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Eva Haacke
Ein Volk von Trinkern und Rauchern
Absolut gesellschaftsfähig: Alkohol und
Nikotin
9,3 Millionen Deutsche trinken
übermäßig viel Alkohol; 1,6 Millionen gelten bereits
als abhängig. Fast 17 Millionen rauchen regelmäßig,
und 5,8 Millionen von ihnen brauchen über 20 Zigaretten
täglich für ihre Sucht. Der Konsum von Tabak und Alkohol
beginnt immer früher, der Ausstieg ist schwierig.
Tobias war 13, als er sich zum ersten Mal bis
ins Koma soff. Vanessa aus Hamburg probierte mit 12 auf einer
Silvester-Party ihre erste Zigarette - jetzt ist sie 15 und raucht
eine Packung am Tag. Die beiden Jugendlichen stehen für einen
Trend, den die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Marion
Caspers-Merk (SPD) als "sehr besorgniserregend" bezeichnet. Denn je
früher der Einstieg in Tabak- oder gar Alkoholsucht erfolgt,
desto geringer sind die Chancen auf eine Rückkehr in ein
drogenfreies Leben. Im Gegenteil: In der Clique und später in
der eigenen Familie werden die Nikotin- und Trinkgewohnheiten meist
direkt weitergegeben - ein Teufelskreis. "Familiäre
Vorbelastung, das männliche Geschlecht und
Persönlichkeitsstörungen" sind laut Professor Gerhard
Wiesbeck von der Psychatrischen Universitätsklinik in Basel
Hauptursachen des Suchtverhaltens.
Tabak und Alkohol gelten zwar als
gesellschaftlich gebilligt, beides zählt die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) aber genauso wie Cannabis, Heroin
oder Opium zu den Drogen. Darunter fallen alle Substanzen, die
Funktionen des Organismus verändern. Denn viel zu schnell wird
abends aus einem Glas Wein ein halber Liter, und viele, die
glauben, sie könnten jederzeit mit dem Rauchen aufhören,
hängen längst an der Kippe. Die WHO hat mit vier
Kriterien definiert, wer als süchtig gilt: 1. Es besteht ein
unbezwingbares Verlangen, das Suchtmittel zu beschaffen und
einzunehmen. 2. Es werden immer höhere Dosierungen
benötigt. 3. Es kommt zu seelischer und körperlicher
Abhängigkeit. 4. Es entsteht Schaden für andere und die
Gesellschaft.
Allein beim Rauchen sind die Zahlen für
Deutschland alarmierend: 35 Prozent der erwachsenen
Bevölkerung zwischen 18 und 59 Jahren inhalieren den blauen
Dunst, das sind knapp 17 Millionen Menschen. Pro Kopf und Lungen
werden jährlich durchschnittlich 1.800 Zigaretten konsumiert.
Der Anteil der Männer beträgt dabei 39 Prozent, der der
Frauen 31 Prozent. Insgesamt lässt sich laut Caspers-Merk
beobachten, dass der Anteil der männlichen Raucher seit 1997
etwas abgenommen hat, während die meisten Frauen weiter am
Glimmstengel hängen. Schlimm stellt sich die Situation bei den
Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren dar: Der erste
Zug an der Zigarette erfolgt durchschnittlich bereits mit 13,5
Jahren. Je jünger die Raucher, desto mehr Mädchen machen
mit, beklagt Caspers Merk. Zwischen 12 und 15 Jahren liegt der
Anteil der rauchenden Mädchen mittlerweile bei 21 Prozent
(Jungen: 18 Prozent).
Bei jungen Frauen hat der Nikotinkonsum oft
besonders gravierende Konsequenzen: Unter den Schwangeren rauchen
immer noch 20 Prozent, jede dritte Schwangere ist fremdem
Tabakrauch ausgesetzt. Die Folge sind teilweise schwer
geschädigte Säuglinge. Dramatisch gestiegen sind
außerdem die Brust- und Lungenkrebserkrankungen bei Frauen.
Noch viel zu wenig erfasst werden laut Bundesgesundheitsministerium
die Schäden und Folgekosten für Nichtraucher durch
zwangsweises Passivrauchen in öffentlichen Räumen oder
beispielsweise in Kneipen und Restaurants.
Effekt der Tabaksteuer
Klar ist, dass jährlich über
110.000 Menschen an den Folgen ihres Tabaksucht sterben, sehr viele
durch Krebs. Darüber hinaus sterben etwa 37.000 durch
Kreislauferkrankungen und 20.000 durch Atemwegserkrankungen - das
sind insgesamt über 1,5 Millionen verlorene Lebensjahre. Der
volkswirtschaftliche Schaden durch die Raucherei ist enorm: Die
Deutsche Hauptstelle für Sucht schätzt die Kosten durch
Arbeitsausfälle, belegte Klinikbetten, Kuren und aufwendige
Krebstherapien auf rund 17,3 Milliarden Euro, das sind über
ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Trotzdem verlangt keine
Krankenkasse bisher einen Raucherzuschlag.
Einen kleinen Effekt auf das Rauchverhalten
hatte immerhin die Anhebung der Tabaksteuer. Dies geht aus der
Studie "Umsetzung, Akzeptanz und Auswirkungen der
Tabaksteuererhöhung" des Bundesgesundheitsministeriums hervor:
Danach haben knapp acht Prozent der Raucher aufgehört, weitere
16,5 Prozent haben ihren Tabakkonsum reduziert. Ein Erfolg mit
Einschränkungen: "Viele sind wegen der Verteuerung auf
handgedrehte Zigaretten oder Schmuggelware umgestiegen", berichtet
ein Mitarbeiter des Finanzministeriums und beklagt den Einbruch bei
den Tabaksteuereinnahmen. Die Regierungskoalition hatte die
Tabaksteuer in den vergangenen Jahren mehrfach erhöht,
allerdings nicht für Tabak zum Selberdrehen. Anfang 2002 und
2003 wurde sie jeweils um einen Cent pro Zigarette heraufgesetzt.
