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Sabine Grüsser
Abhängig vom eigenen Verhalten
Noch fehlen eine genaue Beschreibung und
konkrete Hilfsangebote
In jüngster Zeit gründen sich
verstärkt neue Selbsthilfegruppen für exzessive,
belohnende Verhaltensweisen, die die Kriterien einer
Abhängigkeit zeigen (zum Beispiel exzessives Kaufen, Spielen,
Arbeiten, Sport treiben, exzessiver Sex). Trotz der hohen Anzahl an
Betroffenen, die Beratung und Hilfe suchen, gibt es bislang nur
wenig Kenntnisse zu diesen Störungsbildern. Eine genaue
Charakterisierung dieser so genannten Verhaltenssüchte sowie
ein entsprechendes Angebot im Hilfesystem fehlen weitgehend.
Beim Thema Sucht galt bislang das fachliche
und öffentliche Interesse überwiegend der stoffgebundenen
Abhängigkeit, also der Abhängigkeit von
bewusstseinsverändernden Substanzen (Alkohol, Cannabis oder
Heroin), und erst in jüngster Zeit wird die Aufmerksamkeit
auch auf die nichtstoffgebundenen Abhängigkeiten, die so
genannten Verhaltenssüchte, gelenkt. Zu den
Verhaltenssüchten, die insbesondere im deutschen Sprachraum
nur wenig beschrieben sind, zählen exzessiv ausgeübte
Verhaltensweisen, die einen belohnenden Effekt haben und die
Kriterien einer Abhängigkeit erfüllen.
Vor allem die Spielsucht ist in den letzten
Jahren verstärkt in den Focus der öffentlichen
Aufmerksamkeit geraten. Zur Verbreitung der Glücksspielsucht
in Deutschland gibt es derzeit kaum verlässliche Angaben. Die
Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren geht gegenwärtig
von 90.000 bis 150.000 beratungs- und behandlungsbedürftigen
Spielern aus, wobei hier noch nicht alle Formen des
Glücksspiels (zum Beispiel auch Wetten und Lotto) erfasst
sind. Über die anderen Formen von Verhaltenssüchten gibt
es bislang jedoch nur sehr wenige Informationen und genaue Angaben.
So wird berichtet, dass derzeit ungefähr 1,1 Prozent der
Bevölkerung weltweit, und 1,8 bis 8,1 Prozent der
amerikanischen Bevölkerung unter dem starken Drang, impulsiv
exzessiv zu kaufen leiden. In Deutschland wird von einer
Häufigkeit zwischen 6,5 und 8 Prozent berichtet. Für
Sexsucht wird in den USA eine Häufigkeit von drei bis sechs
Prozent angegeben, für Deutschland liegen bislang noch keine
Zahlen vor. Des Weiteren ist es, insbesondere für den
deutschen Sprachraum, recht schwierig eine genaue Häufigkeit
in Bezug auf das Auftreten von Verhaltenssüchten in der
Allgemeinbevölkerung zu bekommen.
Bereits vorliegende Zahlen zu der
Häufigkeit von Verhaltenssüchten in der Bevölkerung
deuten darauf hin, dass weltweit Millionen Menschen direkt von
ihnen betroffen sind. Durch soziale und berufliche
Verknüpfungen werden jedoch indirekt weitere Millionen
Menschen in Mitleidenschaft gezogen.
Am Ende des 19. Jahrhunderts waren die
allgemeinen Merkmale stoffgebundener und auch nichtstoffgebundener
Suchterkrankungen bereits bekannt worden. Es wurden vier spezielle
Suchtformen unterschieden, nämlich die Trunk-, Morphium-,
Kokain- und die Spielsucht.
Beim Abhängigkeitssyndrom, ob nun
stoffgebunden oder nicht, handelt es sich um eine Gruppe
körperlicher, verhaltensmäßiger und kognitiver
Phänomene. Diese beinhalten neuroadaptive (biochemische
Anpassung) Vorgänge, die den Wirkungen des Suchtstoffes
entgegengesetzt sind und zur Toleranzentwicklung führen, das
heißt, der Körper wird gegenüber der ihm
zugeführten Substanz tolerant, und somit muss diese in
höheren Dosen eingenommen werden, um die erwünschte
Wirkung zu erzielen. Darüber hinaus zählen das Auftreten
von Entzugssymptomen beim plötzlichen Absetzen der Substanz,
der unwiderstehliche Wunsch, eine Droge zu konsumieren, der
Kontrollverlust während des Konsums sowie der Vorrang des
Konsums gegenüber gesellschaftlichen, sozialen und rechtlichen
Verpflichtungen dazu.
Bei den nichtstoffgebundenen Süchten
werden keine bewusstseinsverändernden Substanzen von
außen zugeführt, der Effekt stellt sich durch
körpereigene biochemische Veränderungen, die durch
bestimmte exzessive, belohnende Verhaltenweisen ausgelöst
werden, ein. Daher spricht man hier auch von so genannten
Verhaltenssüchten. Bislang hat die Verhaltenssucht noch keinen
Eingang als eigenständiges Störungsbild in die
gängigen internationalen Klassifikationssysteme psychischer
Störungen gefunden, womit eine Diagnosestellung erschwert
wird. Derzeit ist lediglich nur eine Form der Verhaltenssucht, das
pathologische Glücksspiel als "Pathologisches Spielen" unter
der Kategorie der "Psychischen und Verhaltensstörungen" als
"Abnorme Gewohnheit und Störung der Impulskontrolle"
aufgelistet. Hier sind andernorts nicht klassifizierbare
Verhaltensstörungen zusammengefasst, die sich in der
Beschreibung eines unkontrollierbaren Impulses ähneln. Die
Störungsursache(n) sind unbekannt. Die Subsumption des
pathologischen Spielens unter die Störung der Impulskontrolle
kann verhindern, dass geeignete Behandlungsmethoden und -strategien
aus der Behandlung suchtkranker Patienten bei Personen mit
Verhaltensüchten angewendet werden.
