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Das Parlament
Nr. 15 / 11.04.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Werner Bergmann

Neuer oder alter Antisemitismus?

Vor allem in Europa scheinen antijüdische Stimmungen gegen Israel zu wachsen
Spätestens seit der Welle antisemitischer Übergriffe in vielen europäischen Ländern im Frühjahr 2002 wird über einen "neuen" Antisemitismus in Europa diskutiert. Es gibt jedoch Kritiker, die darauf verweisen, dass diese Wahrnehmung von der falschen Prämisse ausgeht, in der europäischen Nachkriegsgeschichte sei der Antisemitismus bis vor kurzem weitgehend verschwunden gewesen.

Tatsächlich sind gesicherte Aussagen darüber, ob sich die Zahl antijüdischer Übergriffe dauerhaft erhöht hat, sich antisemitische Vorurteile weiter in der Bevölkerung ausbreitet haben oder in Medien und Öffentlichkeit entsprechende Aussagen häufiger auftreten, nur schwer zu treffen, da zumeist gesicherte Beobachtungen dazu fehlen. Wenn dennoch der Eindruck des Neuen entstanden ist, muss man fragen, worin es gesehen wird. Sind es Veränderungen in der Ideologie und des "Judenbildes" selbst oder in den äußeren Erscheinungsformen, etwa im Hervortreten neuer Trägerschichten, in neuen medialen Vermittlungswegen, die wie das Internet die Vernetzung ideologischer Lager sowie Verschwörungsdenken begünstigen, oder in einer Zunahme antijüdischer Übergriffe?

Es gibt in der Diskussion zumindest drei "Anwärter" für die Neuheit. Manche sehen sie in der europaweiten Welle antijüdischer Gewalt und Feindseligkeit seit dem Ausbruch der Zweiten Intifada im Jahre 2000. Insbesondere in den USA, von jüdischen Organisationen und von Repräsentanten Israels wird von einem neuen Klima des Antisemitismus vor allem in Europa gesprochen, das über die extreme Rechte hinaus auch unter den Intellektuellen, in den Massenmedien und islamischen Kreisen zu finden sei. Der Politikwissenschaftler Andrei Markovits sieht dies in der Ausbildung einer europäischen Identität in Abgrenzung zu Amerika und den Juden begründet. Alte antisemitische Vorurteile werden aus seiner Sicht verstärkt durch die europäische Wahrnehmung davon, wie die USA und Israel ihre Macht einsetzen.

Andere sehen das Neue in der Wahl des Objekts: Israel sei zum "kollektiven Juden" geworden, so dass der Antisemitismus nun in der Maske des Antizionismus auftrete. Weltweit werde Israel von Intellektuellen wie von internationalen Organisationen ausgegrenzt und angegriffen, wie etwa auf der UN-Konferenz gegen Rassismus in Durban 2001. So wie früher die Juden sei nun der Staat Israel der "neue Antichrist der internationalen Gemeinschaft", und so wie man früher ein Land "judenrein" machen wollte, so wollten die neuen Antisemiten die Welt "judenstaatsrein" machen. Obwohl Israel das neue Objekt des Antisemitismus ist, spüren ihn Juden und jüdische Institutionen in aller Welt, da man sie letztlich mit Israel identifiziert.

Eine dritte Füllung des Begriffs "neuer Antisemitismus" hat der französische Philosoph Pierre-André Taguieff vorgeschlagen, der von einer "nouvelle judeophobie planitaire" spricht, die auf der Vorstellung basiere, die Probleme der Welt beruhten allein auf der Existenz Israels, und die Juden seien selbst Rassisten. Damit gewinnt diese Judäophobie neue Legitimationsbasis: War bisher Antisemitismus als eine Form des Rassismus bekämpft worden, grenzen ihn die Antirassisten nun aus und begründen ihre auf Israel bezogenen Feindseligkeit mit den Geboten des Antirassismus: der neue Antisemitismus ist antirassistischer Antisemitismus. Damit deckt sich die Gruppe der Antirassisten, die in Europa insbesondere gegen die Diskriminierung von Einwanderern kämpft, nicht mehr länger mit der der Anti-Antisemiten.

