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Andrea Dunai
Bunte Begebenheiten aus Moskau
Alltag in der russischen Metropole
Geschichten und Ereignisse, in denen sich die große Politik
nicht widerspiegelt, markieren trotzdem das Leben einer Stadt. Die
Protagonisten sind in der Regel kleine Leute, die zu ihrer Umgebung
ein besonderes Verhältnis haben. In Moskau, der pulsierenden
Zehn-Millionen-Hauptstadt Russlands, haben sich in der Ära
Luschkow große Veränderungen vollzogen. Hier fühlen
sich nicht nur das ausländische Kapital heimisch, sondern
offenbar auch die Heldinnen und Helden jener 21 Geschichten, die
Christine Hamel entdeckt und beschrieben hat.
Die Orte, an denen sich die Geschichten abspielen, sind jene
Stellen, die Moskau - als Stadt und Phänomen - auf der Achse
zwischen Vergangenheit und Zukunft prägen. Jewgenij
Wassilijewitsch zum Beispiel ist Metrofahrer, genau wie sein Vater.
Er verbringt seine ganze Arbeitszeit unter der Erde. Er ist stolz
auf seine Arbeit, liebt die Schnelligkeit, Zuverlässigkeit und
Sauberkeit seiner Züge. Während der Fahrten im Tunnel hat
er sich die Kunst des langfristigen Denkens angeeignet. An der
unterirdischen Bahn schätzt er am meisten, dass hier, und nur
hier, das Leben im guten Sinne des Wortes altmodisch blieb.
Schwur am Schreibtisch Gagarins
Im Weltraumstädtchen "Swesdnyj gorodok" geht es auch nicht
nur zukunftsorientiert zu. Dort lebt die große
Kosmonautenfamilie des Landes, etwa 7.500 Menschen. In der Allee
der Helden ist auch die Vergangenheit präsent. Im ersten Haus
dieser Prachtstraße lebte Jurij Gagarin. Heute steht sein
Schreibtisch im hiesigen Museum und nimmt immer noch die
Schwüre der Kosmonauten der jüngeren Generation ab.
Angeblich geht ein dort geäußerter Wunsch immer in
Erfüllung.
Grigorij Sacharow studiert Poesie im Gorkij-Literaturinstitut
bei der Lyrikerin Tatjana Bek. Bevor er sich den Reimen widmet,
holt er sich jeden Morgen ein Glas Milch. "Für den gerade erst
Zwanzigjährigen erfüllte sich mit der Aufnahme ans
Literaturinstitut ein Wunschtraum, wie sonst wäre er dichtend
der russischen Provinz entkommen?" - so die Autorin und stellt dann
die Stiftung "Memorial" vor, genauer gesagt, überlässt
sie diese Arbeit Walerija Ottonowna, die sich als Opfer des
"Großen Terrors" jeden Mittwoch mit ihren Schicksalsgenossen
trifft.
Eine Protagonistin der jüngerer Generation und mit anderem
familiären Hintergrund geht einer völlig anderen
Beschäftigung nach: Sie erlernt in einem Klub den Beruf einer
fernöstlichen Geisha. Über den Kurs, den sie besucht,
wird ganz im Zeichen der Modernisierung in der Duma-internen
Zeitschrift ausführlich berichtet. Auch in Moskau kann man mit
zwei kreativen Händen Kunst ausüben; dies tun zahlreiche
Stricker und Strickerinnen. Ihr Werk, ein "Pullover für
Russland" in der Größe XXXXXL, wurde unlängst zur
Freude vieler Besucher am Miusskaja Platz ausgestellt.
Die Agentur "Ehemänner für eine Stunde" ist eine
einzigartige Institution, vielleicht einmalig auf der ganzen Welt.
In dem kleinen Büro stehen nur ein Schreibtisch und mehrere
Telefonapparate. Dort rufen verzweifelte Frauen an, die ihren
Ehemännern nicht mehr trauen oder von ihren Versprechungen
genug haben, sich endlich um die fälligen Reparaturen im Haus
zu kümmern. Demgegenüber reicht bei der Handwerker-Firma
ein Anruf, und was kaputt ist, wird termingerecht und gewissenhaft
erneuert.
Christine Hamel versteht solche Frauen und Männer, die von
Literaturwissenschaftlern, Historikern und Reiseführerautoren
nicht wahrgenommen werden. Sie weiß, dass Marina Scherbakowa,
die Aufseherin in dem Literaturmuseum "Marina Zwetajewa", alle
Gedichte ihrer Lieblingspoetin auswendig kennt, dass es im Kreml
eine winzige Wohnung gibt und man mit dem Nähen von Fahnen
heutzutage gute Geschäfte machen kann. Ihr Erzählton ist
liebevoll und klar, sie möchte ihr Wissen niemandem
eintrichtern, sie bietet lediglich bunte Menschen und
Situationen.
Kein Moskaubesucher sollte auf diese Lokalkolorit atmenden
Episoden verzichten; ohne sie, ohne die Mannigfaltigkeit der zum
geflügelten Wort gewordenen "russischen Seele" kann man sich
über Moskau kein vollständiges Bild machen.
Christine Hamel
Bitte anschallen Richtung Zukunft!
Moskauer Pirouetten.
Picus Verlag, Wien 2004; 132 S., 13,90 Euro
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