Elena Stepanova
Nomenklatura in neuem Gewand
Russlands Eliten im Wandel
Vor 1989 war alles, was die Herrschenden der
Sowjetunion betraf, ein strenges Geheimnis. Sowohl für
westliche "Sowjetologen"als auch für die russischen
Wissenschaftler blieb das Funktionieren der Nomenklatura - der
sowjetischen politischen Klasse - ein Buch mit sieben Siegeln. Nur
wenige konnten hinter die Kulissen schauen und die Strukturen der
Entscheidungsträger im größten Land der Welt
untersuchen.
Olga Kryschtanowskaja untersucht seit 15
Jahren an der Russischen Akademie der Wissenschaften Struktur und
Wandel der russischen Elite. Mit ihrem Buch "Anatomie der
russischen Elite" will sie diese Lücke füllen. Es ist
sowohl eine chronologische Analyse über die Zeit von 1981 bis
2003 als auch eine Analyse verschiedener Eliteebenen (regionaler
und zentraler) und Elitebereiche (politischer und wirtschaftlicher
Elite), die mit nahezu anatomischer Genauigkeit unter die Lupe
genommen werden. Dabei untersucht die Autorin nicht nur die
offizielle Elitestruktur, sondern auch die inoffizielle, also
Gefolgschaften und Elite-Clans, die für Russland manchmal
sogar wichtiger sind als die offizielle Macht.
Die Autorin geht von der Hypothese aus, dass
es zwei unterschiedliche Gesellschaftstypen gibt - den politischen
und den ökonomischen. Politische Gesellschaften unterscheiden
sich von ökonomischen dadurch, dass in ihnen Reichtum in der
Regel erst nach der politischen Macht erworben wird. Dagegen
öffnet sich in ökonomischen Gesellschaften der Zugang zur
Macht erst, nachdem ein gewisses Niveau an Wohlstand erreicht
ist.
Russland pendelt zwischen diesen beiden
Bereichen: seltene Phasen der Ökonomisierung wechseln mit
langen Perioden, in denen die Politik dominiert. Der Zugang zum
Eigentum bleibt vom Verhältnis zum Staat abhängig.
Kryschtanowskaja beschreibt den Prozess der Inkorporation in die
Elite und stellt fest, dass die Anforderungen an "Kandidaten"
unbestimmt und dass konkrete Fähigkeiten weniger wichtig als
Beziehungen und Zufall sind.
Es gibt eine institutionalisierte
Kaderreserve; an öffentliche Ausschreibungen für vakante
Stellen ist nicht zu denken. Gesellschaftliche Kontrolle oder
zeitliche Beschränkung sind nicht vorhanden, deshalb kann man
die Mobilität der Eliten nicht genau voraussagen. Mit Blick
auf die Wahlen auf verschiedenen Ebenen betont Kryschtanowskaja die
Rolle der so genannten administrativen Mittel, die die Wahlen im
postsowjetischen Russland bestimmen. Gemeint ist die
Möglichkeit der Machthaber, Wähler und Wahlergebnisse
durch verschiedene Einflussmechanismen zu manipulieren. Dabei kommt
sie zu dem Schluss, dass die Wahlen in Russland ein Bereich sind,
in dem einzelne Gruppen der Elite gegeneinander
kämpfen.
Die Vertreter der Zivilgesellschaft
können nur durch Ernennung in die Elite gelangen. Und von den
Parteien haben nur jene ein politisches Gewicht, die von der Elite
geschaffen wurden und Erfahrung im Parlament gesammelt
haben.
Im Gegensatz zu anderen Forschern, die sich
nur mit dem Aufstieg in die Elite beschäftigen, analysiert
Kryschtanowskaja auch den Prozess des Ausscheidens. So beschreibt
sie, wie aus den Ministerien Anfang der 90er-Jahre
Großkonzerne entstanden sind, die ehemalige politische Eliten
als Konzernpräsidenten beherbergen. Firmengründungen auf
der Basis des politischen Kapitals sind ein beliebter Mechanismus
der Eliten, um sich für später eine gute Position zu
sichern.
Schließlich beschreibt die Autorin
ausführlich den Aufstieg Putins und den Aufbau der so
genannten Machtvertikale, gemeint ist die Einführung der
Institution der Bevollmächtigten des Präsidenten in den
Föderationsbezirken und der Inspektoren der Föderation,
wodurch die Macht der Gouverneure geschwächt wird.
Gleichzeitig beobachtet sie die Errichtung der
Führungshorizontale, also die Durchsetzung aller Sphären
der Gesellschaft mit Militärs.
Prozess der Privatisierung
Dieser letzte Teil ist besonders interessant,
denn es geht um die russische Business-Elite. Analysiert werden der
Prozess der Privatisierung, der Aufbau der Finanz-Industrie-Gruppen
und die politischen Verbindungen zwischen Wirtschaft und Macht.
Dabei gelingt der Autorin ein genaues soziologisches Porträt
der heutigen Wirtschaftselite in Russland. Wertvoll ist auch die
Liste aller einflussreichen Persönlichkeiten mit
Kurzbiografien im Anhang des Buches.
Das Buch ist ein hervorragender Beitrag nicht
nur zur Eliteforschung, sondern auch zum Verständnis der
politischen Situation im heutigen Russland. Es ist von einer
Insiderin geschrieben, die sich selbst nicht als Russland-Expertin
bezeichnet, wie es in Deutschland längst ein Modewort geworden
ist - sie ist einfach eine Expertin, wie ihre gründliche, gut
recherchierte Studie beweist.
Olga Kryschtanowskaja
Anatomie der russischen
Elite.
Die Militarisierung Russlands unter
Putin.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005;
281 S., 19,90 Euro
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