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Claudia Heine
Die Waage belohnt oder bestraft
Eine Folge von Schlankheitswahn und
Körperkult: Essstörungen
Als Bauchladen für alles und jedes bietet das Internet auch
das: "Du darfst nie etwas essen, ohne Dich dabei schuldig zu
fühlen." Oder: "Dünn zu sein ist besser als gesund zu
sein". Schließlich findet, wer möchte, dort auch den Rat,
sich das Gesicht mit Penatencreme und Kreide einzuschmieren, um
sich vor einem Besuch bei den Großeltern, bei denen meist
üppige Mahlzeiten warten, mit dem Hinweis aufs eigene
Unwohlsein zu drücken. Angesprochen sind jene, die ihren Bauch
und vor allem den Magen ab liebsten verwünschen:
Magersüchtige, Mädchen vor allem. Für sie bieten
Webseiten der so genannten Pro-Magersucht-Bewegung nicht etwa Hilfe
für einen Weg aus der lebensbedrohlichen Krankheit. Sie weisen
vielmehr den erfolgreichen Weg dorthin, mit Tipps wie man das
eigene Gewicht immer weiter reduzieren kann; scheinbar grenzenlos,
denn das Motto dieser aus den USA stammenden Bewegung lautet: "Du
bist nie dünn genug." Magersucht ist hier nicht Krankheit
sondern Lifestyle.
Der definiert sich allein über ein abnorm niedriges
Körpergewicht. Magersüchtig ist man, wenn das
Körpergewicht entweder um 15 Prozent unter dem zu erwartendem
Gewicht liegt oder einem BMI (Body Mass Index; errechnet aus
Körpergröße und Kilogramm) von 17,5 und weniger
entspricht. Selbst das reicht den Betroffenen jedoch nicht aus.
Entscheidend ist darüber hinaus, den Gewichtsverlust selbst
herbeizuführen; entweder durch Hungern oder durch
übertriebene körperliche Belastung. "Versuche durch Sport
zweimal soviel Kalorien zu verbrauchen, wie du isst", raten deshalb
die Aktivisten der Pro-Magersucht-Gemeinde. Um diesen
Abmagerungsprozess zu unterstützen helfen besonders die
Bulimie-Kranken nach, indem sie ihre Heißhungerattacken durch
Erbrechen und den Missbrauch von Abführmitteln oder
entwässernden Medikamenten kompensieren.
Zu dieser Art "Lifestyle" gehört aber auch eine enorme
Todesrate: In der Bundesrepublik stirbt ein Drittel der Betroffenen
an den Folgen der Magersucht (Anorexia nervosa). Die anderen zwei
Drittel können die Krankheit überwinden oder zumindest
soweit bessern, dass sie ihr Leben in den Griff bekommen. Bei der
Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) schaffen 70 Prozent eine
vollständige oder teilweise Heilung. Die potentielle Gefahr
eines Rückfalls begleitet die Patienten jedoch ein Leben lang:
"Selbst wenn die Therapie schon fünf Jahre zurückliegt,
können die Symptome in krisenhaften Lebenssituationen
wiederkommen. Das ist nicht ungewöhnlich und muss nicht
überdramatisiert werden", sagt der Berliner Arzt Bernhard
Palmowski, der in seiner Praxis seit Jahren Patienten mit
Essstörungen behandelt. "Aber es ist wichtig, dass die
Betroffenen in solchen Situationen wissen, wo sie Hilfe finden
können", beschreibt er seine Motivation.
Essstörungen (dazu gehört auch die Esssucht) lassen
sich nicht auf eine Ursache zurückführen. Es wirkt ein
ganzes Bündel davon: biologische, psychchosoziale und
gesellschaftliche Faktoren. Auch eine genetische Veranlagung
vermuten Wissenschaftler. Zu den Risikofaktoren in der
Persönlichkeit der Betroffenen zählt ein vermindertes
Selbstwertgefühl, obwohl dies nicht spezifisch für
Essstörungen ist. Später Magersüchtige fallen schon
als Kinder als sehr angepasst, leistungsorientiert und
perfektionistisch auf. Als "Musterkinder" streben sie immer danach,
Erwartungen anderer, besonders der Eltern, zu erfüllen - mit
dem Wunsch nach Anerkennung. "In der Behandlung der Krankheit
schließlich geht es dann auch darum, diesen Leistungsterror
abzuwenden", so Palmowski.
