Christiane Schulzki-Haddouti
Das Netz als Falle: Internetsucht
Medienhype oder echtes Problem?
Als der New Yorker Psychiater Ivan Goldberg 1995 in einem
Beitrag für die "New York Times" erstmals die Internet-Sucht
thematisierte, war dies nur als Witz gemeint. Doch dieser Witz
wurde zum Selbstläufer, als sich die Zeitung bald darauf
eingehend mit den Gefahren der Internet-Sucht beschäftigte.
Während zunehmend Wissenschaftler das Phänomen ernsthaft
diskutierten, beklagten Technikenthusiasten jedoch eine
"Pathologisierung" des Internet als neues Kommunikationmedium.
Ist Internetsucht also nur ein Medienhype oder doch ein
ernsthafter Befund? Die Psychologin Christiane Eichenberg vom
Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der
Universität Köln beschäftigt sich mit der Frage seit
Jahren. Heute sagt sie: "Die Internetsucht war ein Modethema, das
inzwischen wieder entdramatisiert ist. Sie ist klinisch relevant,
aber die kolportierten Suchtzahlen von bis zu 80 Prozent
Süchtigen waren stark übertrieben."
Für großes Aufsehen hatte 1999 vor allem die
amerikanische Psychologin Kimberly S. Young, Professorin an der
Universität Pittsburgh, mit dem Buch "Caught in the Net -
Suchtgefahr Internet" gesorgt. Sie sprach sogar von einer
"Jahrtausendsucht". Allerdings reduzierte sie die von ihr anfangs
behaupteten 20 Prozent Abhängigen kürzlich bereits auf
sechs Prozent.
Wie viele Betroffene gibt es wirklich? Repräsentative
Studien zur Internetsucht gibt es bis heute nicht. Die breit
angelegten Studie der Berliner Humboldt-Universität von 2002
gilt daher als die maßgebliche Untersuchung für
Deutschland. Die Forscher André Hahn und Matthias Jerusalem
befragten rund 9.000 Online-Nutzer. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass
rund drei Prozent von ihnen internetsüchtig sind, sieben
Prozent gefährdet. Der Rest ist unauffällig. Die
Teilnehmer der Studie wurden nicht nach dem Zufallsprinzip
ausgewählt, sondern entschieden selbst, an der Studie
teilzunehmen. Deshalb nimmt Christiane Eichenberg an, dass die
Suchtzahl in der Realität noch geringer ist.
Repräsentative Studien zur Glückspielsucht - mit der die
Internetsucht häufig verglichen wird - stellten fest, dass nur
0,1 Prozent der Bevölkerung süchtig ist.
Hahn und Jerusalem verstehen Internetsucht als eine moderne
Verhaltensstörung sowie als ein exzessives und auf ein Medium
ausgerichtetes Extremverhalten. Zu den Indikatoren für
Internetsucht gehört der Kontrollverlust. Die Nutzer
können sich nicht mehr vom Internet lösen. Sie
fühlen sich durch das Medium in Besitz genommen,
beschäftigen sich gedanklich ständig mit dem Netz -
nehmen es aber gleichzeitig auch als allgemeinen Problemlöser
wahr. Negative Konsequenzen wie Geldnot oder soziale Isolierung
beachten sie nicht. Sie suchen und erleben emotionale
Grunderfahrungen und damit eine Selbstwertsteigerung.
Menschen mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und in
kritischen Lebensphasen gelten als besonders suchtgefährdet.
Betroffen sind vor allem Jugendlliche: So sinkt die Rate der
Internetabhängigen stetig von 10,3 Prozent in der Gruppe der
unter 15-Jährigen auf 2,2 Prozent in der Gruppe der 21- bis
29-Jährigen. Bis zum Alter von 18 Jahren sind vor allem Jungen
abhängig, ab dem Alter von 19 Jahren sind vermehrt Frauen
betroffen.
Noch immer wird kontrovers diskutiert, wie die Sucht entsteht.
