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Joschka Fischer
Eine große Chance für unser Land
40 erfolgreiche Jahre deutsch-israelische
Beziehungen
"Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein
Realist." Dieser Satz David Ben-Gurions trifft in ganz besonderer
Weise auf die Entwicklung der deutsch-israelischen Beziehungen zu,
deren 40-jähriges Bestehen wir in diesem Jahr begehen. Denn
wer hätte nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah, nach dem
unendlichen Leid, das Deutsche über die Juden Deutschlands und
Europas gebracht haben, zu hoffen gewagt, dass bilaterale
Beziehungen, ja auch nur irgendeine Art von Verhältnis
zwischen Deutschland und Israel möglich sein würde?
Sechs Millionen Juden - Männer, Frauen
und Kinder unterschiedslos - und mit ihnen eine wunderbare Kultur,
eine der Säulen europäischer Zivilisation, waren dem
mörderischen Antisemitismus von Nazi-Deutschland - und damit
von Deutschen - zum Opfer gefallen. Das Neue Museum in Yad Vashem,
an dessen Eröffnung ich kürzlich in Jerusalem teilnehmen
durfte, macht den brutalen Zivilisationsbruch der Shoa in
erschreckender Weise greifbar. Mit seinem konsequenten Blick auf
den einzelnen Menschen entreißt Yad Vashem die Namen und die
Lebenswege der zahllosen jüdischen Opfer des Nazi-Terrors dem
Vergessen.
Es waren die Angehörigen dieser
Ermordeten - oft nur einzelne großer Familien, Waisen, deren
Eltern und Geschwister verschleppt und getötet, die
Mütter, deren Kinder vor ihren Augen umgebracht, die
Großväter, deren Familien komplett ausgelöscht
worden waren - die in Israel endlich Sicherheit vor Verfolgung
fanden. Es waren Europäer. Frohen Herzens zogen sie nicht.
Aber sie mussten ziehen. Ihre Liebe zu Europa und seiner Kultur
wurde nicht erwidert. Im Gegenteil: Sie wurde mit Hass und
unvorstellbarer Grausamkeit und Barbarei vergolten. Zutiefst
enttäuscht wandten sie sich ab von der alten Heimat und
gründeten den Staat, der ihre Vision umsetzen sollte, die
Vision, als jüdische Menschen nie mehr Opfer zu sein und ein
Leben in Freiheit, in Selbstbestimmung und in Sicherheit zu
führen.
Vor diesem Hintergrund, aus dem Schatten der
Shoa heraus, gelang es zwei großen Staatsmännern, Konrad
Adenauer und David Ben-Gurion, den Grundstein für eine
Annäherung zwischen Deutschland und Israel zu legen. Den
Beginn der Kontakte markierten dabei die Verhandlungen über
Entschädigungsleistungen, die im September 1952
schließlich im Abschluss des Luxemburger Abkommens
mündeten. Dieser Anfang war alles andere als leicht. Als
Ben-Gurion 1951 beschloss, auf das Gesprächsangebot Konrad
Adenauers einzugehen, traf er in Israel auf sehr große
Widerstände. Aber David Ben-Gurion blieb unbeirrbar. In der
Knesset fand er eine Mehrheit für seine mutige Entscheidung.
Dafür gebührt ihm großer Respekt, Dank und
Anerkennung. Dieser Schritt ermöglichte erste finanzielle
Hilfen für die Überlebenden und
einen Beitrag zum Aufbau des jungen Staates
Israel. Dabei war beiden Seiten klar: Die finanziellen Leistungen
konnten nur eine Geste sein; das furchtbare Unrecht konnten sie
nicht ungeschehen, das unermessliche Leid nicht wieder gut machen
und die Toten nicht wieder zum Leben erwecken.
Diese ersten Kontakte waren aber vor allem
eine große Chance für unser Land, für Deutschland:
Sie halfen uns, die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit zu
beginnen. Das demokratische Deutschland konnte so unter Beweis
stellen, dass es bereit war, sich seiner Verantwortung für die
deutsche Schuld und für die Überlebenden der Shoah zu
stellen. Unsere historisch-moralische Verantwortung gilt bis heute
fort. Wir dürfen und werden uns ihr niemals entziehen. Wer das
versucht, wird scheitern.
