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Suzanne S. Schüttemeyer
Staatsverdrossenheit der Wähler
Die neue Ausgabe der "Zeitschrift für
Parlamentsfragen" (1/2005)
Große Erwartungen begleiteten die Kommission zur
Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung bis zu ihrem Scheitern
im Dezember 2004. Letztlich hatten sich die Hürden für
Reformen des deutschen Föderalismus wieder als zu hoch
erwiesen. Also hält der Kompetenzverlust der Landesparlamente
an; und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass die
Analysen der Landtagswahlen in der "Zeitschrift für
Parlamentsfragen" kaum landesspezifische Wahlkampfthemen, sondern
jene Fragen identifizieren, die gerade an der Spitze
bundespolitischer Reizthemen rangieren.
Bei den Landtagswahlen im Herbst 2004 standen die Proteste gegen
die Arbeitsmarktreform Hartz IV im Vordergrund. Höchstens mit
Personalisierungsstrategien scheinen noch regionale Akzente gesetzt
werden zu können, wie Jürgen R. Winkler für das
Saarland und Oskar Niedermayer für Brandenburg zeigen. In
allen Ländern wurde erneut deutlich, dass die großen
Parteien immer weniger Wähler an sich zu binden und zu
mobilisieren vermögen.
Geringe Wahlbeteiligungen
Die Beteiligung an den Landtagswahlen 2004 betrug überall
unter 60 Prozent, im Saarland sank sie gar um 13 Punkte. Zum Teil
drastische Verluste von SPD und CDU kamen überwiegend den
kleinen Parteien zugute. Dabei gilt mittlerweile beunruhigend
häufig, dass nicht mehr die "Opposition im System", sondern
die "Opposition zum System" profitiert, wie Eckehard Jesse für
Sachsen beobachtet, wo die NPD fast so viele Stimmen wie die SPD
erhielt. Auch wenn man noch hoffen mag, dass es kein nennenswertes
rechtsextremes Milieu gibt, so können sich weder die
demokratischen Parteien noch die Öffentlichkeit damit
beruhigen, dass - so Eckehard Jesse - die Protestwähler schon
zurückkehren werden, wenn die Leistungsfähigkeit der
Parteien und Politiker wieder steige.
Wir verfügen nicht über sicheres Wissen, wann aktuelle
und punktuelle Verdrossenheit über Politik und Politikern
umschlägt in generelle Ablehnung demokratischer Prinzipien und
Institutionen. Es ist klüger, den Anfängen zu wehren und
alles zu unternehmen, Bürger und Politik besser aufeinander zu
beziehen, als sich mit selbstgefälligem Abwarten zu
begnügen.
Dass dies ganz besonders für die Ebene der EU gilt, auf der
sich alle Schwierigkeiten von Repräsentationsprozessen noch
einmal zu verschärfen scheinen, wird regelmäßig bei
Wahlen zum Europäischen Parlament demonstriert. Auch hier
fällt den (großen) Parteien die Mobilisierung der
Wähler zunehmend schwerer; sie weichen auf Personalisierung
aus oder versuchen, Unzufriedenheit mit nationalen
Politikergebnissen zu instrumentalisieren. Insofern stellt sich der
Ausgang der EP-Wahl 2004 in Deutschland durchaus als
europäischer Normalfall dar, wie Oskar Niedermayer belegt. Ein
"Normalfall", mit dem wir uns beruhigen können?
Die Ausdifferenzierung des Parteiensystems und das Erstarken
kleiner Parteien lassen erwarten, dass künftig noch
häufiger als bisher Koalitionen gebildet werden müssen.
Den Einfluss der kleineren Partner in Regierungsbündnissen
erhellt Sebastian Putz. Seine Fallstudie blickt hinter die Kulissen
der seinerzeitigen CDU-FDP-Koalition in Sachsen-Anhalt, zeichnet
den Sturz des Ministerpräsidenten 1993 detailliert nach und
leitet zu weiteren Systematisierungen bei der Erforschung von
Koalitionskonflikten an.
