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Barbara Minderjahn
Eine einmalige Chance für Recht und
Gerechtigkeit wurde verpasst
Georgiens dornenreicher Weg zur Demokratie nach
der Rosenrevolution
Tiflis. Auf den ersten Blick scheint sich in der Hauptstadt
Georgiens nicht viel verändert zu haben. Die Straßen sind
mit Schlaglöchern übersät, viele Häuser vom
Einsturz bedroht. Wer nachts durch das Zentrum geht, wandert durch
absolute Finsternis. Nur der Rustaweliprospekt, dort wo sich das
Parlament, die Oper und zwei große westliche Hotels befinden,
ist beleuchtet, so scheint es. Doch dann entdeckt der sporadische
Besucher ein paar neue Ampeln. Einige Häuser wurden im
vergangenen Jahr renoviert. Es gibt neue Geschäfte. Und
irgendwann fällt ihm auf: Auch die alte korrupte
Straßenpolizei ist weg. Die Beamten haben einen früher,
wie eine Gruppe von Wegelagerern, alle paar Kilometer angehalten
und unter dem Vorwand, man habe gegen eine ungeschriebene
Verkehrsregel verstoßen, abkassiert. Doch Michail Saakaschwili
hat sie entlassen und statt dessen freundliche, gut bezahlte und
deswegen nicht mehr korrupte Beamte auf die Straße geschickt.
"Die frühere Regierung hat versucht, die sozialen Probleme
dieses Landes damit zu lösen, die Menschen auf die
Gehaltsliste des Staates zu setzen", erklärt der seit rund
einem Jahr regierende georgische Präsident. "Sie hat der
Bevölkerung gesagt: Wir können Euch zwar so gut wie kein
Gehalt zahlen, aber wir geben Euch eine Position, und Ihr
könnt dann zusehen, wie Ihr Euch davon ernährt. Das geht
zu Lasten der Gesellschaft."
Früher bekam ein Polizist 20 Euro im Monat. Heute liegt der
Minimallohn bei 200 Euro, und offenbar wird das Gehalt auch
tatsächlich, anders als unter der Schewardnadse-Regierung,
pünktlich und vollständig gezahlt. Möglich sei das,
weil es der neuen georgischen Regierung gelungen sei, die
Zolleinnahmen zu verfünffachen, erklärt Michail
Saakaschwili, "und die Steuereinnahmen sind jetzt zwei ein halb mal
so hoch". Doch die Darstellung stimmt nur zum Teil. Um solche
Reformen wie die der Straßenpolizei zu ermöglichen, haben
auch verschiedene internationale Geldgeber die neue Regierung mit
Zuschüssen unterstützt. Die Weltbank beispielsweise hat
Georgien außerhalb des normalen Kreditprogramms eine
Haushaltshilfe gewährt. Und auch die EU, die USA und viele
kleine wie große Hilfsorganisationen haben Finanzmittel bereit
gestellt.
Dass sich die Einnahmen des georgischen Staates darüber
hinaus tatsächlich erhöht haben, so hängt das vor
allem mit der Wiederherstellung der zentralstaatlichen Ordnung in
der autonomen Republik Adscharien zusammen. Die an der Grenze zur
Türkei gelegene Schwarzmeerprovinz gehört zu den
reicheren Regionen Georgiens. Adscharien besitzt einen Hafen, einen
Erdölterminal und zahlreiche Hotels, und die Region verdient
am Transitgeschäft zur Türkei. Jahrelang hatte sich der
korrupte Regionalfürst Aslan Aba-schidse und sein Clan an den
Steuer- und Zolleinnahmen sowie durch Bestechungsgelder bereichert.
Durch eine spektakuläre Machtdemonstration und mit Hilfe
ähnlicher, zum Teil auch gesteuerter Demonstrationen wie bei
der Rosenrevolution gelang es Saakaschwili, Abaschidse zum
Rücktritt zu zwingen. Seither fließen die Einnahmen aus
dem Steueraufkommen und die Zollabgaben wieder an den Staat.
Außerdem hat sich die neue Regierung eine zusätzliche
Einnahmequelle erschlossen, die viele allerdings für
fragwürdig halten und deren Kapazität begrenzt ist.
