Karlheinz Lau
Eine große Geste der Versöhnung
Eine deutsch-polnische Aktenedition zur
Vertreibung
Ende des vergangenen Jahres wurde im
Herder-Institut in Marburg der letzte Band der vierteiligen
Dokumentensammlung aus polnischen Archiven über die Schicksale
der Deutschen aus Zentralpolen und den ehemaligen Ostprovinzen
Deutschlands jenseits von Oder und Neiße zwischen 1945-1950
vorgestellt. Die Edition erscheint in beiden Ländern. Die vier
Bände behandeln alle Regionen des damaligen polnischen Staates
sowie die ostdeutschen Vertreibungsgebiete, der nunmehr
vorgestellte Abschlussband Westpreußen und
Niederschlesien.
Die Präsentation geschah im Rahmen einer
Podiumsdiskussion mit Kulturstaatsministerin Weiß und den
beiden Herausgebern der Reihe, Wlodzimierz Borodziej und seinem
deutschen Kollegen Hans Lemberg. Die Ministerin ergriff die
Gelegenheit zu einigen grundsätzlichen Anmerkungen und
bescheinigte dem Herder-Institut, dass es konkurrenzlos das Zentrum
für ost- und ostmitteleuropäische Forschung in
Deutschland ist. Die vierbändige Sammlung ist für die
Ministerin eine überzeugende grenzüberschreitende Arbeit
und geeignet, die Sichtweise des Nachbarn Polen auf die tragischen
Ereignisse von Flucht und Vertreibung der deutschen
Bevölkerung kennen zu lernen. Notwendig sei aber, eine
über den nationalen Blickwinkel hinausgehende Perspektive zu
gewinnen, und zwar bei Polen und bei Deutschen, ohne das eigene
nationale Geschichtsbild aufzugeben.
Genau in diese Richtung zielt die Initiative
der Kulturminister Polens, Deutschlands, der Tschechischen Republik
zu einem europäischen Netzwerk, das Flucht und Vertreibungen
während der nationalsozialistischen und kommunistischen
Herrschaft vergleichend erforschen und untersuchen soll. Beide
Herausgeber zogen in Marburg Bilanz: sie würdigten die Arbeit
deutscher und polnischer Historikerinnen und Historiker, die 1997
mit der Sammlung von Dokumenten aus polnischen Archiven begann; nur
die katholische Kirche verweigert den Zugang zu ihren Archiven. Es
sind eindrucksvolle Zahlen: aus mehreren zehntausend Quellen -
Befehlen, Rundschreiben, Bekanntmachungen, Protokollen, Meldungen -
wurde eine Auswahl von etwa 1.350 Dokumenten zusammengestellt mit
umfangreichen Einleitungen und Erläuterungen sowie
Übersichtskarten versehen. Die gesamte Quellenedition umfasst
über 3.000 Seiten. Gefördert wurde sie von der Stiftung
Deutsch-Polnische Zusammenarbeit und der Robert Bosch Stiftung; das
Herder-Institut fungiert als institutioneller
Herausgeber.
Lemberg sprach von einer neuen Qualität
in der Diskussion und Beurteilung der Vertreibung durch die
Gegenüberstellung von persönlichen Erlebnisberichten in
der vom damaligen Vertriebenenministerium herausgegebenen
"Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa"
und den nunmehr veröffentlichten amtlichen polnischen
Dokumenten. Dabei wurde der Begriff Vertreibung bewusst vermieden;
er erscheint zu eng für eine Beschreibung von Geschehnissen,
durch die Menschen hin- und hergeschoben, repatriiert, in die
Verbannung geschickt oder zur Zwangsarbeit verurteilt wurden, wo
sie ausreisen mussten, aber auch vertrieben wurden.
In den Einleitungen zu den einzelnen
Regionalkapiteln werden diese unterschiedlichen Konfrontationen
für die betroffenen Menschen deutlich beschrieben; sie zeigen
aber auch die historischen Hintergründe - etwa das
Verhältnis zwischen Deutschen und Polen in der
Zwischenkriegszeit, in Zentral-Polen oder in Oberschlesien - und
räumen mit der immer noch zählebigen Legende auf,
Vertreibungen hätten erst nach 1945 begonnen, und Opfer seien
nur die Deutschen gewesen. Die Edition klagt nicht an, sie ist ein
Baustein zum Verständnis eines bis heute emotional beladenen
Zeitabschnittes in der deutsch-polnischen Geschichte.
Borodziej, einer der Vorsitzenden der
gemeinsamen Schulbuchkommission, kündigte an, dass sich die
nächste Sitzung des Gremiums in Stettin mit der Frage
beschäftigen werde, wie aus dieser Masse an Informationen eine
schuldienliche Ausgabe herausgefiltert werden könne. Auf
diesem Gebiet gibt es bis heute mindestens in Deutschland einen
großen Nachholbedarf an Informationen und Kenntnissen. Was
indirekt durch die vier Bände transportiert wird, ist das
große Wunder, wie viel nach den Abgründen und
Brüchen im deutsch-polnischen Verhältnis heute an
Normalisierung und auch Freundschaften erreicht wurde.
Eine wichtige Information kam aus dem
Herder-Institut: eine Arbeitsgruppe bereitet eine Sammlung von
Dokumenten aus tschechischen Archiven vor. Angesichts der Brisanz
der sudetendeutschen Frage, die wesentlicher Teil des
Vertreibungsschicksals der Deutschen in Mittel-Osteuropa ist, ein
nicht weniger bedeutsames Vorhaben.
Wlodzimierz Borodziej, Hans Lemberg (Hrsg.)
Die Deutschen östlich von Oder und
Neiße.
Dokumente aus polnischen
Archiven.
Verlag Herder-Institut, Marburg 2002-2004;
4 Bände, 199,- Euro.
Band 1: Zentrale Behörden,
Wojewodschaft Allenstein.
Band 2: Zentralpolen, Wojewodschaft
Schlesien (Oberschlesien).
Band 3: Wojewodschaft Posen, Wojewodschaft
Stettin (Hinterpommern).
Band 4: Wojewodschaften Pomerellen und
Danzig (Westpreußen), Wojewodschaft Breslau
(Niederschlesien).
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