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Niemand kann den Partner "trocken"
schwätzen
Nicht nur Alkoholiker brauchen eine Therapie,
auch ihre Angehörigen leiden - unter einer
Co-Abhängigkeit
"Co-Abhängigkeit" ist das Stichwort, das
der Sozialpädagogin Rosemarie Heger einfällt, wenn sie
von ihrer Betreuungsarbeit mit Angehörigen von Alkoholikern
berichtet. Die Sucht verändere massiv den Alltag und das
Verhalten der Mitbetroffenen, berichtet Heger, die seit 19 Jahren
in der psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle "Die
Gierkezeile" in Berlin-Charlottenburg arbeitet. Durch
Gruppensitzungen und Einzelberatungen hilft sie den Partnern von
Alkoholabhängigen, Schritt für Schritt ihre
Unabhängigkeit zurückzugewinnen und ein weniger
belastetes Leben zu führen.
Das Parlament:
Warum müssen Angehörige von
Alkoholikern beraten und betreut werden - sie sind doch weder krank
noch süchtig?
Rosemarie Heger: Jemand, der über
längere Zeit mit einem Alkoholkranken zusammenlebt, sorgt sich
natürlich sehr. Er hat unangenehme Diskussionen mit dem
Angehörigen, viel Ärger und sehr große
Schwierigkeiten in der Beziehung. Entscheidet sich der
Alkoholkranke für eine Behandlung, ändert sich die
Partnerbeziehung massiv. Die Angehörigen - in der Regel sind
es Frauen - verhalten sich immer noch so, als ob der
Angehörige getrunken hätte. Wenn der Alkoholiker
behandelt wird, sollte auch der Angehörige behandelt werden,
weil er genauso abhängig ist - zwar nicht vom Suchtmittel,
aber vom Alkoholkranken. Die Angehörigen konzentrieren sich in
ihrem Verhalten nur noch auf den suchtkranken Partner und seine
Reaktionen. Sie führen kein unabhängiges Leben mehr und
versagen sich ihre eigenen Wünsche und
Bedürfnisse.
Das Parlament:
Alkoholismus macht also auch die
Angehörigen krank?
Rosemarie Heger: Das macht sie total
krank. Manchmal macht es sie sogar noch kränker als den
Betroffenen selbst, psychisch und auch körperlich. Viele
Frauen reagieren auf die schwierige Lebenssituation mit
psychosomatischen Krankheiten.
Das Parlament:
Wenn sich der Alkoholkranke für eine
Behandlung entschieden hat, ist allerdings schon ein wichtiger
Schritt getan. Brauchen Angehörige nicht vorher schon
Hilfe?
Rosemarie Heger: Natürlich kommen
sehr viele Angehörige zur Beratung, die alles versucht haben,
ihren Partner zur Behandlung zu drängen, und wissen wollen,
was sie noch tun können, damit der Partner aufhört zu
trinken.
Das Parlament:
Was raten Sie? Gibt es ein klassisches
Fehlverhalten von Angehörigen, das auf den Abhängigen
suchtfördernd wirkt?
Rosemarie Heger: Ja, der klassische
Fall ist, dass die Angehörigen versuchen, den Alkoholkranken
zu kontrollieren, dass sie Flaschen suchen, Flaschen auskippen,
nachforschen, ob er getrunken hat oder nicht. Das führt dann
zu einem Katz-und-Maus-Spiel, weil die Alkoholiker unglaublich
erfinderisch darin werden, ihren Konsum zu verheimlichen. Im Laufe
der Jahre übernimmt der Angehörige immer mehr
Verantwortung und der Süchtige immer weniger.
Das Parlament:
Besteht nicht bei den Angehörigen
zunächst auch das Problem des Vertuschens, bevor sie sich
eingestehen, dass der Partner süchtig ist?
Rosemarie Heger: Die Partner
vertuschen erst einmal viele Jahre, weil sie sich schämen.
Alkoholismus ist schließlich eine Krankheit, die man nicht so
nebenbei seinem Friseur erzählen kann. Es gilt in dieser
Gesellschaft als peinlich, wenn jemand mit Alkohol nicht umgehen
kann. Also entschuldigt die Partnerin den Mann, der seinen Rausch
ausschlafen muss, beim Arbeitgeber mit einer Grippe, anstatt ihn
das selbst ausbaden zu lassen.
Das Parlament:
Die Partner sollten also keine Verantwortung
für den Süchtigen übernehmen?
Rosemarie Heger: Es ist ganz wichtig,
dass der Angehörige für die Folgen des Trinkverhaltens
nicht aufkommt, sondern sie dem Alkoholiker überlässt.
Wir nennen das Konstruktiven-Druck-Aufbauen. Die meisten verhalten
sich aber anders. Sie versuchen, die Folgen auszubügeln, sie
entschuldigen den Partner, begleichen seine Schulden und
übernehmen immer mehr die Verantwortung für ihn. Es nutzt
auch nichts, dem Partner zu sagen, er müsse nun endlich etwas
tun. Auch Drohungen, die dann nicht eingehalten werden, bringen
nichts. Stattdessen sollten die Angehörigen sich wieder auf
ihre Eigenbedürfnisse konzentrieren und Ich-Botschaften
aussenden. Sie sollten dem Partner sagen: Ich möchte dich
nicht mehr so. Mir geht es schlecht, wenn du so viel trinkst. Ich
möchte nicht mehr so leben, und ich lebe mein Leben jetzt
anders. Und wenn wegen der Sucht eine Absage gegeben werden muss,
sollten sie die ruhig so begründen, dass man alleine komme,
weil der Partner besoffen sei.
