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Tobias Asmuth
Das schwierige Leben im Wartesaal
Zehn Jahre nach Dayton: Bosnien-Herzegowina
zwischen Hass und Hoffnung
Zehn Jahre nach dem Ende des Krieges steht
Bosnien-Herzegovina am Scheideweg: Die Jugend wagt den Aufbruch,
doch die Politik blockiert den Fortschritt. Der einzige Ausweg ist
eine Reform des vor zehn Jahren abgeschlossenen Friedensabkommens
von Dayton.
In der Altstadt von Sarajevo im Club Sloga
stürmt die Band unplugged plug die Charts des Westens.
Sänger Salih, Gitarrist Adim, Keyboarder Süley und Zag am
Schlagzeug können sich auf ihre Fans verlassen. Egal ob U2
oder Oasis, das Menschenmeer vor der Bühne singt jedes Lied
laut mit, Zeile für Zeile, versunken und hingebungsvoll. Die
Luft steht, das Bier an der Bar ist teuer, es kostet unglaubliche
vier bosnische Mark (zwei Euro), aber wenn Sänger Salih Robbie
Williams "Feel" anstimmt, dann gehören die Menschen im Sloga
dazu, fühlen sie sich frei, liegt Sarajevo in Europa und nicht
im Protektorat Bosnien-Herzegowina. "Come and hold my hand, I wanna
contact the living." Inzwischen kocht der Club, alles wird
gut.
Draußen vor der Tür des Sloga liegt
ein Land, das ohne eine solche Gewissheit existiert. Zehn Jahre
nach dem Ende des Krieges gibt es in Bosnien-Herzegovina zwar eine
gemeinsame Regierung aus Muslimen, Kroaten und Serben, die aus
freien und geheimen Wahlen hervorgegangen ist, über eine
Million Flüchtlinge sind zurückgekehrt, und an der
ehemaligen "Sniper-Alley" in Sarajevo, an der serbische oder
muslimische Scharfschützen Menschen wie Hasen jagten, glitzern
jetzt die Fassaden der Autohäuser von VW, BMW und Volvo.
Gleichzeitig aber können sich die Politiker der
muslimisch-kroatischen Föderation und der serbischen
Teilrepublik Srpska nicht auf einheitliche Pässe,
Autokennzeichen oder einen gemeinsamen Text der Nationalhymne
einigen. Das Land wird von unbarmherzigen Grenzen durchzogen, an
den alten Frontlinien liegen immer noch tausende Minen, die, wenn
überhaupt, nur langsam geräumt werden. Die
Hilfsorganisation HELP hat ausgerechnet, dass es so noch 740 Jahre
dauern wird, bis Bosnien-Herzegowina minenfrei ist.
Der Krieg werde heute mit politischen Mitteln
fortgesetzt, sagt General David Leakey, englischer Oberbefehlshaber
der europäischen Friedenstruppe (EUFOR): "Die Politiker auf
allen Seiten sind Nationalisten." Leakey, 52, bittet zu einem
Gespräch ins Hotel Hollywood am Flughafen von Sarajevo, um zu
erklären, warum die 7.000 europäischen Soldaten weiter in
Bosnien-Herzegowina stationiert sein müssen. "Es gibt zu wenig
Vertrauen und zu viele Waffen. Ohne uns würde der Konflikt
wieder aufflammen." Die Politik sei nicht reif für die
Versöhnung, betont Leakey, an vielen Schulen würden
muslimische, kroatische und serbische Kinder weiter getrennt
unterrichtet - oder in Schichten: morgens die Muslime, nachmittags
die Serben: "Die Vergangenheit drängt die Gegenwart in die
Ecke." Bestes Beispiel sei die Jagd auf Kriegsverbrecher. Auch wenn
an den bosnischen Straßen Plakate mit dem Bild zweier
gefesselter Hände um Hinweise bei der Jagd nach
Kriegsverbrechern bitten, glaubt der General nicht an den dicken
Fang. "In der Republika Srpska gelten Radovan Karadzic und Ratko
Mladic immer noch als Helden."
