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Claudia Heine
Wie bleiben Kinder dünner?
Mediziner suchen nach Strategie
Als Verbraucherschutz- und Ernährungsministerin Renate
Künast im vergangenen Jahr eine Kampagne gegen das
Übergewicht von Kindern ankündigte und dies mit
entsprechenden Zahlen begründete, war die Aufregung groß.
In 40 Jahren, so die Ministerin, werde jeder zweite Deutsche unter
Fettleibigkeit leiden und, besonders alarmierend, vor allem Kinder
sind davon betroffen. Nach PISA erlebte die Öffentlichkeit
ihren zweiten Kinder-Schock: Jedes fünfte Kind und jeder
dritte Jugendliche sind übergewichtig. Was aus den
Schlagzeilen schnell wieder verschwindet, beschäftigt die
Experten schon seit längerem. Anlässlich des ersten
"Tages der Gesundheitsforschung" am 20. Februar bot die Deutsche
Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin e.V. (DGKJ)
am 10. und 11. Februar in Berlin einen differenzierten Blick auf
das Problem. Unter dem Motto "Wissen schafft Gesundheit.
Gesundheitsforschung für Kinder" diskutierten Fachleute
unterschiedlichster Disziplinen über Ursachen und Strategien
gegen krankhaftes, starkes Übergewicht (Adipositas) bei
Kindern.
Zwar warnte die Opposition im Bundestag nach der
Ankündigung von Renate Künast noch vor einer
"Doppelarbeit" der Ministerien für Verbraucherschutz,
Gesundheit und Familie. Die in Berlin versammelten Mediziner und
Sozialwissenschaftler waren sich jedoch einig, dass wirksame
Strategien nur interdisziplinär und in Kooperation mit
verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren entwickelt werden
können. Seit Mitte der 80er-Jahre steigt die Zahl der Kinder,
die zu viele Kilos auf die Waage bringen, rasant an. Allein in
Berlin, wo 1985 etwa zwei Prozent der Kinder stark
übergewichtig waren, sind es heute zwölf Prozent.
Mangelnde Bewegung und eine zu kalorienreiche Ernährung bilden
den gefährlichen Mix, aus dem sich Übergewicht
entwickelt. Besondere Risikogruppen, hob die Professorin an der
Berliner Charité Annette Grüters hervor, seien
Migrantenkinder und solche aus sozial schwachen Familien. Auch der
Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann bestätigte
"neue Krisenzeichen": Chronische Krankheiten wie Neurodermitis oder
Diabetes, aber auch Rheuma, Gelenk- und Haltungsschäden seien
verstärkt zu beobachten. "Ganz offensichtlich beginnt sich die
gesundheitliche Situation allmählich zu verschlechtern", und
es zeige sich, so Hurrelmann, "dass neben mangelnden Finanzen der
Bildungsfaktor als Ursache immer bedeutender wird und sich
unmittelbar auf Gesundheit oder Krankheit niederschlägt".
Nötig sei deshalb ein umfassender, ganzheitlicher Ansatz zur
Bekämpfung des Übergewichts und seiner Folgeerkrankungen.
Hurrelmann, auch Leiter der "Shell-Jugendstudie", forderte eine
Vernetzung aller Erziehungsinstitutionen. Schulen sollten zu
"angereicherten Zentren" werden, in denen nicht nur Lehrer arbeiten
sollten. Gemeinsam mit Sozialarbeitern und Medizinern wären
sie besser in der Lage, die Probleme der Schüler zu erkennen
und Aufklärungsarbeit zu leisten. Aber auch die Arztpraxen
sollten sich stärker vernetzen. Es müsse klar sein, "wo
Ärzte andocken" können, um auf die familiären
Probleme, die über die Kinder zu ihnen getragen werden,
reagieren zu können.
Lernziel: Gesunde Ernährung
Von einem solch umfassenden Ansatz geht auch die von Renate
Künast im September vergangenen Jahres ins Leben gerufene
"Plattform Ernährung und Bewegung" aus, in der sich
unterschiedlichste gesellschaftliche Akteure zusammengeschlossen
haben. Neben dem Verbraucherschutzministerium gehören unter
anderem die DGKJ, der Bundeselternrat, der Deutsche Sportbund sowie
Vertreter der Lebensmittelindustrie zu den
Gründungsmitgliedern. Ihr Ziel: "Kinder und Jugendliche und
ihre Familien sollen in ihrer Kompetenz und ihrer
Entscheidungsfähigkeit zugunsten gesunder Lebensstile
gestärkt werden." Das beinhaltet die Förderung einer
Wissensvermittlung über gesunde Ernährung so früh
wie möglich, nämlich schon im Kindergarten. Gemeint ist
aber auch die Sensibilisierung der Öffentlichkeit durch
gezielte Informationen.
Die Lösung der gesellschaftlichen Herausforderung
"Übergewicht" ist nicht in Arztpraxen und Labors zu finden.
Letztlich liefert die Wissenschaft aber entscheidende
Schlüssel zur Erkenntnis. Zum Beispiel in der Frage der
genetischen Disposition. Die dramatische Zunahme von Adipositas in
den letzten zwei Jahrzehnten zeige zwar, dass eine genetische
Ursache hier keine primäre Rolle spielen kann. "So schnell
verändert sich die genetische Grundlage der Gewichtsregulation
nicht", fügte Annette Grüters hinzu. Aber Untersuchungen
haben gezeigt, für fünf Prozent der Kinder mit erblichem
Übergewicht kann eindeutig eine Mutation des so genannten
MC4-Rezeptors nachgewiesen werden, ein Rezeptor, der im Gehirn das
Signal von Sattsein beziehungsweise Hunger vermittelt. "Auf der
Grundlage der Identifizierung der wichtigsten Gene der
Gewichtsregulation kann nach Möglichkeiten der
pharmakologischen Beeinflussung der Appetitregulation gesucht
werden", beschreibt Grüters die Bedeutung der Genforschung in
diesem Bereich. Bei vielen kleinen Patienten konnte auf diese Weise
das Gewicht reduziert werden, wo vorher andere Behandlungsmethoden
nicht anschlugen und nicht nur Kinder, sondern auch deren Eltern
verzweifeln ließen. Zwar sei es erst für fünf
Prozent beweisbar, sie gehe jedoch davon aus, dass 100 Prozent der
Menschen mit krankhaftem Übergewicht eine genetische
Veranlagung besitzen, die sie anfälliger macht als andere.
Auch wenn die Gentechnik in diesem Bereich Wertvolles leiste, so
betonte auch Annette Grüters, dass Medikamente allein nicht
die Lösung sein könnten, wenn sie nicht um ein
entsprechendes Ernährungsbewusstsein ergänzt würden.
Dabei sei die Familie gefragt, die Aufklärung bei den Kindern
betreiben müsse, aber auch die Gesellschaft sei angesprochen,
in der übergewichtige Menschen sich ausgegrenzt fühlten
und so in einen gefährlichen Kreislauf des Rückzugs und
Frustessens hineingerieten.
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