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Susanne Knaul
"Heute ist man unser überdrüssig"
Der Kibbuz auf dem Weg zur normalen
Dorfgemeinschaft
Wer im Kibbuz Kfar Menachem mittags den
gemeinschaftlichen Speisesaal aufsucht, sieht sofort, woran es
hapert. Anstelle von Fahrrädern und Kinderwagen stehen hier
die mit drei Rädern und einem bequemen Sessel ausgestatteten
Mofas. Sie sind ordentlich in einer Reihe geparkt, jedes hat ein
handgemaltes Namensschild an der Überdachung, die die Fahrer
im Winter gegen Regen, im Sommer gegen die Sonne schützen. Es
sind die Fahrzeuge der alten Leute im Kibbuz. In Kfar Menachem
liegt das Durchschnittsalter bei 61 Jahren.
Morgens und mittags kommen die Mitglieder zum
Essen zusammen, abends bleiben die Familien zu Hause, seit der
Speisesaal "privatisiert" wurde. Früher stand jedem alles zur
Verfügung. Heute werden die Mahlzeiten vom monatlichen Budget,
dem Taschengeld für die Mitglieder abgerechnet, das
entsprechend aufgestockt wurde. Rot-weiß karierte
Tischtücher schmücken die spartanischen Esstische, die in
jedem Kibbuz gleich aussehen: die Platte aus Press-Span und
Eisenbeine. Passende Stühle dazu.
Neben der Eingangshalle gibt es mehrere
Waschbecken für die Leute, die direkt vom Feld oder aus dem
Kuhstall zum Essen kommen. Vis-à-vis der Schrank mit
vielleicht 150 kleinen Briefkästen. Am schwarzen Brett
hängt der Aufruf des Speisesaalteams: "Wir bitten alle
Mitglieder, Besteck und Teller zurück-zubringen." Ein
hemdsärmeliger älterer Herr schlurft an dem Plakat der
Friedensbewegung vorbei: "Israel zieht aus Gaza ab", Demo
nächsten Samstag.
Die Gründer der Kibbuzim waren Zionisten
und Sozialisten, die aus Überzeugung nach Palästina
gekommen waren. Ab Mitte der 30er-Jahre schlossen sich ihnen die
Flüchtlinge aus Europa, vor allem aus osteuropäischen
Ländern an und begannen die Arbeit nicht zuletzt mit Blick auf
die verlorene Heimat mit ähnlichem Idealismus. Es galt, den
Staat aufzubauen und zu verteidigen. Noch vor 15 oder 20 Jahren
wurden aus den Landwirtschaftskooperativen die Elitesoldaten
rekrutiert. Viele derer, die heute die Politik Israels gestalten,
wuchsen in den Kinderhäusern auf, wo das "Wir" stets schwerer
wog als das "Ich". Eine individuelle Karriere, Eigenheim und Pkw
waren den Städtern vorbehalten. Die Kibbuzniks verfolgten
höhere Werte. Doch die Crème de la Crème der
israelischen Gesellschaft gerät zunehmend ins
Abseits.
"Die Popularität von einst hat eine
völlige Kehrtwende gemacht", meint Kibbuzsekretär Amnon
Selinger. "Heute ist man unser überdrüssig." Das
gemeinsame Ziel, die "Mission" sei erfüllt. Den Jüngeren
ist die Unabhängigkeit und die Frage, ob es sich individuell
auszahlt, wichtiger. Amnon wurde vor 61 Jahren im Kibbuz geboren
und blieb - nicht zuletzt aus ideologischen Gründen. Ohne jede
Bitterkeit nimmt er die neue Realität wahr. "Ich bin froh,
dass ich noch Teil dieses Projekts sein konnte", meint er. Als sich
sein Sohn vor ein paar Jahren um Mitgliedschaft in Kfar Menachem
bewarb, riet ihm Selinger indes, zunächst die
persönlichen Vor- und Nachteile genauer
abzuwägen.
Für Lilo Savir hat sich diese Frage nie
gestellt. "Ich bin hergekommen, weil ich mich fremd fühlte",
sagt sie. Im April 1939 reiste die damals 18-jährige
Berlinerin nach Palästina. Ein purer Zufall rettete ihr das
Leben. In einem Kinderdorf wurden Erzieherinnen gesucht. Lilo hatte
gerade eine Ausbildung absolviert. Ihre gesamte Familie blieb
zurück und kam im Holocaust um. Das junge Mädchen war
plötzlich allein und noch dazu in einem fremden Land. "Ich
glaube, dass es den meisten von uns so ging: Wir hofften, dass uns
das Zusammensein retten würde."
Über Umwege erreichte Lilo im
Frühjahr 1943, zusammen mit ihrer so genannten Kerngruppe,
jungen deutschen Immigranten des "Schomer Hazair" den Kibbuz Kfar
Menachem, etwa 35 Kilometer südöstlich von Tel Aviv, wo
sie sich mit zwei anderen Kerngruppen, einer aus Polen und einer
aus Litauen zusammenschlossen. Lilo erzählt auf der Terrasse
des kleinen Altenheims, in dem sie seit ein paar Jahren lebt, und
zeigt auf die im Tal vor ihr liegenden "Kuhställe", auf
Eisenstangen montierte Asbestdächer. "Das kam alles viel
später. Als wir anfingen, gab es nur Steine und Unkraut
hier."