Der Beginn der Kontakte zum Staat Israel
festigte zugleich eine entscheidende Weichenstellung in der
Außenpolitik der jungen Bundesrepublik, die bis heute Bestand
hat und auch für die Zukunft gelten wird: Deutschland
unterstützt vorbehaltlos das Existenzrecht Israels. Wir
bekennen uns zu dem Recht der Bürgerinnen und Bürger
Israels, in sicheren Grenzen und in Frieden mit ihren Nachbarn und
frei von Angst vor Terror und Gewalt zu leben. Dieses Bekenntnis zu
Israel gilt uneingeschränkt und bedingungslos, es ist mit
niemandem verhandelbar und bildet die Grundlage für das
besondere Verhältnis unserer beiden Länder. Es ist ein
Grundpfeiler deutscher Außenpolitik und das wird so
bleiben.
Dieses Israel, mit dem wir nun seit 40 Jahren
diplomatische Beziehungen unterhalten, ist ein ungewöhnliches,
faszinierendes, wunderbares Land. Ein dicht bevölkerter Staat,
in dem Menschen mit vielen verschiedenen kulturellen
Hintergründen auf kleiner Fläche zusammen leben, ein Land
voller Energie, voller Kreativität, voller beeindruckender
Errungenschaften in Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft, mit einer
enormen Integrationsleistung, von der wir viel lernen können -
gleichzeitig auch ein Land voller Komplexität, voller
Widersprüchlichkeit.
Insofern haben sich unsere Beziehungen nie
auf politische Kontakte beschränkt. Gerade die
deutsch-israelische Kooperation in Wissenschaft und Technologie ist
eine Erfolgsgeschichte. Sie hat eine Intensität entwickelt,
die wir mit kaum einem anderen Land erreicht haben. Immer wieder
gelingt es Bund, Ländern und Gemeinden, aber auch deutschen
Stiftungen und eigens geschaffenen bilateralen Institutionen und
Programmen, gemeinsam die Voraussetzungen zu schaffen, die
innovative Forschung ermöglichen. Was die Wirtschaft angeht,
so ist Deutschland nach den USA der wichtigste Handelspartner
Israels. Und auch unsere bilateralen Kulturbeziehungen haben heute
eine ganz außerordentliche Breite und Intensität
erreicht. Das zeigt auch die Vielzahl von Veranstaltungen -
Ausstellungen, Theateraufführungen, Konzerte, Lesungen,
Tanzvorstellungen - die in diesem Jubiläumsjahr in beiden
Ländern stattfinden.
Um den kulturellen Beziehungen zwischen
unseren Ländern einen formalen Rahmen zu geben, arbeiten wir
zur Zeit an einem Kulturabkommen, das, so hoffen wir, noch im
Jubiläumsjahr unterzeichnet werden kann. Deutsche und
israelische Künstler und Kulturschaffende sind inzwischen in
beachtlichem Maße vernetzt.
Wir freuen uns dabei besonders über die
Anziehungskraft, die Berlin auf junge Künstlerinnen und
Künstler ausübt. In diesem Zusammenhang ist es besonders
ermutigend, dass wir in den letzten Wochen und Monaten ein noch
einmal gestiegenes Interesse an kulturellem Austausch feststellen.
Ob Gastspielreisen deutscher Theater, Jugendaustausch oder
Tourismus - in die Kulturbeziehungen scheint weitere Dynamik
gekommen zu sein.
Dass unsere Beziehungen eine so hohe Dichte
und Qualität erreicht haben, dürfen wir niemals als
selbstverständlich zugrundelegen. Das Deutschlandbild in
Israel, aber auch die Wahrnehmung Israels bei uns bleibt vor dem
Hintergrund der Geschichte hochkomplex, eine fortwährende
Herausforderung und ist alles andere als einfach. Wie könnte
es auch anders sein? Es muss uns gelingen, junge Israelis und
Deutsche für den besonderen Charakter unserer bilateralen
Beziehungen zu sensibilisieren. Es muss uns gelingen, auch bei der
Generation, die kaum noch persönlichen Kontakt zur Generation
der Täter und Opfer des Nationalsozialismus hat,
Verständnis zu wecken für die fortdauernde Bedeutung der
Shoah für die Beziehungen unserer beiden Länder und
für die Lehren, die wir daraus ziehen müssen. Nur dann
können die positiven Teile unserer Beziehungen weiter wachsen.
