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Igal Avidan
Wo die Liebe hinfällt
Größe des jüdischen Volks nimmt
ab
Zuerst die gute Nachricht: Den Juden weltweit geht es besser als
je zuvor. Die meisten von ihnen (92 Prozent) leben in westlichen
Demokratien, sind gebildet und genießen einen hohen
Lebensstandard ohne Diskriminierung. Aber je besser es den Juden
geht, desto schlechter ist es um das jüdische Volk bestellt.
Eine erste Studie des neuen Jewish People Policy Planning Institute
(Instituts für die Planung des Jüdischen Volkes) in
Jerusalem zeigt, dass allein in den vergangenen zehn Jahren die
Zahl der Juden weltweit um 300.000 zurück gegangen ist. Weil
nur Kinder einer jüdischen Mutter als Juden anerkannt werden,
schrumpft das jüdische Volk täglich um 150 Personen.
Die Zukunft des jüdischen Volkes ist also bedroht und zwar
nicht durch Antisemiten oder islamische Fundamentalisten, sondern
vor allem durch demografische Faktoren, sagt Projektleiter Sergio
DellaPergola. "Sowohl die Zahl der Juden als auch das jüdische
Bewusstsein in der Diaspora nimmt ab, weil nur wenige jüdische
Kinder geboren werden und die Gemeinden überaltert sind.
Gleichzeitig bekennen sich immer weniger Juden im Alter zwischen 30
und 45 zu ihrer jüdischen Identität. Einer Umfrage in den
USA zufolge sank die Zahl der Juden dort von 5,5 Millionen im Jahr
1990 auf 5,3 Millionen im Jahr 2000. DellaPergola: "Dabei
hätten wir gerade in den USA einen Anstieg der jüdischen
Bevölkerung auf 5,7 Millionen erwartet, zumal in der Studie
die Definition von Juden sehr liberal angelegt war, und weil
weiterhin Juden in die USA auswandern."
Die Geburtenrate der Juden im Westen ist nicht nur ebenso
niedrig wie in der Allgemeinbevölkerung, sondern jede zweite
Ehe ist eine Mischehe mit einem Nichtjuden. Die neue Studie stellt
eine eindeutige Verbindung her zwischen dem Anteil der Mischehen
und der Prozentzahl der Kinder, die täglich eine jüdische
Schule besuchen. Nur in Russland und der Ukraine (80 Prozent der
Ehen) ist die Zahl der Mischehen höher als in Deutschland
(über 60 Prozent).
Starke Kritik äußert DellaPergola am jüdischen
Bildungssystem in Deutschland, das der anhaltenden jüdischen
Einwanderung aus Osteuropa nicht gerecht werde. Die Lage erinnere
ihn an Frankreich in den 70er-Jahren. Frankreich konnte den
Menschen der großen jüdischen Einwanderungswelle aus
Nordafrika kaum Bildungseinrichtungen anbieten. Mittlerweile
besuchen immerhin 40 Prozent der jüdischen Kinder in
Frankreich eine jüdische Schule. In England sind es 67
Prozent, in Lateinamerika 80 Prozent und in Südafrika sogar 85
Prozent. In Deutschland sind es hingegen lediglich 20 Prozent. "Die
europäischen Regierungen sind nicht an jüdischer
Erziehung interessiert, weil sie keinen religiösen oder
ethnischen Partikularismus fördern wollen", sagt DellaPergola.
"Jeder Staat will vielmehr einen nationalen Schmelztiegel mit
eigener Identität, Kultur und Sprache schaffen - gerade
aufgrund der Konflikte mit Moslems in Deutschland und besonders in
Frankreich und Holland."
Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden
in Deutschland, sagt, dass das jüdische Bildungssystem
außerhalb der großen Gemeinden "mehr als mangelhaft" ist.
Er wünscht sich mehr jüdische Schulen, mehr Israelreisen
für Jugendliche und eine Anbindung junger Familien und
jüdischer Berufstätige an die Gemeinden. "Viele gehen uns
verloren." Andererseits räumt er ein, dass angesichts leerer
Kassen zusätzliche Kindergärten, Grundschulen und
Gymnasien "eine Illusion" sind. Außerdem gäbe es in den
kleinen Gemeinden nicht die "kritische Masse", die die
Gründung einer Schule rechtfertigen würde. Schuld daran
sei die Verteilung der jüdischen Zuwanderer auf das gesamte
Bundesgebiet, "was vielleicht für die Länder bei der
Verteilung der Sozialhilfe gut ist, für ein aktives
jüdisches Leben jedoch schlecht".
Die Zukunft des jüdischen Volkes besorgt auch den
Vorsitzenden der linken Yachad-Partei und ehemaligen Minister,
Yossi Beilin. In seinem Buch "Juden im 21. Jahrhundert - der Tod
des Onkels aus Amerika", stellt er fest, dass rund zwei Millionen
Ehepartner und Kinder von Juden dem Judentum sehr nahe stehen, eine
religiöse Konversion jedoch prinzipiell ablehnen. Andererseits
gelten Millionen atheistischer Juden als "ganz koscher". Um die
Zahl der Juden zumindest stabil zu halten schlägt er daher
einen nichtreligiösen Übertritt zum Volk Israel vor. "Ich
bin gegen jüdisches Missionieren, aber ich glaube, dass wir
Kinder eines jüdischen Mannes als Juden anerkennen sollen",
sagt Beilin. "Partner von Juden könnten ferner durch eine Art
weltlichen Übertritts ein Teil des jüdischen Volkes
werden, wenn auch nicht der jüdischen Religion. Sie sollten
Hebräisch und jüdische Geschichte lernen und überall
auf der Welt als gleichberechtigte Juden gelten. Die Initiative
muss aber von jedem Einzelnen kommen. Die Mischehen tun mir weh,
aber als Liberaler kann ich niemandem vorschreiben, in wen er sich
verlieben soll." Die Jerusalemer Demografen möchten unbedingt
die Zukunft des jüdischen Volkes absichern. DellaPergolla
sieht sich in der Pflicht, das jüdische Erbe am Leben zu
erhalten. "Gerade angesichts des Holocaust müssen die Juden
weiterleben", meint er. Schließlich glaubt der Experte, dass
die Juden die Welt interessanter und pluralistischer machen. Und
eine bunte Welt sei auch eine bessere.
Um diese Zukunft des jüdischen Volkes zu
gewährleisten, machen die Forscher einige konkrete
Vorschläge, vor allem um die Konversion russischer Einwanderer
zu erleichtern. So soll Israel die nichtorthodoxen Gemeinden den
orthodoxen gleichstellen, nichtorthodoxe Übertritte anerkennen
und die Einwanderung stärken. Ausländische Regierungen
wiederum sollen jüdische Bildungseinrichtungen
subventionieren, um diese jedem Juden zugänglich zu machen. Um
die jüdischen Gemeinden zu stärken, sollen junge Juden
für Spitzenfunktionen in jüdischen Organisationen
ausgebildet werden. Schließlich sollen jüdische
Partnervermittlungen erweitert werden. Ob sich dadurch die Liebe
ein wenig lenken lässt, bleibt abzuwarten.
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