"Während die Erklärungsmodelle nur vereinzelt dem
Internet und seinen besonderen Merkmalen wie Anonymität und
24-Stunden-Zugang die Schuld an der Sucht geben, setzen sich die
meisten mit begünstigenden Persönlichkeitsfaktoren und
vorher bestehenden Problemen auseinander", erläutert
Christiane Eichenberg. "Durch die vielfachen Möglichkeiten der
neuen Medien entsteht eine große Faszinationskraft, eine
Internet-Abhängigkeit oder -Sucht kann jedoch nur vor dem
Hintergrund problematischer Verhältnisse entstehen",
ergänzt Matthias Petzold vom Erziehungswissenschaftlichen
Institut der Universität Düsseldorf.
Zu den suchtfördernden Faktoren zählen laut der
Berliner Studie Arbeitslosigkeit und Teilzeitbeschäftigungen.
Internetnutzer mit höherem Schulabschluss zeigen sich weniger
gefährdet, da sie offenbar über bessere Strategien
verfügen, um mit der potenziellen Sucht beziehungsweise
belastenden Lebensereignissen umzugehen. Auch stabile
Partnerschaften halten die jungen Menschen davon ab, sich im
Übermaß dem Internet zu widmen. Dass vor allem
Jugendliche internetsüchtig werden, erklären die Berliner
Forscher mit den kognitive Erwartungshaltungen, die sich gerade im
Jugendalter entwickeln. Außerdem dient das Internet auch als
Mittel zur Abgrenzung von der Erwachsenenwelt.
Matthias Petzold stellte in eigenen Studien fest, "dass
Jugendliche im Internet ein Instrument entdeckt haben, das sie bei
ihrer Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung
unterstützt". Jugendliche nutzen daher die vielfältigen
Kommunikationsmöglichkeiten des Internet, wie auch in vielen
Computerspielen, mehr unbewusst als bewusst, um neue Rollen
gefahrlos zu testen und bisher unbekannte Aspekte der eigenen
Identität zu entdecken. Der Düsseldorfer Forscher betont,
dass das Internet Jugendlichen in der für sie schwierigen
Entwicklungsphase mit ihren körperlichen, psychischen und
sozialen Unsicherheiten mögliche Orientierungen bietet.
Petzold: "Gerade die Anonymität und die häufig auf Text
eingeschränkte Kommunikation eröffneten Jugendlichen
einen geschützten Raum zum Experimentieren." Manche
Jugendliche würden über das Internet häufig mehr
Anerkennung durch Gleichaltrige erfahren als durch direkte
Interaktion. Problematisch werde dies dann, wenn die im Internet
erprobten Rollen aufgrund ungünstiger
Sozialisationsbedingungen im Alltag nur schlecht umgesetzt werden
können. Für Petzold wäre es daher
"wünschenswert, wenn künftige Studien zur
Internetabhängigkeit von Jugendlichen stärker die
vielfachen Sozialisationsbedingungen unterschiedlicher Gruppen im
Jugendalter berücksichtigen".
Da es sich hier nicht um eine substanzbezogene Abhängigkeit
handelt, weigern sich bis heute Krankenkassen und staatliche
Organisation in Deutschland, Betroffene als pathologisch Kranke
anzuerkennen. Organisierte Hilfsangebote sind daher selten.
Beispielsweise betreibt die Psychiatrische Universitätsklinik
München eine Ambulanz für Abhängige. Hilfe
können sie auch in Selbsthilfegruppen erfahren. Inzwischen
gibt es auch klinische Therapien. Deren Behandlungsmethoden setzen
nicht auf kompletten Entzug, sondern versuchen die Internetnutzung
auf ein normales Maß zu reduzieren. Tipps und Verhaltensregeln
appellieren in der Regel an die Selbstdisziplin. So sollen sich die
Süchtigen hinsichtlich Zeitaufwand und Kosten feste Grenzen
setzen. Unterstützend hierfür gibt es Programme, die die
Nutzung zeitlich begrenzen.
Zwar ist die Internetsucht als Thema der Cyberpsychologie nach
wie vor auf Fachtagungen und Kongressen vertreten, doch wurde sie
zwischenzeitlich durch neue Modethemen wie den Suizidforen oder
Cybersex abgelöst.
Die Autorin ist freie Fachautorin und Hochschuldozentin in
Bonn.
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