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Karl-Otto Sattler
Machtlos vor dem Pulverfass
Die Union und der Tschetschenienkonflikt nach
dem Tod Maschadows / Von Karl-Otto Sattler
Die Tragödie Tschetscheniens scheint kein
Ende zu kennen. Mit dem Tod des tschetschenischen
Rebellenführers Maschadow ist das Land wieder einmal in die
Schlagzeilen gekommen - für kurze Zeit. Sich ein Bild
über die Lage zu machen, ist schwierig, denn Journalisten
haben keinen freien Zutritt, und Informationen werden gefiltert und
zensiert. Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass sich
Europa zu wenig für die Kaukasusrepublik engagiere. Was kann
Europa tun, um in diesem Konflikt zu vermitteln?
Drastisch bringt es Andreas Gross so auf den
Punkt: Das Leben in Tschetschenien "ist die Hölle". Treffender
als der Schweizer Sozialdemokrat, der im Auftrag der
Parlamentarischen Versammlung des Europarats einen Runden Tisch zu
dem Konflikt organisiert, kann man die Katastrophe in dem vom
Krieggezeichneten Kaukasusland nicht charakterisieren. Etwa 200.000
Tschetschenen und rund 15.000 russische Soldaten starben in
über einem Jahrzehnt. Die Menschen leiden unter einer Orgie
von Gewalt, für die Moskauer Militärs und Geheimdienste,
deren einheimische Verbündete, Warlords, Kriminelle, korrupte
Politiker und zum Teil mit brutalem Terror für die
Unabhängigkeit kämpfende Rebellen verantwortlich
sind.
Jedes Jahr entführen und ermorden nach
Recherchen von Menschenrechtsgruppen wie etwa Memorial
Todesschwadrone russischer Geheimdienste oder lokaler Kriegsherren
Hunderte von Oppositionellen. Dörfer werden zerbombt,
Häuser gesprengt. Nach Erkenntnissen des Europarats leben an
die 100.000 Flüchtlinge unter miserablen Bedingungen in
Anrainerstaaten wie Inguschetien und Dagestan.
Auch in Flüchtlingslagern innerhalb
Tschetscheniens herrschen teils schlechte hygienische
Verhältnisse. Die Zahl der Kriegsverletzten ist enorm.
Blutrünstige Rebellenkommandeure wie Schamil Bassajew
verüben Terrorakte, etwa den Anschlag auf ein Moskauer Theater
oder die Geiselnahme in der Schule von Beslan. So dramatisch die
Lage ist, so ist das Schicksal der Tschetschenen international auf
seltsame Weise zusehends in den Hintergrund
gerückt.
Geheim ist die Katastrophe trotz massiver
Behinderungen der Medien wie auch von Menschenrechtsgruppen durch
die Behörden keineswegs. Vertreter des Europarats-Parlaments,
vor allem Andreas Gross und der SPD-Bundestagsabgeordnete Rudolf
Bindig, oder der Spanier Alvaro Gil Robles als
Menschenrechtskommissar des Staatenbunds haben nach Visiten in der
Region viele kritische Berichte verfasst. Vor dem Palais d'Europein
Straßburg stehen oft Bürgerrechtsinitiativen und klagen
mit Photos von zerfetzten Leichen, maltraitierten Verletzten,
weinenden Witwen oder ausgebrannten Häusern die
Menschenrechsverstöße an. Die Liga für
Menschenrechte, amnesty international, Memorial und andere
Organisationen erheben immer wieder ihre mahnende
Stimme.
Die Ermordung des Rebellenführers Aslan
Maschadow, des 1997 einigermaßen demokratisch gewählten
Tschetschenen-Präsidenten, richtet plötzlich wieder die
Scheinwerfer auf das Pulverfass. Offenbar waren in diese dubiose
Aktion russische Geheimdienste und der tschetschenische Vizepremier
Ramsan Kadyrow verwickelt.
Zulauf für die Falken
Dringender denn je stellt sich die Frage, was
Europa tun kann, um einer Eskalation nach der Tötung des als
gemäßigt geltenden Maschadow zu begegnen. Der
Rebellenführer "wurde von Kräften ermordet, die jede
Alternative zum Krieg sabotieren wollen", meint Andreas Gross. Der
Tod Maschadows, der anders als die mit Moskau kooperierende
Führung in Grosny zu den Aufständischen zählte,
helfe "nur den Falken in beiden Lagern". Die kompromisslosen
Rebellen dürften nun gerade unter jungen Leuten noch mehr
Zulauf finden als bisher schon. Maschadow war der letzte auf der
Seite der Aufständischen, der noch Gesprächssignale nach
Moskau sandte. Sucht jetzt Präsident WladimirPutin
endgültig die militärische Entscheidung in
Tschetschenien?
EU wie Europarat vermögen nicht allzu
viel zu tun für eine politische Lösung im Kaukasus. Von
einer Tschetschenienpolitik in Brüssel kann im Grunde nicht
die Rede sein. Der Einfluss ist einfach deshalb begrenzt, weil
Russland der EU nicht angehört. Das EU-Parlament hat mehrfach
eine friedliche Regelung im Kaukasus angemahnt. Und auch die
Grünen fordern immer wieder, die Ermordung Maschadows im
EU-Parlament zu diskutieren. Doch kritische Resolutionen dieser Art
finden in Russland kaum Widerhall. Eher vage Hoffnungen knüpft
man in Brüssel an Vertragsverhandlungen mit Moskau über
eine engere Anbindung an die EU: Vielleicht ändert Putin ja
seinen Kurs in Tschetschenien, um Kooperationsabkommen nicht zu
gefährden. Sozusagen ein Wandel durch
Annäherung.
Beim Europarat ist Russland hingegen
Mitglied. Doch die Macht Straßburgs reicht ebenfalls nicht
weit. Das Parlament des Staatenbunds hat öfter das Vorgehen
Moskaus im Kaukasus verurteilt und den russischenDelegierten wegen
der Menschenrechtsverletzungen im Zuge der dortigen
Kriegführung sogar einmal vorübergehend das Stimmrecht
aberkannt. Beeindrucken lässt sich Putin durch diese
Aufmüpfigkeit indes nicht. Unermüdlich müht sich
Menschenrechtskommissar Gil Robles, den Gesprächsfaden zu den
Aufständischen wie zur Moskauer Regierung nicht abreißen
zu lassen. Der Europarat achtet im Übrigen darauf, nicht
Partei für die Rebellen zu ergreifen und die territoriale
Integrität Russlands im Kaukasus nicht in Frage zu stellen.
Von einer Vermittlung seitens derEU oder des Europarats will Putin
freilich nichts wissen.
Andreas Gross appelliert an die
führenden Regierungen Europas, bei ihren Gesprächen mit
Moskau auf eine politische Lösung in Tschetschenien zu
dringen. Und mit dem Runden Tisch in Straßburg will der
Europarat zumindest ein Zeichen setzen, dass sich gerade nach dem
Tod Maschadows "alle Friedenswilligen um Auswege aus der Sackgasse
des Krieges, der Gewalt und des Terrors" kümmern müssen,
so Gross. Vorerst aber sind die Chancen auf Frieden im Kaukasus
weiter gesunken. Nun werde "niemand mehr über Verhandlungen
auch nur reden wollen", meint resignierend Walentina Melnikowa vom
Komitee russischer Soldatenmütter.
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