Mitglieder und Anhänger der alten Regierung werden aufgrund
von Korruptionsvorwürfen, aber ohne Vorlage von Beweisen
verhaftet. Viele von ihnen kaufen sich von den Anschuldigungen
frei, auch auf die Gefahr hin, dass sie so automatisch als
geständig gelten, denn die Verhältnisse in den
Untersuchungsgefängnissen sind katastrophal. Zehn-Mann-Zellen
sind mit 40 Gefangenen belegt. Die Häftlinge schlafen in vier
Schichten. Mitarbeiter von internationalen
Menschenrechtsorganisationen berichten sogar von Folter. Michail
Saakaschwili rechtfertigt die Politik: "Der Schwiegersohn von
Schewardnadse - er war wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis
- hat genug Geld an den Staat gezahlt, um allen georgischen
Rentnern zwei Monate lang ihre Pension zahlen zu können. Was
ist jetzt gerechter? Diesen Mann im Gefängnis zu lassen oder
die Rentner glücklich zu machen?"
Die georgische Bevölkerung scheint ein anderes
Rechtsempfinden zu besitzen. Eine Passantin am Rustaweliprospekt in
Tiflis sagt: "Das ist nicht korrekt. Sie müssen die Fälle
erst untersuchen und dann die Leute verhaften. Sehr viele ehrliche
Menschen sind umsonst verhaftet worden. Ich meine, Saakaschwili
macht einen großen Fehler." Viele andere Georgier sind
ähnlicher Meinung. Selbst ehemalige Mitstreiter des
Präsidenten werfen der Regierungsmannschaft vor, die Ziele der
Rosenrevolution, wie die Etablierung eines demokratischen
Rechtstaates zu verraten. Die Juristin und ehemalige Vorsitzende
einer gesellschaftlich engagierten Gruppe von jungen Anwälten
Tinatin Khidasheli sagt: "Ich denke, dass der Präsident und
sein Team einen großen Fehler gemacht haben, den sie nicht
mehr korrigieren können. Sie haben die Chance verpasst, in der
Gesellschaft Respekt für das Gesetz und die staatlichen
Institutionen zu etablieren."
Dass das Rechtssystem in dem Kaukasusstaat nicht respektiert
wird, hängt nicht allein mit der Politik Saakaschwilis und
seiner Regierung zusammen. Georgien ist von jeher eine auf Clan-
und Vetternwirtschaft aufgebaute Gesellschaft. In Bezug auf das
Rechtssystem bedeutet das: Jeder versucht die Richter mit Geld oder
guten Beziehungen zu bestechen. Und die Richter sind es
schließlich gewohnt, dieser Versuchung nachzugeben. Um in
Georgien einen funktionierenden Rechtsstaat zu etablieren, muss man
die Mentalität von rund fünf Millionen Menschen
ändern. Doch dazu muss man ein gutes Vorbild abgeben und
braucht Geduld. Michail Saakaschwili widerspricht: "Für
Reformer gibt es immer nur ein kurzes Zeitfenster, die Reformen
umzusetzen. Wenn man die Zeit nicht nutzt, schließt sich das
Fenster und es wird sich nie wieder öffnen."
Die Kritiker werfen dem Präsidenten zudem vor, seine
Politik mit nationalistischen und populistischen Tönen zu
garnieren. "Es herrscht immer noch eine postrevolutionäre
Rhetorik vor", so Tinatin Khidasheli. "Jeder, der eine abweichende
Meinung hat, wird als Verräter und Feind bezeichnet. Und die
Praxis, nach äußeren Feinden zu suchen, hat immer noch
Erfolg."