Zusammen mit ihrem Mann, den sie noch aus
Berlin kannte, verbrachte sie die ersten Jahre in einer
spartanischen Baracke, "in die gerade einmal unsere zwei Feldbetten
passten", erinnert sie sich. Alle ihre vier Kinder wuchsen in den
Kinderhäusern auf. Dort blieben sie auch über Nacht.
Täglich drei bis vier Stunden und die Wochenenden, mehr Zeit
stand den Eltern für ihre Kinder nicht zu. Kein Strom, kein
fließendes Wasser, "in der ersten Zeit hatten wir noch nicht
einmal eigene Kleidung".
Erst nach Jahren wurden Hemden, Hosen und
Unterwäsche, die die Mitglieder ab sofort ihr eigen nennen
konnten, mit einer Kennziffer markiert, damit sie in der
Gemeinschaftswäscherei nicht verloren gingen. Wer anderes als
die "Arbeitsuniform" brauchte - blaue oder grüne Leinenhosen
und -hemden - konnte sich in der Kibbuz-Schneiderei für jede
Gelegenheit einkleiden. "Inzwischen haben wir ein Kleidungsbudget
und können auch in der Stadt einkaufen", erklärt Lilo
ohne jede Bewertung eine der Veränderungen, die der Kibbuz
seit seiner Gründung erlebte.
Für die über 80-Jährige, aus
einem gutbürgerlichen deutsch-jüdischen Haus stammende
Frau ist der Sozialismus zum Alltag, zur Norm, geworden. Die
monatliche Rente, die Lilo heute aus Deutschland erhält, "sehr
viel Geld", wie sie selbst sagt, fließt komplett in die
Gemeinschaftskasse.
"Der Kibbuz ist der einzige Versuch, in einer
modernen Zeit ohne jeden Zwang, ohne Unterdrückung, ohne
Blutvergießen und ohne Gehirnwäsche eine
partnerschaftlich-gleichberechtigte Gesellschaft zu gründen",
schrieb einst der israelische Schriftsteller Amos Oz. Dieses
Prinzip trotz der veränderten Realität und der
"erfüllten Mission" soweit wie möglich beizubehalten, ist
das Anliegen der Kibbuzverwaltung, wenn sie über neue Modelle
nachdenkt. Inzwischen wird den Mitgliedern kein einheitliches
Taschengeld mehr ausgezahlt, wie es Jahrzehnte lang üblich
war, sondern ein leicht gestaffeltes Budget, das sich nach dem
realen Einkommen richtet. In diesem Jahr soll das Gehalt der
Mitglieder nahezu komplett privatisiert werden. Dann würde
Lilo ihre Rente für sich behalten dürfen.
Bereits vor zwei Jahren wurden die
Häuser offiziell auf die Namen ihrer Bewohner
überschrieben. "Wir werden auf kurz oder lang so werden wie
alle anderen auch", glaubt Kibbuzsekretär Selinger ohne
Illusion. Trotzdem soll es auch nach der bis 2006 geplanten
kompletten Privatisierung der Einkommen ein "Sicherheitsnetz"
geben, mit dem den sozial schwächer Gestellten ein
Mindesteinkommen garantiert wird. Erziehung,
Gesundheitsversicherung und Renten sind zudem vorläufig von
der Privatisierung ausgenommen.
Für die meisten Kibbuzim geben
finanzielle Überlegungen den Ausschlag für die Reformen.
Das Prinzip der Gemeinschaftskasse hat in den vergangenen Jahren
immer mehr Kooperativen in die Pleite getrieben. Kfar Menachem ist
hingegen finanziell saniert. Eine große
Metallverarbeitungsanlage, ein Steinbruch, Milchproduktion und
Hühnerzucht werfen so gute Profite ab, dass auch der hohe
Anteil von Rentnern den Kibbuz finanziell nicht bedroht.
"Alle unsere Freunde haben den Kibbuz
verlassen", meint Billi Harel, eine junge deutsche Christin, die
vor elf Jahren als freiwillige Helferin nach Kfar Menachem kam und
schon in der ersten Woche ihren heutigen Ehemann traf. Beide
arbeiten in der Stadt und beide zahlen ihr gesamtes Gehalt in die
Gemeinschaftskasse. Die jungen Eheleute sind sehr für eine
schrittweise Privatisierung und würden "gern auf das geplante
Sicherheitsnetz verzichten." Doch das wird nicht passieren, denn
die junge Generation hat "keine Lobby".
Billi und ihren Mann hielt die "bessere
Lebensqualität" im Kibbuz. Vor allem die beiden Kinder seien
hier gut versorgt. Die Kinderhäuser, in denen seit über
zehn Jahren nicht mehr übernachtet wird, gelten auch über
die Kibbuzgrenzen hinaus als besonders gute pädagogische
Einrichtungen. Mehr und mehr Kinder aus der Umgebung kommen
tagsüber in den Kibbuz. "Vier frühere Klassenkameraden
meines Mannes wollen dieses Jahr wieder zurückkommen",
berichtet Billi. "Als Mieter - nicht als
Kibbuzmitglieder."
Susanne Knaul ist Israel-Korrespondentin der
"tageszeitung".
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