Grenzen ohne Abstinenzdogma
Interview mit Marion Caspers-Merk, der
Drogenbeauftragten der Bundesregierung
Marion Caspers-Merk (SPD) ist seit 2002
Drogenbeauftragte der Bundesregierung. Die studierte
Politikwissenschaftlerin aus Baden-Württemberg gehört
seit 1990 dem Bundestag an. Vor ihrer Amtsübernahme engagierte
die 49-Jährige sich vor allem in der SPD-Gemeinschaft für
Kommunalpolitik und in der Enquete-Kommission "Schutz des Menschen
und der Umwelt".
Das Parlament:
Frau Caspers-Merk, anders als Ihre
Vorgänger engagieren Sie sich stark gegen die Verbreitung
legaler Drogen. Warum?
Marion Caspers-Merk: Drogenpolitik
muss ausgewogen sein. Alkohol und Tabak sind die Volksdrogen Nummer
Eins. Und vor allem für Jugendliche gilt: Wer früh
Alkohol und Tabak konsumiert, ist eher geneigt, auch Riskanteres
auszuprobieren und eines Tages illegale Drogen zu nehmen. Deswegen
steht eine erfolgreiche Drogenpolitik geradezu in der Pflicht, das
gesamte Spektrum von Drogen und Süchten in den Blick zu
nehmen.
Das Parlament:
Früher wurde vor allem und mit viel
Verve diskutiert, ob Cannabis eine Einstiegsdroge in die Welt der
harten Drogen sei. Sie sagen: Jede Droge ist eine
Einstiegsdroge?
Marion Caspers-Merk: Ja. Jedenfalls
eine potenzielle. Zahlreiche Untersuchungen sprechen da eine
eindeutige Sprache. Außerdem erschrickt das Maß, in dem
legale Drogen konsumiert werden. Statistisch zündet ein
Jugendlicher seine erste Zigarette mit zwölf oder 13 an, den
ersten Alkohol trinkt er mit 13 oder 14. Und: Die mit Abstand
größte Gruppe Suchtkranker, nämlich geschätzte
1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind von dem allerorten
verfügbaren Stoff Alkohol abhängig. 40.000 sterben
jährlich an den Folgen ihres Alkoholkonsums. Der Schaden, den
legale Drogen in unserer Gesellschaft anrichten, wird zu selten
thematisiert.
Das Parlament:
Nun wird gerade Alkohol überall und
häufig völlig folgenlos konsumiert. Wo endet Genuss und
fängt Sucht an?
Marion Caspers-Merk: Kurz gesagt ist
süchtig, wer ohne einen bestimmten Stoff seinen Alltag nicht
mehr bewältigen kann. Kennzeichnend für Abhängigkeit
ist, dass die Droge Stück für Stück von einem Besitz
ergreift. Der Süchtige verliert seine Autonomie; er beginnt
sein Leben rund um den Konsum einer Droge zu organisieren und
stellt Freundschaften, Familie und beruflichen Erfolg hinten an.
Fast immer ist Heimlichkeit ein Faktor von Abhängigkeit. Ob
die Droge, die jemand konsumiert, legal oder illegal ist, ist dabei
nicht entscheidend.
Das Parlament:
Dennoch haben sich Ihre Vorgänger vor
allem mit so genannten harten Drogen beschäftigt.
Marion Caspers-Merk: Bis 1998
gehörte das Amt des Drogenbeauftragten zum
Bundesinnenministerium und war damit qua definitionem
ausschließlich für verbotene Stoffe zuständig. Die
rot-grüne Regierung hat das Büro im
Gesundheitsministerium angesiedelt. Das eröffnete die
Möglichkeit, nicht länger sicherheits-, sondern
gesundheitspolitische Fragen in den Mittelpunkt zu
stellen.
Das Parlament:
Ein weites Feld: Ungefähr 200.000
Jugendliche trinken täglich; sechs Prozent sind nach Ihren
Erkenntnissen alkoholabhängig, bevor sie 24 Jahre sind. Auch
der erste Griff zur Zigarette geschieht immer
früher.
Marion Caspers-Merk: Zum Rauchen
liegen uns erfreulicherweise erstmals rückläufige Zahlen
vor. Die von uns eingeleiteten Maßnahmen beginnen ganz
offensichtlich zu greifen. Wir haben nicht nur die Tabaksteuer
erhöht, sondern auch die Arbeitsstättenverordnung
novelliert und den Jugendschutz ausgebaut. Ich habe den Eindruck,
dass die gesellschaftliche Akzeptanz von Nikotin abnimmt und
Nichtrauchen allmählich zum Normalfall wird. Ich hoffe, dass
wir beim Alkohol bald ähnlich positive Ergebnisse verzeichnen
können. Denn natürlich muss Drogenpolitik sich auch daran
messen lassen, ob sie auf die gesellschaftspolitische Debatte
Einfluss nimmt.
Das Parlament:
Was macht Ihnen die größten
Sorgen?
Marion Caspers-Merk: Sehr viele
Jugendliche neigen zu immer riskanteren Drogenkonsummustern. Sie
nehmen nicht eine, sondern alle möglichen Drogen gleichzeitig.
Und sie nutzen Drogen viel instrumenteller als früher: Der
Joint soll beruhigen, Ecstasy das Durchfeiern ermöglichen,
Alkohol wird ohnehin immer oben drauf gekippt. Die so genannte
Spaßkultur hat dazu geführt, dass Jugendliche alles
für machbar halten und sich keiner Risiken bewusst sind. Oder,
und das wäre noch beunruhigender: Sie sind sich der Risiken
bewusst und nehmen sie in Kauf. An diese Erkenntnis schließen
sich nicht nur drogen-, sondern vor allem gesellschaftspolitische
Fragen an: Wie ernst nimmt man Jugendliche? Welche Chancen und
Erfolgserlebnisse bietet man ihnen?