Neben dem intensiven Drang zu spielen, der
nur schwer kontrollierbar ist, lauten die diagnostischen
Hauptmerkmale für "Pathologisches Spielen" (in inhaltlicher
Übereinstimmung mit wesentlichen Kriterien für
"Substanzabhängigkeit"): dauerndes, wiederholtes Spielen
über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr, anhaltendes und
oft noch gesteigertes Spielen trotz negativer sozialer
Konsequenzen, wie Verarmung, gestörte Familienbeziehungen und
Zerrüttung der persönlichen Verhältnisse, und
ständiges gedankliches Beschäftigtsein mit dem
Glücksspiel. Allerdings werden die für stoffgebundene
Süchte zentralen Kriterien, Toleranzentwicklung
(Dosissteigerung) und Entzugssyndrom, nicht genannt. Kennzeichnend
ist also vor allem eine eingeschränkte Kontrolle über das
Suchtverhalten, das trotz negativer Konsequenzen fortgesetzt
wird.
In Anlehnung an die Einordnung des
"Pathologischen Spielens" ist es derzeit nur möglich, andere
Verhaltenssüchte als "Störung der Impulskontrolle, nicht
andernorts klassifiziert", zu diagnostizieren. In der Literatur
stehen einheitlichen Kriterien für das Störungsbild
"exzessives, belohnendes Verhalten" verschiedene Bezeichnungen
gegenüber. So bevorzugen einige Autoren den Begriff der
Impulskontrollstörung. Die Diagnose "abnorme Gewohnheiten und
Störung der Impulskontrolle" ist jedoch für das
Störungsbild der Verhaltenssucht angesichts der Erfüllung
der diagnostischen Kriterien für Abhängigkeit zu ungenau.
Insbesondere, da hier verschiedene nicht an anderer Stelle
klassifizierbare Verhaltensstörungen zusammengefasst werden
und der exzessive Gebrauch von Alkohol und anderen psychotropen
Substanzen explizit ausgeschlossen wird. Des Weiteren wird zum
Beispiel von einem zwanghaften Verhalten geschrieben und das
abhängige Verhalten als Zwangshandlung definiert. Die Diagnose
"Zwangsstörung" scheint jedoch für die
Verhaltenssüchte nicht zutreffend zu sein. So werden
beispielsweise Zwangshandlungen nicht als angenehm empfunden und
gelten häufig als Vorbeugung gegen ein objektiv
unwahrscheinliches Ereignis, das Unheil anrichten könnte. Die
Zwangshandlung wird in der Regel nicht lange vorbereitet und
teilweise unmittelbar mehrfach stereotyp wiederholt.
Eine Belohnung ist eine Belohnung
Andere Autoren postulieren, dass die Merkmale
des Störungsbildes mit den Merkmalen der
Abhängigkeitsstörung vergleichbar sind und formulieren
den Begriff der Verhaltensabhängigkeit ("behavioral
dependence") beziehungsweise Verhaltenssucht. Hierbei wird betont,
dass sowohl das Verlangen von Abhängigen, ihrer
Verhaltensroutine nachzugehen als auch das auftretende Unbehagen,
wenn die Durchführung des Verhaltens verhindert wird, der
Verlangens- und Entzugssymptomatik von Substanzabhängigen
entspricht. Der synonym genutzte Begriff der
Verhaltensabhängigkeit impliziert, dass eine Belohnung
für ein Gehirn eine Belohnung ist, unabhängig davon, ob
sie chemisch vermittelt oder "erfahren" ist. Es wird dabei davon
ausgegangen, dass die Mechanismen, die der Entstehung und
Aufrechterhaltung einer Abhängigkeit von
bewusstseinsverändernden Substanzen zugrunde liegen, mit den
Mechanismen der Verhaltenssüchte vergleichbar sind.
Wie bei der Substanzabhängigkeit wird
auch bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von
Verhaltenssüchten dem verhaltensverstärkenden
Belohnungssystem eine zentrale Rolle zugeschrieben. So wird
postuliert, dass die Erinnerung an die positive Wirkung der
Suchtmittel als zentrale Motivation für das süchtige
Verhalten fungiert, dass also die Verhaltensüchte erlernt
sind.
Betroffene regulieren beziehungsweise
verdrängen durch exzessives, belohnendes Verhalten schnell und
effektiv Gefühle im Zusammenhang mit Frustrationen,
Ängsten und Unsicherheiten. Analog zum Effekt beim Gebrauch
von bewusstseinsverändernden Substanzen kann eine aktive
Auseinandersetzung des Betroffenen mit Problemen dabei immer mehr
in der Hintergrund rücken und "verlernt" werden.
Uneingeschränktes exzessives Verhalten erhält somit, wie
der Gebrauch einer bewusstseinsverändernden Substanz, die
Funktion, das Leben für den Betroffenen erträglich zu
gestalten und Stress zu bewältigen. So wird das suchtartige
Verhalten im Laufe einer pathologischen Verhaltensentwicklung
oftmals zur noch einzig vorhandenen
Stressverarbeitungsstrategie.
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