Ob Nationalismus, Populismus oder der Drang nach schnellen
Erfolgen - im Zusammenhang mit den vielen in Georgien lebenden
Minderheiten und den ungelösten Territorialfragen sind alle
drei gefährlich. Die seit Jahren andauernden Konflikte in den
beiden abtrünnigen Provinzen Südossetien und vor allem
Abchasien empfindet jeder Georgier als schmerzende Wunde. Tausende
Vertriebene warten darauf, in ihre Heimat zurückkehren zu
können, und auch ihre Landsleute wollen sich nicht mit dem
Verlust einer der schönsten und ehemals reichsten Landschaften
Georgiens abfinden. Verwöhnt durch den Erfolg in Adscharien,
hat Michail Saakaschwili der georgischen Bevölkerung daher im
letzten Frühjahr zugesagt, die Konflikte mit Südossetien
und Abchasien innerhalb weniger Monate zu lösen. Doch als die
Regierung im Sommer 2003 an der Grenze zu Südossetien harte
Kontrollen gegen Schmugglerbanden durchführte, eskalierte der
jahrelang ruhig verlaufene Konflikt. Es kam zu bewaffneten
Auseinandersetzungen, die ohne das Einwirken internationaler
Vermittler eventuell in einen erneuten Krieg gemündet
wären.
In Georgien leben Armenier, Aseris, Russen, Osseten, Abchasen,
Adscharen, Griechen, Ukrainer, Juden, Katholiken, und Zeugen
Jehovas, um nur einige der Minderheiten zu nennen. Traditionell
werden in der gesamten Kaukasusregion insgesamt 45 verschiedene
Sprachen gesprochen. Heute sind vor allem noch die religiösen
Minderheiten hinzugekommen Diese Völkervielfalt stellt
für jede Regierung ein schwieriges Problem dar. Denn alle
Bevölkerungsgruppen haben ihre eigenen Interessen, die sie
versuchen, den anderen gegenüber durchzusetzen. Konflikte sind
unausweichlich. Um aus dem von Clanstrukturen beherrschten Land
einen funktionierenden Staat zu errichten, muss man
Partikularinteressen beiseite stellen und ein Gemeinwesen
etablieren. Nach einem gemeinsamen suchen die Georgier seit
Jahren.
Nachdem Nationalismus und Bürgerkrieg Georgien zu Beginn
der 90er-Jahre gespalten hatte, setzte Schewardnadse auf Ausgleich
und Zeit. Er wollte die alten Wunden heilen lassen, damit sich
danach durch gemeinsame Politik und das wirtschaftliche Geschehen
das Interesse an einem gemeinsamen Staat von allein entwickeln
könnte, so das Konzept. Vieles ging schief. Die Menschen
vergaßen, dass sie es waren, die Recht, Ordnung, Disziplin und
alles, was zu einem Staatswesen dazu gehört, durchsetzen
mussten.
Michail Saakaschwili versucht es mit einem anderen Konzept. Die
Rückbesinnung auf die eigene Identität soll den Georgiern
den Glauben an ein Gemeinwesen zurückbringen, schnelle
Reformen sollen den Menschen zeigen, dass ein gemeinsamer Staat
funktionieren kann. Als eine seiner ersten Amtshandlungen hat er
seinen Landsleuten eine neue, patriotisch angehauchte Nationalhymne
verordnet. Das Banner seiner Partei, geschmückt mit dem
Familienwappen der früheren georgischen Königsdynastie,
hat er als Staatsflagge erkoren. Die fünf roten Kreuze darauf
sind gleichzeitig ein Sinnbild für die stärkere Betonung
des Christentums in seiner Ära.
Bei Adscharien hat die Politik der nationalen Stärke
funktioniert. Die neue Regierung konnte die autonome Republik vom
Joch der Claninteressen Abaschidses befreien. Bei Südossetien
ist das Experiment nicht geglückt. Dort hat die harte Hand
wertvolles Porzellan zerschlagen. Jahrelang haben sich
internationale Organisationen, allen voran die OSZE, darum
bemüht, das durch den Bürgerkrieg Anfang der 90er-Jahre
zerbrochene Vertrauen beider Bevölkerungsgruppen wieder
aufzubauen. Mit Hilfe von gemeinsamen Menschenrechts- und
Demokratieprojekten haben sie erreicht, dass die georgischen und
südossetischen Dörfer wieder einigermaßen friedlich
miteinander umgingen. Die Eskalation des letzten Sommers haben
Angst und Gewalt wieder aufflammen lassen. In den aserisch
bewohnten Gebieten haben, Berichten internationaler Organisationen
zufolge, die Konflikte mit Georgiern zugenommen. In Georgien ist
derzeit vieles von erfolgreichen Reformen bis hin zum
Wiederaufleben alter Probleme möglich.
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