Karadzic und Mladic - für Adis Jugo, 30,
sind beide Dinosaurier. "Sie gehören natürlich vor das
Gericht in Den Haag, aber unsere wirklichen Probleme sind heute
Bürokratie und Korruption." Informatiker Jugo hat vor
fünf Jahren den Aufbruch gewagt und die Firma daenet
gegründet, mit fünf Mitarbeitern entwickelt er
Softwareprogramme für das bosnische Fernsehen oder die
Stadtwerke in Mostar. Die Firma sitzt in zwei mit Rechnern
vollgestopften Zimmern im achten Stock des Holiday Inn.
Während des Krieges wohnten dort Journalisten, die vom Dach
des Hotels die Kamera einfach nur auf das umkämpfte Sarajevo
halten mussten. Weil das Hotel heute viel zu wenig Gäste hat,
vermietet es drei Etagen an junge Unternehmer. Neben Jugos
Büro organisiert Kemal, 29, den Vertrieb von Kyocera-Druckern
in Bosnien, und Samir, 32, hat eine Rafting-Agentur gegründet.
Er bietet Touren auf Flüssen im ganzen Land an, auch in der
Republik Srpska. Die Wirtschaft könnte der Schrittmacher
für ein gemeinsames Bosnien sein, glaubt Jugo. "Die jungen
Muslime oder Serben haben die Nase voll vom Hass. Leider ist unsere
Politik eine Katastrophe." Wenn der junge Unternehmer heute aus den
Fenstern des Holiday Inn blickt, schaut er zwar immer noch auf das
Betonskelett des ehemaligen Parlaments, aber auch auf die
Werbe-Agentur Dallas und das Reisebüro Travel-Service.
Englisch ist die Sprache der Hoffnung: "Cause I got too much life,
running through my veins, going to waste."
Die Jugend in Sarajevo ist kosmopolitisch
eingestellt, sagt Jasna Letic, 28, die als Übersetzerin in der
Stadt arbeitet. Das gelte auch für ihren Glauben. "Der Islam
in Bosnien ist traditionell aufgeklärt und tolerant. Das hat
auch der Krieg nicht geändert." Auf die liberale Geschichte
ihrer Stadt, in der Muslime, Katholiken, Orthodoxe und Juden
zusammengelebt haben, sind die Menschen stolz. Dieses Gefühl
ist auch nicht durch den Bosnienkrieg verschüttet worden. Die
Jugendlichen suchen nach Jobs - und nicht nach den Worten des
Propheten. Sie finden die Ängste des Westens lächerlich,
islamische Fanatiker könnten das Land zu ihrem
europäischen Brückenkopf ausbauen. Über die
westliche Hysterie macht sich die Jugend Sarajevos gerne lustig.
Ein schwarzes T-Shirt ist in den Clubs der Stadt besonders
angesagt: Auf ihm steht:
"I am a muslim - don't panic!" Bisher habe es
noch keinen einzigen Beweis gegeben, dass in Bosnien Gruppen aktiv
sind, die zum Netzwerk Al Qaidas gehörten, gibt auch
EUFOR-General David Leakey zu: "Die Probleme des Landes sind immer
noch eher der Nationalismus der Politiker und die schwierige
wirtschaftliche Lage." Die jungen Menschen versuchten inzwischen
den Aufbruch, die Religion sei dabei für sie allerdings
überhaupt keine Alternative.