Das Parlament:
Hat die Einstiegsdroge die Ausstiegsdroge
ersetzt? Früher nahm man Drogen, um der Welt zu entfliehen,
heute, um mitmachen, Schritt halten und immer fit sein zu
können?
Marion Caspers-Merk: Da ist etwas
dran. Der Druck der Gleichaltrigen, aber auch der
Konsumgesellschaft ist enorm. Uns fehlt eine Gesellschaft, die den
Jugendlichen vorlebt, dass es auch ohne Drogen geht.
Das Parlament:
Grundsätzlich ist die Zeit des absoluten
Abstinenzdogmas aber vorbei?
Marion Caspers-Merk: Das heißt
aber nicht, dass ein drogenfreies Leben nicht erstrebenswert ist!
Es hat sich nur erwiesen, dass Drogenpolitik, die unter dem Motto
"Hände weg von Drogen!" lediglich mit einem ausgestreckten
Zeigefinger arbeitet, wenig zielführend ist.
Das Parlament:
Wie macht man es besser?
Marion Caspers-Merk: Prävention
ruht auf vier Säulen. Erstens muss sie eine glaubwürdige
Botschaft haben, die auch Informationen und schlüssige
Argumente enthält. Zweitens sollte die Gruppe der
Gleichaltrigen einbezogen werden; so genannte Peers werden von
Jugendlichen zum Beispiel häufig eher akzeptiert als
Erwachsene. Drittens braucht es kommunale und regionale Strategien,
die der Situation vor Ort gerecht werden. Viertens muss ein
Konzept, das Jugendliche ansprechen soll, auch ihre Sprache
sprechen und darf den Spaßfaktor nicht ignorieren. Jugendliche
probieren nun einmal vieles aus und überschreiten Grenzen.
Insofern: Kein Abstinenzdogma, aber klare Grenzen und wenn
nötig Sanktionen.
DasParlament:
Stichwort Sanktionen: Die Grünen setzen
sich nach wie vor für eine Freigabe von Haschisch und
Marihuana ein.
Marion Caspers-Merk: Eine
Legalisierung wird es mit dieser Bundesregierung nicht geben.
Worüber man reden muss, ist die Frage der Strafverfolgung von
Konsumenten, die von den Bundesländern immer noch
unterschiedlich gehandhabt wird.
Das Parlament:
...So unterschiedlich, dass in einem
Bundesland schon der Besitz von drei und in einem anderen erst der
von 30 Gramm Cannabis zu einer Verurteilung führt.
Marion Caspers-Merk: Wir haben dazu
ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Wenn es vorliegt, werden
wir sehen, ob Handlungsbedarf besteht. Grundsätzlich ist
Cannabis ein Stoff, dessen Konsum keineswegs risikolos ist und der
zu einer wahren Massendroge geworden ist. Unter den 18- bis
29-Jährigen hat sich die Verbreitung in den vergangenen zehn
Jahren fast verdreifacht. Immer mehr junge Menschen kiffen exzessiv
und sind fast den ganzen Tag breit. Beratungsstellen sehen immer
mehr Cannabis-Konsumenten, die Hilfe suchen. Wir brauchen keine
Freigabe, sondern eine Risikokommunikation zu Cannabis.
Das Parlament:
Seit Februar 2002 erhalten ausgewählte
Abhängige in sieben Städten Heroin auf Rezept. Hat sich
das bewährt?
Marion Caspers-Merk: Dabei handelt es
sich um eine Arzneimittelstudie, in deren Rahmen
Schwerstabhängige, die Heroin erhalten, mit Methadonpatienten
verglichen werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse liegen dazu noch
nicht vor. Einige Städte haben inzwischen die erste Phase des
Modellversuchs abgeschlossen; in anderen läuft sie
noch.
Das Parlament:
Gibt es erste Hinweise auf Erfolg oder
Misserfolg?
Marion Caspers-Merk: Erste
Eindrücke weisen darauf hin, dass wesentliche Ziele erreicht
sind: Es werden Abhängige erreicht, die durch die Drogenhilfe
zuvor nicht angesprochen wurden. Es gibt kaum Abbrecher. Und die
ersten haben aus dem Modellversuch in eine drogenfreie
Langzeittherapie gewechselt.
Das Parlament:
Aus Kommunen und Ländern wird die
Forderung laut, der Bund möge sich finanziell stärker an
den Kosten beteiligen.
Marion Caspers-Merk: Für die Zeit
des Modellversuchs können nach meinem Eindruck mit dem
Finanzierungsmodell Bund-Länder-Kommunen alle ganz gut leben.
Sollte das Projekt erfolgreich abgeschlossen werden, werden wir
eine Lösung finden, wie dieses Angebot dauerhaft finanziert
werden kann.
Das Parlament:
Zum Schluss die Gretchenfrage: Ist eine
drogenfreie Gesellschaft nicht eine Illusion?
Marion Caspers-Merk: Sich einer
drogenfreien Gesellschaft zu nähern ist erstrebenswert. Und
Menschen, die ein Recht auf Rausch fordern, blenden weite Teile der
Realität aus. Es gibt nicht nur den zu Erholungszwecken Drogen
konsumierenden Mittelschichtsbürger. Wer aus hedonistischen
Motiven die Entscheidung über jeden Drogenkonsum
individualisieren will, kollektiviert die damit einher gehenden
Risiken. Das geht so nicht.
Das Interview führte Jeannette
Goddar.
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