|
|
Andrea Dunai
Zwei Säulen mit Hakenkreuz und Rotem
Stern
Estlands Russen und ihr
Minderheitenstatus
Im 1,4 Millionen Einwohner zählenden
Estland leben 28 Prozent Russen, fast die Hälfte von ihnen
lediglich mit dem Aufenthaltsstatus als "ständige Bewohner".
Sie verfügen über eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis,
haben einen Fremdenpass und zählen nicht zur
EU-Bürgerschaft. Die neuen Reisemöglichkeiten, die
Subventionen aus den EU-Töpfen kennen sie nur vom
Hörensagen. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes auf sich
selbst gestellt. Putins Moskau ist ihnen genauso fern, wie jede
estnische Behörde, aus der die kyrillischen Buchstaben
verschwunden sind. Einen estnischen Beamten auf Russisch
anzusprechen, erfordert eine Portion Selbstbewusstsein.
Die baltische Spezialität, die "singende
Revolution", mit der die estnischen Andersdenkenden 1989/90 die
politische Wende einleiteten, hatte zunächst die
Wiederherstellung der Demokratie und der kurzlebigen ersten
Republik (1918 - 1940) zum Ziel. Estnische Esten und russische
Esten galten in der Aufbruchstimmung als ein Volk, das kleinste
übrigens im Baltikum. Doch die 1992 angenommene Verfassung
behandelte die Minderheiten keineswegs großzügig und
gewährte die Staatsangehörigkeit nur denjenigen, die
bereits vor der sowjetischen Okkupation Bewohner des Landes gewesen
waren. Somit nahm ein langwieriger und schmerzhafter Prozess der
Vergangenheitsbewältigung seinen Anfang, in dessen Verlauf die
verheerenden Folgen des Ribbentrop-Molotow-Paktes auf die russische
Minorität zurückfallen sollten. Dieser blieb die
Teilnahme an dem Referendum zur EU-Mitgliedschaft per definitionem
versperrt.
Sitzt man heute in dem kaum beheizten
Restaurant "Narva" im russischen Bezirk von Tallinn, auf der
anderen Seite der restaurierten, glanzvollen Altstadt,
überkommt einen ein Gefühl von Zeitlosigkeit. Die
gleichen Einrichtungsgegenstände und Speisekarten finden sich
aller Wahrscheinlichkeit nach von Murmansk bis Wladiwostock. Hier
ist es keine Schande, sich auf Russisch zu unterhalten, im
Gegenteil, sogar die Kellnerin begrüßt die Gäste auf
Russisch. Im Zeitungsständer liegen die beiden
russischsprachigen Zeitungen, die "Estnische Jugend" und "Der Tag
in Estland". Die dritte und einzige seriöse Tageszeitung
"Estonija" wurde wegen Geldmangel eingestellt.
Das "Narva" ist die einzige bezahlbare
russische Gaststätte in der estnischen Hauptstadt, und dort
kommt man am einfachsten an aktuelle Informationen über die
"eigene Lage" heran. Eine junge Frau verteilt an den Tischen
Informationsblätter und Anträge auf die estnische
Staatsangehörigkeit. Marina ist nämlich vor kurzem
"Estin" geworden und betreibt jetzt eine Art "Ich-AG". Sie
beherrscht die Landessprache seit ihrer Kindheit, kennt die
Geschichte ihrer Wahlheimat in- und auswendig, und ebenso die
Paragrafen der estnischen Verfassung. Auf die Prüfung für
das Erlangen eines estnischen Passes hat sie sich drei Jahre lang
hart vorbereitet. Ihr absoluter Vorteil, und das sieht sie selbst
so, war, dass ihre Eltern niemals in der Roten Armee gedient haben.
Sie sind einfache Zugezogene aus dem sibirischen Perm (ehemals
Molotow), denn in der Sowjetzeit war eine Eintragung in das
Wohnregister von Tallinn viel unbürokratischer als
beispielsweise in Leningrad oder gar in Moskau. Heute bietet die
40-jährige "billige" Kurse in Estnisch an und übt
kontinuierlich Lobbyarbeit in der Selbstverwaltung aus, um eine
Genehmigung zum Erteilen von Nachhilfeunterricht zur estnischen
Verfassung zu erhalten. Die russischsprachige Bevölkerung hat
vor diesem Teil der Prüfung die größten Hemmungen.
Die Überprüfung ihrer Dokumente, das heißt ihres
Status nach 1945, ist in ihren Augen ein subjektives Kriterium, das
letztlich durch die aktuell herrschende Geschichtsauffassung und im
weitesten Sinne durch das gesellschaftliche Klima beeinflusst wird.
Diesbezüglich sind die Zeichen jedoch nicht gerade ermutigend.
Der Tallinnsche Kulturführer nahm in seiner Ausgabe von 2002
eine neue Kulturinstitution auf: Das Okkupationsmuseum. In dem
zweistöckigen gläsernen Gebäude befinden sich gleich
hinter dem Eingang zwei Säulen, auf denen ein Hakenkreuz und
ein Roter Stern abgebildet sind. In den Vitrinen stehlen sich
Relikte aus der Nazi - und aus der Sowjetzeit gleichsam die Schau:
SS-Ausweise estnischer Bürger konkurrieren mit Unterlagen von
KGB-Schergen, historische Dokumente von 1940 mit schriftlich
überlieferten Befehlen aus dem Jahr 1944. Die ausgestellten
Eisentüren von sowjetischen Gefängniszellen,
russischsprachige Lebensmittelcoupons und Filme über die
Besuche Breschnews in Estland nähren unbewusst, aber
konsequent das Hassgefühl gegenüber der Sowjetära.