Magersucht kann auch "Ausdruck einer Zwangskrankheit" sein.
Einem Zwangsregime zu Hause, ausgedrückt auch in dem Zwingen
zum Essen, folge ein Aufbegehren dagegen, also die
Essenverweigerung, erläutert er. Eine solche von Zwang
geprägte familiäre Vorgeschichte sei eine der Ursachen
für die Krankheit. Die Familie deshalb in eine Therapie
einzubinden sei wichtig; manchmal jedoch hat das unangenehme
Folgen: "Ich hatte schon Fälle, in denen mir von seiten
anderer Familienmitglieder mit dem Anwalt gedroht wurde, weil sich
der Erfolg bei den Patientinnen nicht so rasch einstellte wie
erhofft", sagt der Arzt.
Essstörungen können jedoch nicht verstanden werden,
ohne einen Blick auf die Schönheitsideale unserer Zeit zu
richten, wie sie Medien und Werbung suggerieren. Während
Schönheitsköniginnen vor 60 Jahren noch einen gesunden
Body Mass Index von 20 bis 25 hatten, liegt dieser heute bei 18,5.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) würde eine Frau mit
einem solchen BMI als unterernährt einstufen. In den
Chat-Foren der Pro-Magersucht-Bewegung schreiben selbst stark
untergewichtige Mädchen davon, sich zu dick zu fühlen und
nur ein Ziel zu kennen: abnehmen, koste es was es wolle.
Körper, die jeden Knochen unter der Haut abbilden werden als
Ideal verkauft. Allein die Waage bestimmt diesen Lebens- rythmus,
sagt, was verboten und erlaubt ist, belohnt und bestraft. Reale
Probleme treten völlig in den Hintergrund dieser selbst
gebastelten Scheinwelt.
Solch eine verzerrte Körperwahrnehmung besitzen aber nicht
nur an Magersucht oder Bulimie Erkrankte: Einer Studie der
Universität Jena zufolge bezeichneten sich 42 Prozent der
befragten Schülerinnen als übergewichtig, obwohl nur acht
Prozent tatsächlich zu viel wogen. Umgekehrt waren 33 Prozent
der Testpersonen untergewichtig, aber nur sechs Prozent sich dessen
auch bewusst. "Sehr viele Mädchen stehen auf der Vorstufe zur
Magersucht, sie finden es nicht schlimm, nichts zu essen und
verharmlosen die Folgen. Ich erlebe in letzter Zeit vermehrt
Mädchen, die es einfach abstreiten, dass Magersucht eine
lebensbedrohliche Krankheit ist. Das Erschrecken ist nicht mehr
da", fasst Silvia Baeck vom "Beratungszentrum für
Essstörungen - Dick und Dünn" in Berlin zusammen, was sie
bei ihrer Aufklärungsarbeit an Schulen erlebt.
Bedrohlich ist die Altersentwicklung in diesem Zusammenhang:
Immer früher beginnt die übertriebene Beschäftigung
mit der eigenen Figur, die in der Wissenschaft als wichtiger
Risikofaktor für die Entwick-lung einer Essstörung
beschrieben wird. 25 Prozent aller sieben bis zehnjährigen
Mädchen haben schon einmal eine Diät gemacht. Gegen
diesen Schlankheitswahn anzukämpfen, sei sehr schwierig
erläutert Baeck, die etwa acht bis zehn Einzelberatungen in
der Woche durchführt. "Ebenso schwierig sei es dann oft, den
Mädchen am Beginn der Beratung klar zu machen, dass sie
wirklich krank sind. Das wird von vielen Magersüchtigen
einfach geleugnet." Ein solches Eingeständnis ist der erste
Schritt, dem Problem zu begegnen, aber auch ein Schritt raus aus
einer lange aufgebauten und gepflegten Scheinwelt.
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