Die Träume der Menschen seien groß,
aber ihre Geduld am Ende, meint Lord Paddy Ashdown, der oberste
Repräsentant der Internationalen Verwaltung für
Bosnien-Herzegowina. "Der Vertrag von Dayton hat den Krieg beendet,
aber er hat seine Schwächen: Alles in Bosnien gibt es in
dreifacher Ausführung." Ashdown, 64, lädt zum Interview
in seinen Amtssitz in Sarajevo und erklärt, dass die Leute auf
den Straßen keinen Respekt vor der Politik haben könnten,
wenn 70 Prozent des staatlichen Budgets in Regierung und Verwaltung
gehen, und nur 30 Prozent in die Sozialsysteme. "Muslime, Serben
und Kroaten müssen sich um eine Reform der Verfassung von
Dayton bemühen. Ein Kompromiss ist kein Schimpfwort." Doch
eine Reform wird schwierig, das weiß auch Ashdown. Das knapp
vier Millionen Einwohner große Bosnien-Herzegovina besitzt
zwar nur knapp 20 Kilometer Autobahn, aber dafür 18
Regierungen und über 1.000 Minister. Hass und Misstrauen sind
immer noch groß, keine Volksgruppe will freiwillig Macht
abgeben. Im letzten Wahlkampf spielten die Politiker mit der
Unsicherheit der Leute: "Wählt eure Leute - die anderen tun es
bestimmt", lauteten die Parolen der Nationalisten auf allen drei
Seiten. In dem vergifteten Klima hatten Reformer keine Chance.
Für die Politiker aber ist die Vergangenheit nicht nur ein
Hindernis. Alle Parteien verdienen an der gegenseitigen Blockade.
Nach vertraulichen Einschätzungen der europäischen
Polizei in Bosnien (EUPM) hat die organisierte Kriminalität
die Politik unterwandert. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht ein
hochrangiger Politiker wegen Bestechlichkeit angeklagt wird. Ohne
den Druck der europäischen Polizei würden viele
Fälle nicht verfolgt. In seltener Einigkeit verhindern die
Volksgruppen bisher eine Reform der Sicherheitskräfte. Die
zersplitterten Polizeieinheiten sind schlecht ausgerüstet und
wissen nicht, was in der benachbarten Stadt passiert, wenn die im
fremden muslimischen oder serbischen Teil des Landes liegt. Dadurch
bietet Bosnien ideale Bedingungen für Verbrechen aller Art und
ist heute nach Einschätzungen von EUPM ein Zentrum für
den Drogenschmuggel und Menschenhandel in ganz Europa.
"Ohne Druck aus Brüssel gibt es keine
Reform von Dayton", sagt Senka Kurtovic, 40, Chefredakteurin der
Tageszeitung Oslobodjenje. Dayton aber sei für den Westen ein
Fetisch, weil der Vertrag den Krieg beendet habe. "Keiner in Europa
möchte doch wissen, dass Dayton Bosnien langsam an den Abgrund
führt." Kurtovic sitzt in der Redaktion, einem Betonklotz aus
der Tito-Zeit im Zentrum von Sarajevo, sie schaut auf die Ruine
eines Freizeitzentrums, die immer noch mit Sprengfallen verseucht
ist. "Bosnien sieht aus wie Frankenstein, es ist mit Gewalt
zusammengenäht." Europa müsse endlich die
Selbstverwaltung des Landes stärken, Muslime und Serben
zwingen zusammenzuarbeiten. "Die Republik Srpska darf sich nicht
als eigener Staat aufspielen." Da die Serben die Auslieferung von
Kriegsverbrechern blockieren, gibt es immer noch kein
tragfähiges Assoziierungsabkommen mit der Europäischen
Gemeinschaft. Die Wirtschaft liegt am Boden. Keine Reformen
bedeuteten keine Sicherheit bedeuteten keine Investitionen aus dem
Ausland, fasst Kurzovic die Lage zusammen. "Aus Armut ensteht aber
nur neuer Hass." In manchen Gegenden Bosniens liegt die
Arbeitslosigkeit bei 45 Prozent, fast 66 Prozent der Jugendlichen
unter 22 Jahren wollen ins Ausland. "Ein guter Freund ist Chirurg",
erzählt die Journalistin, "er packt in Michigan am Band Pillen
in Schachteln."
"Come and hold my hand, I want to contact the
living, not sure I understand, this role I've been given." Auch die
Band "unplugged plug" im Club Sloga wird nicht mehr oft zusammen
spielen. Schlagzeuger Zag geht zum Studium nach Kroatien, Gitarrist
Adim hat von einem Freund einen Job in Europa angeboten bekommen.
Wo? Ist doch egal, Hauptsache er liegt im Westen.
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