Günter Holzweißig
Entwurzelt in der neuen Heimat
Vertriebene in Deutschland-Ost und
Deutschland-West
Etwa zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus
den ehemaligen deutschen Ostgebieten fanden nach dem Zweiten
Weltkrieg in den drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands eine
neue Heimat. Weitere vier bis fünf Millionen ließen sich
in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) nieder. Bis heute, so der
Befund von Michael Schwartz, Mitarbeiter der Berliner Abteilung des
Instituts für Zeitgeschichte, sei die innergesellschaftliche
Konfliktgeschichte zwischen Vertriebenen und Alteingesessenen in
der kollektiven Erinnerung der Deutschen weitgehend tabuisiert.
Der Autor konzentriert sich in seiner grundlegenden
Habilitationsschrift zwar auf die Darstellung der kommunistischen
Vertriebenenpolitik der Nachkriegsjahre in der SBZ/DDR. Doch er
beschreibt gleichzeitig die Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei
der ebenfalls nur mühsam bewältigten Integration der
Vertriebenen in Westdeutschland. Diese Vorgehensweise versteht der
Autor als einen Beitrag zu einer notwendigen gesamtdeutschen
Geschichtsschreibung.
Obwohl unmittelbar nach Kriegsende in der Sowjetischen
Besatzungszone wie in den Westzonen die Termini "Vertriebene" und
"Flüchtlinge" zunächst üblich waren, durften diese
auf Weisung der Sowjets seit September 1945 fortan im offiziellen
Sprachgebrauch nur noch als "Umsiedler" bezeichnet werden. Damit
war vorrangig zweierlei beabsichtigt: Zum einen glaubte man,
hierdurch den Anspruch der Vertriebenen auf Eingliederungshilfen
gegenüber der häufig feindselig eingestellten
einheimischen Bevölkerung durchsetzen zu können. Zum
anderen war es im Gegensatz zur frühen westdeutschen
Vertriebenenpolitik die erklärte Absicht der Machthaber in der
SBZ/DDR, jegliche Hoffnungen auf eine Rückkehr in die alte
Heimat im Keim zu ersticken.
Vertriebene und Flüchtlinge erhielten in der Bundesrepublik
durch die Lastenausgleichgesetze partielle
Vermögensentschädigungen, während sie in der SBZ
zunächst im beschränkten Umfang von der Enteignung der so
genannten Großgrundbesitzer durch die "Bodenreform" oder das
Neubauern-Bauprogramm profitieren konnten. Baumaterial wurde aus
eigens dafür abgerissenen Gutshäusern zugeteilt. Man wies
den Vertriebenen bevorzugt Gartenland zu und gewährte
"Umsiedlerkredite". Eine ursprünglich in Angriff genommene
Zwangsumverteilung von Hausrat scheiterte ebenso wie in den
Westzonen.
Unbewiesene Behauptungen
Zu Recht hält Schwartz - gestützt auf seine
Forschungsergebnisse - die in der Literatur vereinzelt vertretene
These für abenteuerlich, die DDR habe im deutsch-deutschen
Vergleich bis 1952 bei den Versorgungsleistungen für
Vertriebene noch mithalten und die Bundesrepublik dabei sogar
übertreffen können. Bis zu diesem Zeitpunkt habe es in
der "Umsiedlerpolitik" der DDR jedoch auch keine ausgesprochene
Eigentumsfeindlichkeit gegeben. Im Jahr 1953 verabschiedete sich
die SED abrupt von einer spezifischen
Vertriebenen-Integrationspolitik, weil sie nicht mehr in das Raster
des zuvor von Walter Ulbricht verkündeten "Aufbaus des
Sozialismus" in der DDR passte.
Der Autor wünscht sich im Fazit seiner materialreichen
Studie ein größeres Wissen darüber, wie sehr
Deutschland für viele Vertriebene eine bittere "Zwangsheimat"
gewesen und geblieben sei. Jeder Integrationsprozess unterliege
vehementen gesellschaftlichen Konflikten. In dessen Verlauf wachse
die Tendenz, seine Erfolge zu feiern, aber seine Opfer zu
vergessen. Wissenschaft könne jedoch einer solchen
"Erinnerungspolitik" nicht Vorschub zu leisten.
Mit dieser Ansicht dürfte er nicht überall auf
ungeteilte Zustimmung stoßen. Das ändert indes nichts
daran, dass Schwartz ein Standardwerk vorgelegt hat, an dem sich
die Forschung künftig orientieren muss. Es ist zudem geeignet,
einer Mythenbildung bei dem im 60. Jahr der Vertreibung
bevorstehenden öffentlichen Gedenken vorzubeugen: Weder in der
SBZ/DDR noch im Westen war die Assimilation der Vertriebenen eine
ungetrübte Erfolgsstory.
Michael Schwartz
Vertriebene und "Umsiedlerpolitik".
Integrationskonflikte in den deutschen
Nachkriegsgesellschaften und die Assimilationsstrategien in der
SBZ/DDR 1945 bis 1961.
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte.
Hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, Band 61.
R.Oldenbourg Verlag, München 2004; 1261 S., 128,-
Euro
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