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Susanne Kailitz
Die Sucht, die niemand sieht
1,5 Millionen Deutsche sind
medikamentenabhängig
Maria M. ist süchtig. Doch niemand, der die
gepflegte Frau ansieht, würde das annehmen. Die Sucht der
Angestellten ist nicht schmuddelig wie die der
Drogenabhängigen oder Alkoholiker. Maria M. besorgt sich ihren
Stoff ganz legal in der Apotheke, sie bewahrt ihn in ihrer
Handtasche auf, jeder, der will, kann ihn sehen: Maria M. ist
medikamentensüchtig, sie ist abhängig von
Beruhigungsmitteln.
Rosemarie Heger, Sozialpädagogin in der
Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle "Die Gierkezeile"
arbeitet seit vielen Jahren mit Frauen wie Maria M. "Das
Tückische an der Medikamentenabhängigkeit ist, dass es
eine so stille Sucht ist. Die meisten Frauen haben doch ganz
selbstverständlich Kopfschmerztabletten in ihrer Handtasche -
und niemand, oft auch sie selbst nicht, würde auf die Idee
kommen, dass sie davon abhängig sind." Dennoch ist die Zahl
der Betroffenen hoch und Experten gehen davon aus, dass die
Medikamentenabhängigkeit nach dem Alkoholismus auf Platz zwei
der Suchtkrankheiten rangiert. "Nach offiziellen Zahlen der
deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren haben wir in
Deutschland ungefähr 1,5 Millionen Menschen, die abhängig
von Medikamenten sind - und man kann davon ausgehen, dass die
Dunkelziffer viel höher ist", erklärt Professor Andreas
Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
an der Berliner Charité. Die Deutsche Hauptstelle für
Suchtgefahren unterscheidet fünf süchtigmachende
Medikamentengruppen: Schmerzmittel, Hustenmittel, Schlafmittel,
Beruhigungsmittel und Aufputschmittel. Etwa 80 Prozent der
Betroffenen sind abhängig von den verschreibungspflichtigen
Benzodiazepinen, mit denen etwa Angstzustände und
Schlafstörungen behandelt werden. Diese Präparate werden
dann zum Risiko, wenn sie länger als sechs Monate lang
regelmäßig eingenommen werden.
Von der stillen Sucht betroffen sind vor
allem Frauen. Während Männer eher zum Alkohol greifen,
nehmen Frauen Pillen, die ihnen helfen, die Anforderungen des
Beruf- und Privatlebens zu meistern. Heger: "Sie sind so
sozialisiert, dass sie immer voll funktionieren wollen. Viele der
medikamentenabhängigen Frauen sind ganz perfektionalistische
Persönlichkeiten." Diese Beobachtung hat auch Andreas Heinz
gemacht. "Unsere Patienten sind häufig sehr gewissenhaft,
Menschen, die immer ihr Bestes geben wollen. Sie merken, dass die
Medikamente - oft in Kombination mit Koffein - ihre
Leistungsfähigkeit steigert und die Reaktionszeit
verkürzt. Diesen Zustand will man dann natürlich
erhalten."
Der Weg zur Sucht verläuft im Falle von
Medikamentenabhängigkeit meist still und unbemerkt. Das
Medikament wird immer wieder eingenommen, um Symptome zu behandeln.
"Anders als etwa bei Antidepressiva, die erst nach längerer
Einnahmezeit wirken, versetzen Benzodiazepine oder Schmerzmittel
die Betroffenen schnell von einem unangenehmen in einen angenehmen
Zustand. Der Körper merkt sofort, dass die Mittel wirken und
helfen", so Heinz. Doch nach einiger Zeit gewöhnt das Gehirn
sich an die Substanzen und die Dosis muss erhöht werden, damit
das Medikament wirkt. An dieser Stelle setzt ein Teufelskreis ein:
"Wenn die Medikamente abgesetzt werden, tritt speziell im Fall von
Kopfschmerzmedikamenten ein Absetzeffekt in Form von
medikamenteninduzierten Kopfschmerzen ein. Die lösen dann den
ursächlichen Schmerz ab - und führen dazu, dass die
Patienten wieder zu den Medikamenten greifen, um schmerzfrei zu
sein. Ich habe eine Frau behandelt, die seit über 30 Jahren
Migränemittel in extrem hohen Dosen eingenommen hat, ohne zu
wissen, dass ihre Kopfschmerzen gar nicht mehr aus der Migräne
resultierten, sondern aus dem Medikamentenmissbrauch." Auch das
Absetzen der Benzodiazpine geht oft mit einer Verstärkung der
ursächlichen Symptome einher: Unruhe und Angstzuständen.