Welche Wirkung von Wahlsystemen auf die Entscheidungen der
Bürger ausgeht, haben Harald Schoen und Thorsten Faas am
bayerischen Fall untersucht. Das dortige kandidatenorientierte
Landtagswahlrecht werde von den Wählern nicht
ausgeschöpft. Die Führer auf den Parteilisten erhalten
vielmehr einen Bonus von fast 40 Prozent, werden gewählt, weil
sie die Erstgenannten sind. Dennoch - und trotz aller trendigen
Taktiken von Werbemanagern in der Politik - sind programmatische
Positionen wichtig. Dies belegen Umfragen unter deutschen und
niederländischen Parlamentskandidaten, die Andreas M.
Wüst auswertet. Danach dürften Wähler mit
Migrationshintergrund "linke" Parteien erheblich stärker
präferieren, weil deren Kandidaten weiterer Zuwanderung und
geringeren Assimilationsanforderungen offener gegenüberstehen
und bessere Repräsentation der Minderheiten im Parlament
befürworten.
Seit langem werden in Deutschland unmittelbare Sachabstimmungen
durch das Volk diskutiert. Erich Röper erläutert ein
Urteil des OVG Bremen zu einer Volksinitiative, das Bedeutung
über die Grenzen des Stadtstaates hinaus entfaltet, weil es
die Rechtsstellung der Initiatoren stärkt und die Verfahren
beschleunigen wird. Daran knüpft sich die Hoffnung, dass
Parlamente nicht mehr so "abschätzig oder zumindest
uninteressiert" auf Volksinitiativen reagieren. Kritisch sieht auch
Otmar Jung die Haltung von Parlamenten und Regierungen
gegenüber Instrumenten sogenannter direktdemokratischer
Einflussnahme. Er untersucht obligatorische Verfassungsreferenden
in Bayern, Hessen und Bremen. Seine Quintessenz: Regierungen
schnüren Abstimmungspakete und fangen Basisinitiativen ab, um
sich der Kontrolle durch Referenden zu entziehen. Eine insofern
unvollkommene Referendumspraxis mache immerhin "konservative
Abwehrparolen unglaubhaft", zum Beispiel jene, "dass das Volk nicht
über Sachfragen entscheiden könne, weil diese zu komplex
seien".
Mangelndes Wissen
Peter Rütters präsentiert Daten zu Sozialprofil,
Rekrutierungsvoraussetzungen und Amtsverlauf der
saarländischen Regierungsmitglieder seit 1947. Danach sind
hohe Anforderungen an die Schulbildung und an fachliche,
administrative und politische Erfahrungen der Amtsinhaber
festzustellen. Ihre Parlamentsbindung hingegen nahm seit den
80er-Jahren deutlich ab: Der saarländische Landtag vermochte
"offensichtlich immer weniger, die notwendige personelle Expertise
zu liefern".
In welchem Ausmaß mittlerweile nicht nur der deutsche
Verbundföderalismus, sondern obendrein die europäische
Ebene professionelle Politikgestaltung von den Landesregierungen
erfordert, zeigt Michael W. Bauer. Auf der Basis gängiger
Hypothesen zur Stellung der deutschen Länder im
europäischen Integrationsprozess untersucht er, wie die
Landesregierungen im Konzert und ihre Verhandlungsführer im
einzelnen agiert haben, um den europäischen Verfassungskonvent
zu beeinflussen. Bauers Fazit: Die Länder büßten
ihre Sprachfähigkeit und damit ihren Einfluss weitgehend ein.
Betrachtet man die in diesem Heft analysierten bundesstaatlichen
und europäischen Lernprozesse zusammen, so fragt man sich, ob
die deutschen Länder noch mitreden können, auch, ob sie
überhaupt noch mitreden wollen.
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