursen wurden Tausende von
Polizisten darin geschult, Drogenkonsumenten aufzuspüren. Die
Gefängniszellen füllten sich allmählich. Allein die
Entdeckung von Marihuana in Hosen- und Manteltaschen galt als
strafbar.
Gegen Kriminalisierung
Erst 1994 geriet das Problem an die breite Öffentlichkeit,
und zwar durch die Feder des Schriftstellers György
Konrád, der diese Praxis der Kriminalisierung anprangerte.
Heftige Reaktionen waren die Folge. Ein Teil der
Öffentlichkeit reagierte mit Hass und warf dem Autor die
Absicht vor, die Jugendlichen verderben zu wollen. Die Mehrheit der
Leserbriefschreiber stimmte mit Konrads These überein, dass
die pure Kriminalisierung die Betreffenden vor einer
ärztlichen Behandlung abschreckt.
Die Paragrafen blieben zunächst unverändert, obwohl
die Prävention und die Heilung allmählich in den
Vordergrund rückten. Prospekte wurden gedruckt und verteilt.
Die Schulkinder galten als Zielgruppe Nr. 1.
Mitte der 90er-Jahre wurde die Definition der Drogenkonsumenten
festgelegt: "Zu solchen zählen Personen, die täglich oder
anlassbedingt Drogen zu sich nehmen und in dem Verzeichnis der
Drogenambulanzen, psychiatrischen Zentren, Heilstätten
für nervenkranke Kinder und Jugendlichen,
Kriseninterventionsabteilungen und drogentherapeutischen Institute
als behandelte Patienten auftauchen." Demnach lebten im Jahr 1997
in Ungarn insgesamt 8.494 registrierte Drogensüchtige, drei
Jahre später bereits 12.765. Gleichzeitig bewegte sich die
Zahl der behandelten Alkoholabhängigen in diesem Zeitraum in
der Skala um die 200.000 Menschen; die Dunkelziffer lässt sich
nur erahnen. Während die letzteren, wenn sie in ihrem Delirium
ihren Mitmenschen keine Verletzung zugefügt haben, als simple
Patienten betrachtet wurden, sahen sich die Drogenkonsumenten
automatisch mit einem Strafprozess konfrontiert. Wenn der
Ermittelte aber ordnungsgemäß vorweisen konnte, dass er
sich einer Drogentherapie unterzogen hatte, geriet er
unverzüglich auf freien Fuß. Dieser Usus wurde bis zur
Legislaturperiode der rechtskonservativen Regierung unter Viktor
Orbán (1998 bis 2002) praktiziert. Seine Juristen "erlaubten"
wiederum ausschließlich den bereits Abhängigen den
Freigang aus dem Gefängnis zu einer Drogenbehandlung. Diese
jungen und dynamischen Politiker versuchten vielmehr durch die
Härte der Paragrafen die Drogenabhängigen von der
Beschaffung und Nutzung dieser verbotenen Mittel abzubringen. Dies
führte dazu, dass im Jahr 2000 insgesamt 3.445
Drogenkonsumenten (Dealer und Süchtige) hinter Gittern
saßen (1990 nur 34), während die Zahl der
Heilungssuchenden, wie erwähnt, ebenfalls stieg.
