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Anja Lehmann
Wenn der Spaß beim Sex aufhört
Bedarf an empirischer Forschung
Immer häufiger wird in den Medien über das
ausschweifende Liebesleben von Prominenten berichtet. Nicht selten
fällt in diesem Zusammenhang der Begriff "Sexsucht". Dabei
wird außer Acht gelassen, dass eine offen gelebte
Sexualität nicht mit dem Krankheitsbild "exzessives sexuelles
Verhalten" beziehungsweise einer Sexsucht gleichzusetzen ist. Die
Symptomatik der exzessiven Sexualität ist aber kein neues
Phänomen. Abhandlungen über die so genannte "Huren- oder
Geilsucht" lassen sich bis in das 16. Jahrhundert
zurückverfolgen. Typisierungen "exzessiven sexuellen
Verhaltens" sind wissenschaftlich immer noch umstritten.
Im Mittelpunkt des Störungsbildes steht ein extrem
gesteigerter Sexualtrieb. Trotz gravierender negativer Konsequenzen
wird das Verhalten beibehalten und alle Versuche, es zu
kontrollieren, scheitern und führen zu körperlichen wie
psychischen Entzugssymptomen. Die Betroffenen gelangen nur schwer
zum sexuellen Höhepunkt. Gerade unbefriedigende sexuelle
Erlebnisse aber führen dazu, die Suche nach der sexuellen
Erfüllung beständig fortzuführen. So wird immer mehr
Zeit und Kraft in die Suche nach sexueller Befriedigung investiert,
wobei andere Bereiche des Lebens erhebliche Einschränkungen
erfahren. Für einige Betroffene ist die Erkrankung durch
häufiges, zwanghaftes Masturbieren oder den exzessiven
Gebrauch von Pornografie, Cyber- und/oder Telefonsexangeboten
gekennzeichnet. Bei Anderen kann sie illegale Aktivitäten wie
Voyerismus, Exhibitionismus, telefonische Belästigungen und
auch Vergewaltigungen beinhalten. Sexsucht führt aber nicht
zwingender Weise zu sexuellen Übergriffen, genauso wie nicht
alle Sexualverbrecher sexsüchtig sind. Schätzungen
zufolge sind ungefähr 50 Prozent aller wegen sexueller
Übergriffe Verurteilten sexsüchtig.
Patrick Carnes, Autor des Buches "Don't Call It Love", stellt
die zehn Indikatoren für das Vorliegen einer Sexsucht dar: ein
außer Kontrolle geratenes sexuelles Verhalten; das sexuelle
Verhalten hat schwere Folgen; die Unfähigkeit, trotz
schädlicher Konsequenzen aufzuhören; das beharrliche
Verfolgen selbstzerstörerischer oder hochriskanter
Verhaltensweisen; der kontinuierliche Wunsch oder das Bemühen,
das sexuelle Verhalten einzuschränken; sexuelle
Zwangsvorstellungen und Phantasien als primäre
Bewältigungsstrategien; ständig zunehmende sexuelle
Erlebnisse, weil die augenblicklichen Aktivitäten nicht
ausreichen; schwere Stimmungsschwankungen im Zusammenhang mit den
sexuellen Aktivitäten; übermäßig viel Zeit wird
damit verbracht, sich Sex zu verschaffen, sich sexuell zu verhalten
oder sich von sexuellen Erlebnissen zu erholen; aufgrund des
sexuellen Verhaltens werden wichtige soziale, berufliche oder
erholsame Aktivitäten vernachlässigt.
Diese Indikatoren beschreiben die klassische Symptomatik einer
stoffgebundenen Abhängigkeit: "Craving", also ein
unbezwingbares Verlangen, Toleranzentwicklung und Dosissteigerung,
Kontrollverlust, Entzugserscheinungen, Einschränkung der
Lebensführung auf das Suchtmittel, Aufrechterhaltung des
Verhaltens trotz eindeutiger negativer Konsequenzen.
Zwang zur Dosissteigerung
Menschen werden nicht von der Droge abhängig, sondern vom
veränderten Bewusstseinszustand, der sowohl durch den Konsum
einer Substanz als auch durch die Ausführung bestimmter
Verhaltensweisen erreicht werden kann. Sexuelle Aktivität ist
angenehm, weil unter anderem so genannte Endorphine und Enkephaline
gesteigert freigesetzt werden, die für das Wohlbefinden
verantwortlich sind. Der Konsum von Suchtstoffen verstärkt die
Zustände positiver oder vermindert die negativer Stimmung. Es
kommt zu neurobiologischen Anpassungsvorgängen und somit auch
zu einer Notwendigkeit, die "Dosis" ständig zu erhöhen,
um die gleiche Wirkung zu erzielen. Es wird davon ausgegangen, dass
das süchtige Verhalten aufgrund seiner kurzfristigen positiven
Konsequenzen als inadäquate Stressverarbeitungsstrategie
übernommen wird. Das Verhalten wird über alle anderen
Verhaltensweisen gestellt. Es steht in der individuellen
"Triebhierarchie" an erster Stelle.
Trotz der klaren Übereinstimmung über die Existenz des
Störungsbildes "pathogenes exzessives sexuelles Verhalten"
herrscht Uneinigkeit über dessen Klassifikation.
Befürworter des Konzeptes, das exzessive sexuelle Verhalten
als Sexsucht einzuordnen, arbeiten auf die Etablierung eines
eigenständigen Störungsbegriffes in Anlehnung an die
Definition der stoffgebundenen Abhängigkeiten hin. Der
Vergleich von stoffgebundenen Abhängigkeiten und Sexsucht
setzt in seiner Grundannahme voraus, dass der Suchtbegriff
theoretisch konsistent und die Gleichsetzung der Begriffe
Abhängigkeit und Sucht problemlos ist. Bis heute gibt es keine
allgemein anerkannte Definition der Sucht. Deshalb stützen
sich viele Autoren auf die phänomenologischen
Übereinstimmungen in den Störungsbildern. Ein wichtiger
Vorteil einer klaren Zuordnung des Störungsbildes liegt nicht
zuletzt in seinem Wert für die Patienten. So bezeichnen sich
die Betroffenen selber als süchtig. Die erste
Selbsthilfegruppe Sexsüchtiger ("Sexaddicts") in den USA
gründete sich 1979 in Anlehnung an das Konzept der Anonymen
Alkoholiker. Mittlerweile gibt es fast in jeder größeren
Stadt Selbsthilfegruppen für Sexsüchtige. In Deutschland
gründeten sich 1984 die "Anonymen Sex- und
Liebessüchtigen". Später wurden sie ergänzt durch
die "Anonymen Sexaholiker". Bei "S-Anon" sind Angehörige
organisiert, die unter der Sexsucht ihres Partners leiden.
Insgesamt gibt es einen großen Bedarf an empirischer Forschung
zu Ursachen, Bedingungen und Faktoren der Genese.
Die Autorin arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der
interdisziplinären Suchtforschungsgruppe Berlin (ISFB) am
Institut für Medizinische Psychologie der Charité.
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