Die begleitenden audiovisuellen Kommentare kennen nur die englische
und estnische Sprache. Der Mann, der die Eintrittskarten verkauft,
hält alle ausländischen Besucher automatisch für
Finnen und erzählt begeistert, dass die Initiatoren des
Museums um zusätzliche Kellerräume kämpfen, da neben
den diversen hier ruhenden Lenins und Molotows bislang kein Platz
für jüngst demontierte Skulpturen russischer Soldaten
ist. Letztere werden kontinuierlich aus den Parkanlagen und
Plätzen Estlands entfernt. Die Geschichte ist typisch für
Osteuropa: In der kleinen westestnischen Stadt Lihula wurde ein
Denkmal zur Erinnerung an die "estnischen Freiheitskämpfer"
eingeweiht, die im Zweiten Weltkrieg an der Seite der deutschen
Besatzungstruppen gekämpft hatten. Tiit Madisson,
Präsident des Landkreises, ehemaliger Dissident und prominente
Figur der Unabhängigkeitsbewegung der 80er-Jahre würdigte
in seiner Eröffnungsrede die Heldentaten jener estnischer
Männer, die an der Seite der Deutschen gegen die Bolschewiki
gekämpft hätten. Das Denkmal wurde über Nacht von
seinem Sockel entfernt, und seither sorgen "Gegner der Gegner"
für das Verschwinden der Sowjetdenkmäler.
Mehrheit gegen Minderheit
In der öffentlichen Meinungsbildung und
Diskussion indes klaffen die bereits etablierten Frontlinien weit
auseinander. Die hiesigen Argumente könnten ebenso in jedem
beliebigen postkommunistischen Land formuliert werden. Die Esten
beharren mehrheitlich auf dem Standpunkt, dass es in Ermangelung
einer estnischen Armee keine Schande gewesen sei, in der Waffen-SS
zu dienen, und die russischsprachigen Esten wiederholen
unermüdlich, dass die Befreiung des Landes der Roten Armee zu
verdanken sei. Die Mehrheit gegen eine Minderheit. Wie dominant
diese Kluft im öffentlichen Diskurs ist, bestätigt das
Ergebnis einer Umfrage, demzufolge der Denkmalkrieg in der Chronik
der wichtigsten Ereignisse des Jahres 2004 den dritten Platz
verbuchen konnte. Vor dem Konflikt um Lihula rangiert nur der
Beitritt in die EU und NATO.
Auch die kleine jüdische Gemeinde
Estlands beteiligt sich an diesem Diskurs. Cilja Laud, die
Vorsitzende der 3.000 Mitglieder zählenden liberalen Gemeinde,
plädiert durchaus für ein Denkmal zu Ehren der gefallenen
estnischen Soldaten. Anstelle einer SS-Uniform würde sie
jedoch einen Soldaten darstellen, der in seinen Armen zwei Kinder
hält; das eine ging - so Frau Laud - in die sowjetische, das
andere in die deutsche Armee. Sie, als gebürtige Estin
mosaischen Glaubens, hielte es für wünschenswert, wenn
die zwei Traumata endlich in gemeinsamer Trauer aufgelöst
werden könnten. So könnte man dann auch der
jüdischen Tragödie Raum geben. Nüchtern betrachtet,
scheint dieses Ziel kaum realisierbar. Elf Prozent der hiesigen
Russen werden voraussichtlich noch lange mit einem Fremdenpass
leben und sich für ihren russischen Akzent im Estnischen
schämen. In die benachbarten baltischen Staaten, nach
Helsinki, nach Westeuropa oder eben nach Moskau zu reisen ist
für sie gleichermaßen schwer. Ohne Visum ist nur Russland
zu erreichen, Bahnverbindungen existieren kaum noch. Hingegen geht
es auf dem Flughafen in Tallinn hektisch her. Die Esten stehen je
nach Muttersprache in getrennten Schlangen für "EU"- und
"Nicht-EU"-Bürger vor den Kontrollpunkten. Die Pässe
trennen ihre Wege.
Ein längst erwartetes oder erhofftes
Szenario wird, wenn alles nach Putins Plan läuft, am 9. Mai
dieses Jahres, am 60. Jahrestag der Befreiung auf diesem Flugplatz
stattfinden. Staatspräsident Arnold Rüütel wird an
diesem Tag - oder eben nicht - von dort aus nach Moskau starten, um
an den Feierlichkeiten auf dem Roten Platz teilzunehmen. Eine
Zusage wäre im Prinzip längst fällig. Dieser Tag ist
in den baltischen Ländern seit der Wende ein gewöhnlicher
Arbeitstag. Auch die Esten binden sich an diese Tradition und
meinen, dass auf die Befreiung nahtlos eine Okkupation und damit
Terror und Massenverbannung von Esten folgte. Die russische
Minderheit träumt davon, dass 60 Jahre nach Niederlegung der
Waffen ein
"Nasdarowje" (deutsch "Zum Wohl") aus einem
estnischen Mund in der russischen Hauptstadt einen wichtigen
Schritt auf dem Weg zum estnischen Pass bedeuten würde. Erst
dann kann das Restaurant "Narva" vermutlich zur Privatisierung
freigegeben werden. Der estnisch-russische Dolmetscher dürfte
mit der professionellen Übertragung der Getränke- und
Speisekarte keine Schwierigkeiten haben. Nota bene, die Esten
müssten heutzutage am besten wissen, was in den Töpfen
gekocht wird. Vielleicht heißt das Gefühl der
Zugehörigkeit auf russisch nicht umsonst
"Ellbogengefühl".
Zurück zur Übersicht
|