Eine weitere dreistufige Anhebung um je 1,2 Cent erfolgte im
Frühjahr und im Dezember 2004 und ist für September 2005
vorgesehen.
Neben den Steuererhöhungen versucht
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) mit Programmen wie
"Rauchfrei 2004", Aufklärungskampagnen für Jugendliche
"Feel free to say no" und Werbeverboten die Sucht nach dem
Glimmstengel zu bekämpfen. Seit 2002 ist eine neue
Arbeitsstättenverordnung in Kraft. Danach muss niemand mehr am
Arbeitsplatz Raucher dulden. Allerdings sind fast alle Restaurants
und Kneipen Raucherzonen. Und wer auf einem Bahnhof oder Flughafen
frühstücken will, wird ganz selbstverständlich zum
Passivrauchen gezwungen.
Laut Drogenbericht der Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung trinken etwa 40 Prozent
der 16- bis 25-Jährigen regelmäßig Alkohol. Genauso
viele sind mindestens einmal im Jahr total betrunken. Jugendliche
zwischen 20 und 25 Jahren trinken besonders viel, ein Fünftel
von ihnen mehr als zehn Gramm reinen Alkohol pro Woche - das
entspricht drei Litern Bier. Über das Verhalten der
Jüngeren berichtet das Berliner Robert-Koch-Institut in einer
Umfrage unter 9.000 Berliner Schülern: Im Durchschnitt sind
die Jugendlichen zum Zeitpunkt des ersten Alkoholkonsums 11,5 Jahre
alt. Besäufnisse sind offenbar auch nicht selten: Von den
befragten Schülern der fünften Klasse, das heißt den
Elfjährigen, waren immerhin gut zehn Prozent schon einmal
richtig blau. Bei den 13-Jährigen haben schon 26 Prozent und
bei den 15-Jährigen bereits 55 Prozent einen Vollrausch
erlebt.
Bei der Frage, wie viel Alkohol Kinder und
Jugendliche trinken, spielen der Einfluss der Clique und des
Freundeskreises die größte Rolle, fand das Kieler
Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung (IFT-Nord)
heraus. Auch das Elternhaus hat entscheidenden Einfluss: Kinder aus
Familien, in denen mindestens ein Elternteil Alkoholprobleme hat,
haben ein dreifach höheres Risiko, später selbst
alkoholkrank zu werden.
Bundesweit beobachtet die Hauptstelle
für Suchtfragen (DHS) bei 9,3 Millionen Bundesbürgern
bereits einen "riskanten" Alkoholkonsum - quer durch alle sozialen
Schichten. Daneben gibt es rund 1,6 Millionen Alkoholiker mit etwa
vier Millionen betroffenen Angehörigen. Zum Vergleich: Die
Zahl der Abhängigen von harten Drogen wird mit 250.000 bis
300.000 angegeben. Jährlich werden nach Angaben des
Bundesgesundheitsminiseriums 42.000 Todesfälle registriert,
die direkt oder indirekt durch Alkoholkonsum herbeigeführt
wurden, etwa durch Autounfälle. "Umgerechnet sind das
täglich mehr als der Absturz von drei voll besetzten Jumbos",
rechnet Professor Jobst Böning, Leiter der Bayrischen Akademie
für Suchtfragen, vor. Die Lebenserwartung von Alkoholikern
liegt 15 Jahre unter dem Durchschnitt.
Mehr als 220.000 Menschen müssen jedes
Jahr infolge ihrer Alkoholsucht medizinisch betreut werden. Und
etwa 150.000 bis 200.000 alkoholkranke Frauen bringen jährlich
bis zu 3.000 Kinder mit schweren, alkoholbedingten Schäden zur
Welt.
Ähnlich wie beim Rauchen sind die
volkswirtschaftlichen Schäden gigantisch: Mehr als 20
Milliarden Euro werden laut einer Studie der Freien
Universität Berlin jährlich nur durch ambulante
Behandlungen, Reha-Maßnahmen und Betreuung verursacht. Hinzu
kommen zwölf Milliarden Euro durch Arbeitsunfälle,
Krankentransporte und Gewaltverbrechen. Vergleichsweise wenig nimmt
der Staat mit etwa 3,4 Milliarden Alkoholsteuern ein.
Für viele Alkoholkranke ist der Ausstieg
schwierig, obwohl es in Deutschland viele ambulante und
stationäre Einrichtungen für Entziehungskuren gibt und
die Krankenkassen Alkoholismus als Krankheit anerkennen. Bundesweit
gibt es über 1.300 Beratungsstellen, 10.000 ambulante und
14.000 stationäre Therapieplätze. Darüber hinaus
bieten 8.000 Selbsthilfegruppen (www.anonyme-alkoholiker.de oder
www.blaues-kreuz.de) Hilfe an, denn viele Menschen sind
abhängig, ohne das es ihnen bewusst ist. Die Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung empfiehlt einen einfachen
Test, um die eigenen Trinkgewohnheiten zu überprüfen:
"Leben Sie vier bis sechs Wochen alkoholfrei. Dadurch können
Sie erkennen, inwieweit Sie sich bereits an Alkohol gewöhnt
haben und ob die körperliche oder geistige
Leistungsfähigkeit schon beeinträchtigt ist."
Eva Haacke ist Korrespondentin der
"WirtschaftsWoche" in Berlin.
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