Das Parlament:
Die Angehörigen haben sicher Angst, dass
sie den Süchtigen mit solch einem Verhalten noch mehr in die
Sucht treiben, dass er sich im Stich gelassen fühlt und noch
mehr isoliert.
Rosemarie Heger: Das wird er sowieso
tun. Je mehr man vertuscht, Verantwortung übernimmt, sich
sorgt, desto länger besteht die Sucht. Die Angehörigen
sollten sich so früh wie möglich beraten lassen, sich in
einer Angehörigengruppe austauschen und die eigenen Reaktionen
reflektieren, um Stück für Stück von den
kontrollierenden Verhaltensweisen weg zu kommen. Gerade Frauen
müssen lernen, dass sie keine Verpflichtung haben, ihren
Partner "trocken" zu schwätzen. Das geht auch gar
nicht.
Das Parlament:
Fühlen sich viele Angehörige
schuldig? Machen die Süchtigen ihnen Vorwürfe?
Rosemarie Heger: Es gibt viele, die
sich schuldig fühlen. Sie erzählen, der Partner sage, er
müsse trinken, weil sie nicht nett genug zu ihm seien, sich
nicht genug um ihn kümmerten, nicht genug mit ihm schliefen
oder immer nörgelten. Da ist natürlich überhaupt
nichts dran. Der Betroffene trinkt, weil er trinken will, egal aus
welchen Gründen. Das ist völlig unabhängig davon,
wie die Partnerin oder der Partner sich verhält.
Das Parlament:
Können Angehörige und andere
Mitbetroffene unabhängig vom Süchtigen zu einer Beratung
kommen?
Rosemarie Heger:
Selbstverständlich, das ist sogar empfehlenswert. In der
Beratung gibt es keine Tipps, wie man mit dem Süchtigen
umgeht, sondern es geht darum, was der Angehörige tun kann, um
unabhängiger zu werden. Die eigene Abhängigkeit von dem
alkoholkranken Partner muss bearbeitet werden. Das Thema ist die so
genannte Co-Abhängigkeit.
Das Parlament:
Wenn diese Unabhängigkeit gelingt, hat
das dann auch Auswirkungen auf das Suchtverhalten des
Partners?
Rosemarie Heger: Manchmal hat es die
Auswirkung, dass sich die Partner trennen. Manchmal bewirkt es,
dass der Partner hellhörig wird, und sich überlegt, sein
Leben zu ändern, und manchmal hat es zur Folge, dass der
Alkoholiker so bleibt, wie er ist, die Partnerin jedoch neben ihm
ihr eigenes Leben lebt. Ziel der Therapie ist eine
größere Zufriedenheit der Angehörigen,
unabhängig davon, wie es um das Suchtverhalten des
Alkoholkranken steht.
Das Parlament:
Wie sollten sich Kollegen eines
Süchtigen verhalten?
Rosemarie Heger Ähnlich wie die
Angehörigen. Sie sollten dem Betroffenen sagen, dass sie nicht
mehr bereit sind, seine Arbeit mit zu machen, dass sie nicht mehr
bereit sind, ihn zu decken und dass sie den Vorgesetzten über
die Situation informieren. Sie sollten dem Betroffenen vermitteln,
dass er selbst Verantwortung für sich übernehmen
muss.
Das Parlament:
Wie wirkt sich Alkoholismus auf das Leben der
Kinder aus?
Rosemarie Heger: Die Kinder sind
natürlich die größten Leidtragenden. Kinder, die in
Suchtfamilien aufwachsen, haben denkbar schlechte Lebenschancen.
Nicht nur, weil sie Gefahr laufen, selber suchtkrank zu werden, da
sie in der Familie lernen, dass man auf kleinste Probleme mit
Alkoholkonsum reagiert. Sie leben in einer Familie, in der es keine
Verlässlichkeit gibt. Es gibt keinen Schutz von den Eltern,
die selber hilflos und schwach sind.
Das Parlament:
Gibt es auch Beratungen für
Kinder?
Rosemarie Heger: Es gibt auch Gruppen
für Kinder. Für Kinder ist es ganz wichtig, dass sie
einfach mal ihren Frust, ihren Ärger, ihre Angst und ihren
Ekel aussprechen können. Sie brauchen es, dass sie über
die Probleme in ihrer Familie reden können und das Thema nicht
länger als Geheimnis behandeln müssen. Es geht dann auch
darum zu verhindern, dass die Kinder in ihrem Leben selber ein
Suchtverhalten entwi-ckeln, dass sie süchtige Verhaltensweisen
in die Partnerbeziehung tragen oder sich - wie viele Mädchen
aus Suchtfamilien - immer wieder für süchtige Partner
entscheiden. Je mehr die Kinder lernen, ihre Gefühle zu
äußern, desto mehr lernen sie, ihre
Selbstheilungskräfte zu aktivieren und seelische Verletzungen
zu verarbeiten.
Das Interview führte Ulrike Schuler. Sie
arbeitet als freie Journalistin in Berlin.
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