Von Beginn an war der Jugendaustausch deshalb von besonderer
Bedeutung in unseren Beziehungen. Er muss weiter ausgebaut und
gepflegt werden, denn die Verständigung zwischen den jungen
Bürgerinnen und Bürgern unserer Staaten ist entscheidend
für die Zukunft unserer gemeinsamen Beziehungen.
Lassen Sie mich aber auch unterstreichen: Es
kommt darauf an, mit großer Wachsamkeit zu verfolgen, wie sich
unsere jüdischen Bürgerinnen und Bürgern und ihre
Gemeinden in Deutschland tatsächlich fühlen. Ihre Sorge
vor einer erneuten Zunahme antisemitischer und fremdenfeindlicher
Einstellungen, Äußerungen und Gewalttaten, vor
ungerechtfertigter oder einseitiger Kritik an Israel dürfen
uns nicht unberührt lassen. Antisemitische Übergriffe
bedrohen und verletzen nicht nur jüdische Menschen und die
jüdischen Gemeinden in Deutschland, sondern sind auch eine
Gefahr für unsere Demokratie, für unsere offene
Gesellschaft als ganze. Es ist deshalb unsere Verpflichtung, allen
Formen von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
entschlossen entgegenzutreten, sie unzweideutig zu ächten und
mit der ganzen Härte des Gesetzes zu verfolgen. Diese
Verantwortung nehmen wir sehr ernst; ihr dürfen wir uns
niemals entziehen.
Aus unserer historisch-moralischen
Verantwortung für Israel heraus gilt unsere besondere
Aufmerksamkeit auch dem Friedensprozess zwischen Israel und seinen
Nachbarn. Nach mehr als vier Jahren eines Terrorkriegs gegen Israel
und einer Abwärtsspirale von Gewalt und Hass erleben wir
derzeit im israelisch-palästinensischen Konflikt auf beiden
Seiten Schritte zu einem positiven Neuanfang. Das Ziel bleibt,
diesen jahrzehntealten Konflikt durch die Verwirklichung der Vision
zweier Staaten zu lösen - Israel und Palästina, die Seite
an Seite friedlich und in sicheren und anerkannten Grenzen
existieren. Was wir, Deutschland und Europa, im Rahmen unserer
Möglichkeiten tun können, um dabei zu helfen, einen
dauerhaften Frieden zu erreichen, das wollen wir auch weiterhin
tun.
In diesem Jahr begehen wir den 40. Jahrestag
der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen unseren beiden
Ländern. Gemeinsam mit unseren israelischen Freunden feiern
wir das Jubiläum durch zahlreiche Veranstaltungen in den
verschiedenen Feldern der deutsch-israelischen Zusammenarbeit. Die
ersten Kontakte zwischen Deutschland und Israel, die die beiden
großen Staatsmänner Ben-Gurion und Adenauer in den
50er-Jahren eingeleitet haben, sind in den vergangenen Jahrzehnten
zu einer engen und vertrauensvollen Partnerschaft zwischen
Deutschland und Israel gewachsen. Unsere staatlichen Beziehungen
sind inzwischen sehr gut. Es erfüllt uns mit Dankbarkeit, dass
Israel uns heute als verlässlichen Partner betrachtet. Wir
möchten das Jubiläumsjahr nutzen, um die Vergangenheit zu
erinnern, aber auch, um - gründend auf der fortgeltenden
Verantwortung für diese Vergangenheit - den Blick auf
Gegenwart und Zukunft zu richten. Der damalige israelische
Staatspräsident Salman Shazar hat die Aufnahme diplomatischer
Beziehungen zwischen Deutschland und Israel einmal so beschrieben:
Nach der "dunkelsten aller dunklen Nächte" dämmerte der
Morgen. Es bleibt unsere Aufgabe, den angebrochenen neuen Tag
gemeinsam zu gestalten, für uns und vor allem für die
zukünftigen Generationen.
Joschka Fischer ist Außenminister der
Bundesrepublik Deutschland.
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