Kein Patentrezept
Interview zu Bosnien-Herzegowina
Marie-Janine Calic ist Professorin für Ost-
und Südosteuropäische Geschichte an der
Ludwig-Maximilians Universität München.
Das Parlament: Bosnien steht auch im
zehnten Jahr nach dem Friedensabkommen von Dayton unter
internationaler Aufsicht. Wird sich das in den nächsten zehn
Jahren ändern?
Marie-Janine Calic: Ja, die
Staatengemeinschaft ist fest entschlossen, das zu ändern -
durch mehr Eigenverantwortung, Reformen und auch durch eine
Annäherung an die EU. Inwieweit das aber überhaupt
realistisch ist, steht auf einem anderen Blatt. Ich fürchte,
dass es für lange Zeit nicht möglich sein wird, die
internationale Präsenz vollständig abzubauen.
Das Parlament: Warum sind die Menschen
dort noch immer auf Hilfe von außen angewiesen?
Marie-Janine Calic: Der Staat
zerfällt nicht nur in zwei Entitäten, sondern auch in
ethnische Strukturen, die nicht wirklich miteinander
zusammenarbeiten wollen. Hinzu kommen tiefgreifende wirtschaftliche
Probleme. Aber weder für die Frage, wie ein funktionierendes
Staatswesen geschaffen noch wie eine tragfähige Wirtschaft in
Gang kommen kann, gibt es wirklich Patentrezepte.
Das Parlament: Wo sehen Sie die
größten Hürden für einen souveränen
Staat?
Marie-Janine Calic: Ich fürchte,
bei den politischen Kräften, die an der Macht sind, ist der
Staat nicht wirklich angenommen worden. Wichtig wäre der
politische Wille, das Staatswesen funktionieren zu lassen.
Außerdem müsste man die sehr komplizierte
Verfassungsstruktur vereinfachen und mehr Verantwortung in die
Hände der Politiker vor Ort legen, damit nicht mehr der Hohe
Repräsentant für alles verantwortlich ist.
Das Parlament: Aber die Menschen
wünschen sich doch sicherlich mehr
Eigenverantwortung.
Marie-Janine Calic: Das ist ein
zweischneidiges Schwert: auf der einen Seite wird danach gerufen,
mehr Verantwortung zu bekommen. Auf der anderen Seite gibt es wenig
Bereitschaft, unliebsame Entscheidungen zu treffen. Viele sind
offenbar froh, dass es jemanden gibt, der die oft schmerzhaften
Reformen in Gang setzt und auf den man dann mit dem Finger zeigen
kann. Zudem liegt es aber auch in der Natur internationaler
Missionen, dass es einen bürokratischen Reflex gibt, der es
schwierig macht, bestehende Strukturen wieder abzubauen. Leider
fehlt innerhalb Bosniens an vielen Stellen der Wille zur
Zusammenarbeit - gerade auch bei der Harmonisierung von
Gesetzen.
Das Parlament: Neben den staatlichen
Strukturen ist auch die Wirtschaft ein Sorgenkind?
Marie-Janine Calic: Das Land ist von
einer tragfähigen Wirtschaft noch immer weit entfernt. Man
muss bedenken, dass Bosnien auch zu jugoslawischer Zeit ein wenig
entwickeltes Land gewesen ist. Auch die vielen
Kriegszerstörungen und die große Zahl von Vertriebenen
sind noch immer ein großes Problem.
Das Parlament: Für
wirtschaftliche Entwicklung ist Sicherheit ein wichtiges Kriterium.
Seit Ende 2004 stehen die Sicherheitskräfte unter
europäischem Kommando. Ist das ein gutes Zeichen?
Marie-Janine Calic: Es spiegelt wider,
dass sich die Sicherheitslage sehr gebessert hat. Nicht mehr der
Ausbruch bewaffneter Konflikte, sondern vielmehr die organisierte
Kriminalität und die vielen kleinen und leichten Waffen sind
ein Risiko. In dem Land "schwirren" noch immer zehntausende Waffen
umher, die nicht unter Kontrolle sind. Obwohl der Hohe
Repräsentant den Kampf gegen die organisierte
Kriminalität zu seiner Priorität erklärt hat, ist es
schwer, dagegen effektiv vorzugehen, weil man es oft mit
überregionalen Netzwerken zu tun hat. Dagegen kann man nur mit
staatlich funktionierenden Strukturen vorgehen und die hat man eben
nicht.
Das Parlament: Wie weit ist für
Bosnien der Weg in die Europäische Union?
Marie-Janine Calic:
Bosnien-Herzegowina wird ja von der Europäischen Union als
potentielles Mitglied behandelt. Das Hauptproblem ist nicht, dass
Bosnien nicht europafähig ist, sondern es liegt an der
Dysfunktionalität dieses Staates. Es ist eben nur schwer
vorstellbar, wie ein international verwaltetes Land in die EU
geführt werden sollte. Man muss immer bedenken, dass die
staatlichen Institutionen neu aufgebaut werden mussten - ebenso wie
das Rechtssystem und eine funktionierende Wirtschaft - und das sind
Aufgaben, die sich nicht in wenigen Jahren lösen
lassen.
Das Interview führte Annette Sach
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