Diese Mechanismen machen es den Betroffenen schwer, ihre Sucht
überhaupt zu erkennen. Rosemarie Heger erlebt immer wieder
Menschen, denen es unendlich schwer fällt, sich einzugestehen,
dass sie abhängig sind. Oft seien es die Partner oder andere
Familienangehörige, die bemerkten, dass etwas schief laufe.
"Der Partner ist da und doch nicht da - die Medikamente wirken wie
eine Gummiwand, die Nähe unmöglich macht." Die Symptome
einer Medikamentenabhängigkeit sind zudem diffus:
Appetitlosigkeit, Vergesslichkeit und Gleichgültigkeit sind
Anzeichen, die oft nicht wirklich ernst genommen werden. Und wer
reflektiert in der Hektik des Alltags schon darüber, wieviele
Kopfschmerztabletten er in den vergangen Tagen eingenommen hat?
"Die Krankheitseinsicht ist in diesem Fall sehr schwierig. Man
bekommt die Medikamente ja oft vom Arzt und konsumiert sie in dem
guten Glauben, sie wirklich zu brauchen - und dieser Eindruck wird
durch die Entzugserscheinungen verstärkt."
Suchtexperten beklagen häufig, dass
Ärzte allzu sorglos zum Rezeptblock greifen - die Tatsache,
dass zwei Drittel der betroffenen Patienten immer wieder zu ein-
und demselbenen Arzt gehen, um sich ihre Medikamente wieder und
wieder verschreiben zu lassen und eben nicht das vielzitierte
"Doctor-hopping" betreiben, gibt ihnen recht. Die Einsicht, dass
die Helfer, die den Alltag überstehen lassen, abgesetzt werden
müssen, ist für die Betroffenen entsprechend bitter und
geht mit vielen Ängsten einher. Der Entzug ist jedoch dringend
erforderlich: Zu den Auswirkungen der Abhängigkeit
gehören Gedächtnisstörungen und
Reaktionsverzögerungen ebenso wie Leber- , Magen- und
Nierenschäden sowie Gefäßveränderungen. Die
Therapie ist abhängig vom Medikamententyp. Während
Kopfschmerzmittel auf einen Schlag abgesetz werden sollten,
verursachen Beruhigungsmittel oft starke Nebenwirkungen, die nur
durch das langsame Ausschleichen aus dem Körper gemildert
werden können. "Bei einem solchen massiven Entzug empfiehlt
sich eine stationäre Therapie", rät Andreas Heinz. Diese
ein- bis vierwöchige Therapie solle möglichst in einer
psychiatrischen Station absolviert werden.
Häufig stecken hinter der
Abhängigkeit behandlungsbedürftige Probleme wie
Panikattacken, Ängste oder Depressionen. Die Behandlung der
Medikamentenabhängigkeit führt meist vieles, das
zunächst unentdeckt war, zu Tage. Rosemarie Heger: "Mit der
Medikamentenabhängigkeit wird oft etwas zugedeckt, das
belastet. Wer Betäubungsmittel nimmt, macht ja im wahrsten
Sinne des Wortes dicht. Deshalb bedeutet die Therapie immer auch,
dass das ganze Leben hinterfragt und meist auch grundlegend
verändert werden muss."
Die Autorin ist Volontätin bei der
Wochenzeitung "Das Parlament".
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