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Claudia Heine
Editorial
Das wäre doch mal ein Anblick: Entschlossen wirft der
Cowboy seine Zigarette weg, will auch vom Whisky nichts mehr wissen
und blinzelt mit einer Saftschorle in der Hand dem Sonnenuntergang
entgegen. Aber es gibt eben Dinge der Unmöglichkeit, und ein
Cowboy, der seine Kumpels nicht jeden Abend unter den Tisch saufen
kann, ist eigentlich keiner. Wer würde je auf die Idee kommen,
dieser Filmfigur ein ernsthaftes, der Behandlung bedürftiges
Alkoholproblem anzudichten? Ihre gleichzeitig demonstrierte
Stärke bewahrt sie davor, in einen Suchtzusammenhang gebracht
zu werden. Das ist wie im wahren Leben: Sucht und Stärke
passen nach landläufiger Meinung nicht zusammen. Im
Unterschied zum Filmhelden muss der reale Mensch Stärke jedoch
nicht spielen, sondern wirklich besitzen.
Was aber passiert, wenn er dieser gesellschaftlichen
Erwartungshaltung nicht entsprechen kann, aber glaubt, ihr
unbedingt entsprechen zu müssen? Er, der nicht wie der
Filmheld einfach vom Set verschwinden kann, beginnt dann auch ein
Spiel - eines, das keines mehr ist: das Spiel der Stärke, das
ohne Hilfsmittel nicht funktioniert, und das nur eines soll, das
eigene Gefühl der Schwäche oder Überforderung
betäuben. So lange es funktioniert, schöpft niemand
"Verdacht". Weder der Betroffene noch die Außenstehenden
würden von Krankheit sprechen. Was Mediziner nach
wissenschaftlichen Kriterien einzuordnen wissen, entspricht nicht
unbedingt dem subjektiven Empfinden des Einzelnen. Was "Sucht" ist
und wo sie beginnt, ist deshalb oft Ansichtssache.
Der Weg in die Sucht lässt sich natürlich nicht auf
gesellschaftliche Zustände allein zurückführen.
Vielmehr müssen, wie die Texte dieser Themenausgabe zeigen,
unterschiedliche Faktoren zusammentreffen, um Suchtphänomene
auszulösen. Genetische Veranlagungen spielen dabei genauso
eine Rolle, wie psychologische und neurobiologische Bedingungen. So
verschieden wie diese können auch die Gesichter der Sucht
sein. "Hilfsmittel" im Spiel der Stärke gibt es viele: das
Kaufen, Spielen, den Alkohol oder Heroin. Wenn Frauen sich zehn
Bademäntel kaufen, ohne sie zu brauchen; wenn manche
Männer ohne das morgendliche kleine Schlückchen nicht
fähig sind, zu arbeiten; wenn schon Jugendliche ohne ihre
tägliche Dosis bunter Pillen wie Ecstasy nicht auskommen; wenn
Mädchen sich selbst stark untergewichtig noch schön
finden; wenn Abteilungsleiter ihre Büros nicht verlassen und
auch zu Hause noch weiterarbeiten; dann helfen keine einfachen
Erklärungsmuster. Dann müssen Therapieformen greifen, die
genauso differenziert auf verschiedene Krankheitsbilder abgestimmt
sind. Gerade für neuere Phänomene der so genannten
Verhaltenssüchte (Spiel- oder Kaufsucht zum Beispiel) ist die
Suche nach geeigneten Behandlungsmethoden noch Neuland.
Dennoch: Eine Therapie kann zwar konkret dem Einzelnen helfen.
Aber es sollte der Gesellschaft auch um eines gehen:
Suchtvermeidung. Das Kind darf erst gar nicht in den Brunnen
fallen. Und auch wenn Sucht unterschiedliche Gesichter hat, sich
dem Zeitgeist anpasst (Internetsucht), steckt doch hinter allen ein
Leistungsdruck, der hinterfragt werden sollte. Irgendwann
entspricht der Zwang zu funktionieren, auch im privaten Bereich,
ganz offensichtlich nicht mehr verträglichen
Maßstäben. Es handelt sich, schaut man die Zahlen an, bei
den Betroffenen nicht um eine gesellschaftliche Randgruppe. Sucht
in all ihren Facetten ist eine Massenerscheinung, die auf die
Verantwortung der Gesellschaft verweist. Was kann getan werden,
damit Jugendliche auch ohne Drogen Spaß haben können? Zu
dieser Verantwortung gehört auch, Suchterkrankungen vom Stigma
persönlichen Versagens zu befreien. Nicht zuletzt deshalb
schämen sich die meisten Süchtigen dafür. Sie
schämen sich für eine Krankheit, definieren sich selbst
als Versager.
Die Autorin arbeitet als Journalistin in Berlin.
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