Als im April 2002 die Regierung von Peter Medgyessy an die Macht
kam, schickte er im Zeichen seiner sozialliberalen Politik sogleich
seine eigenen Drogenspezialisten an die Arbeit. In Ungarn gibt es
nämlich von jedem Fachmann gleich zwei Sorten: die Linken und
die Rechten, die sich privat oder aus früheren
Arbeitsverhältnissen gut kennen, einander aber doch als
Erzfeind betrachten. Nun haben die linken Juristen die
Machenschaften ihrer rechten Vorgänger unter die Lupe genommen
und gleich alles auf den Kopf gestellt. Und zwar gründlich und
in mehreren Etappen. Von der Strafbarkeit wurden diejenigen
Bürger ausgenommen, die "Drogen in kleineren Menge herstellen,
organisieren oder bei Zusammenkünften einander abgeben oder
anbieten" oder "Jugendliche unter 21, die im Gebäude von
Bildungs- und Erziehungsanstalten und Kulturinstitutionen anderen
Personen Drogen anbieten". Das Parlament hat Anfang 2003 dem
Gesetzesentwurf zugestimmt. Um die Großartigkeit der neuen
Paragrafen zu belegen, wurde bald darauf eine Umfrage unter der
Bevölkerung durchgeführt. Dieser gemäß
votierten 53 Prozent der Befragten zustimmend, 43,09 Prozent
hielten die Modifizierung für falsch und drei Prozent konnten
sich keine Meinung dazu bilden. Die Oppositionspartei kommentierte
die Umfrage mit der prekären Feststellung: "Von nun an
zählen in Ungarn nur Lenin und Osama Bin Laden zu
strafrechtlichen Verbrechern."
Der Kampf gegen den Drogenkonsum wurde Bestandteil der
"nationalen Strategie" des Landes - eines groß angelegten
Aktionsprogramms, das vorerst zur Sicherung des Beitritts in die
Europäische Union vorgesehen war.
Die praktische Arbeit leistet das Koordinierungskomitee zur
Drogenfrage, welches aus 18 staatlichen Organen besteht. Unter
seiner Führung sind acht Fachgremien tätig. Die
verantwortungsvolle Arbeit leitet Edina Gábor, eine
stellvertretende Staatssekretärin aus dem Ministerium für
Jugend und Sport. Die konkreten Ergebnisse ließen auf sich
warten und erst im Juni 2003 konnten sich Vereine, Institute und
Zivilorganisationen um die Unterstützung von
Vorbeugungsprogrammen aus dem zur Verfügung stehenden Mittel
von 1,4 Millionen Euro bewerben. Eine Million stammten aus der EU,
400.000 steuerte das ungarische Ministerium bei. Bis heute wurden
91 Prozent der Gelder ausgeschöpft und an 50 Organisationen
ausgezahlt. Im Internet sind sechs Seiten zu Drogenproblematik
eingerichtet worden, in jeder Komitatshauptstadt entstand ein
Drogenzentrum und in Budapest wurde unlängst ein moderner
Nadelwechselautomat eingeweiht.
Auf dem 18. Platz in der EU
Unter den 25 EU-Ländern befindet sich Ungarn im Bereich der
Drogenverbreitung auf dem 18. Platz. Allerdings wurden seit der
Öffnung der Grenzen und Milderung der Kontrollen in
regelmäßigen Abständen größere
Drogenmengen aufgedeckt. Mal 100.000 Ecstasy-Tabletten in Szeged,
mal 42 Kilogramm Heroin in Pécs. Das Land avancierte
pessimistischen Stimmen zufolge mittlerweile zum Transitland des
Drogenhandels zwischen Ost und West und habe damit das ehemalige
Jugoslawien leicht überrundet.
In Ungarn geht der Kampf zwischen den Parteien weiter. Das
Verfassungsgericht hat Mitte Dezember vergangenen Jahres wieder
einige Revidierungen beschlossen und das Kiffen bei
Zusammenkünften doch für strafbar erklärt. Knapp
anderthalb Jahre verbleiben bis zu den nächsten Wahlen. Im
Frühjahr 2006 wird erneut ein Drogenbericht erscheinen, und
bis dahin hat das Koordinierungskomitee reichlich zu tun. Als
erstes muss ein Leitfaden für die Polizisten zum
Aufspüren der immer stärker wachsenden Zahl an
Hanffeldern verfasst werden. Ansonsten begeben sich die
oppositionellen Rechtskonservativen auf die Suche und es ist zu
befürchten, dass sie nicht mit leeren Händen
heimkehren.
Die Autorin arbeitet als Journalistin in Berlin.
Zurück zur
Übersicht
|