In dem Schlagwort des "neuen, globalen Antisemitismus" werden Veränderungen begrifflich gefasst, die weniger darin bestehen, dass sich eine bisher nicht gekannte Form des Antisemitismus mit gänzlich neuen Trägerschichten entwickelt hätte, als vielmehr in der gleichzeitigen Präsenz, Virulenz und Vermischung vorhandener Ausprägungen, die im eskalierten Nahostkonflikt einen Anlass zur Mobilisierung finden. Charakteristisch ist sicher das Fokussieren auf den Staat Israel, eine höhere Zahl antisemitischer Übergriffe und das Hervortreten bisher kaum wahrgenommener Akteure, etwa von Muslimen in Europa. Einschränkend muß man hinzufügen, dass dies allenfalls für einige westeuropäische Länder gilt, aber nicht für die ehemaligen Ostblockstaaten, wo der Nahostkonflikt kaum Einfluss auf die Einstellung zu Juden hat und wo kaum Muslime leben. Auch in Deutschland spielen Fragen der "Vergangenheitsbewältigung" in der Motivstruktur des Antisemitismus weiterhin eine wichtigere Rolle. Auf der Ebene der Inhalte finden sich keine Neuerungen, hier dominieren die alten Vorstellungen von jüdischer Weltherrschaft, Finanzmacht, alttestamentarischer Rachsucht bis hin zu Ritualmordlegenden.

Es lassen sich heute grob folgende Trägerschichten mit entsprechend differierenden Motiven unterscheiden: Die extreme Rechte vertritt den klassischen, aus der nationalsozialistischen Tradition stammenden Antisemitismus. Zwar wird der Nahostkonflikt als willkommenes Agitationsfeld zur Diffamierung des Zionismus genutzt, doch dient das verschwörungstheoretische Potenzial des Antisemitismus vorrangig zur Erklärung einer Vielzahl anderer "nationaler Probleme": der "Knechtung des deutschen Volkes", der Arbeitslosigkeit (Hartz IV), der Globalisierungsfolgen. Der Ge-neralschlüssel zur Erklärung all dieser Phänomene ist die Annahme, die Juden kontrollierten mittels Finanz- und Medienmacht das Weltgeschehen und übten mit der "Auschwitz-Lüge" moralischen Druck auf die deutschen und europäischen Regierungen aus, um diese zur Unterstützung der israelischen Politik und zu Wiedergutmachungszahlungen zu zwingen. In Deutschland sind die Rechtsextremisten nach wie vor die aktivsten antisemitischen Akteure, und auch die überwiegende Zahl der Straftaten wird aus diesem Spektrum heraus begangen.

Ein "sekundärer Antisemitismus", der sich gegen die Erinnerung an den Holocaust sowie die Verantwortung dafür sträubt und dementsprechend in den Juden "Störenfriede" sieht, die diese Erinnerung - angeblich aus wirtschaftlichen und politischen Motiven - einklagen, ist in der deutschen Bevölkerung als Einstellung durchaus verbreitet, nach Umfragen zwischen 15 und 20 Prozent. Zur Abwehr der unliebsamen Erinnerung wird die israelische Politik (oder andere Perioden der jüdischen Geschichte) wie im Fall Hohmann auf Vorgehensweisen hin beobachtet, die es ermöglichen, die "ermahnenden Opfer" ihrerseits als "Tätervolk" erscheinen zu lassen, um so die negative moralische Bilanz auszugleichen. Daher die Vorliebe für Rückgriffe auf "jüdische Missetaten", etwa die bolschewistische Revolution vom Oktober 1917, oder auf den sogenannten Kindermord von Bethlehem und NS-Vergleiche als Referenzpunkte zur Diffamierung israelischer Politik.

Auch auf der extremen Linken, bei einigen Globalisierungskritikern und antirassistischen Gruppierungen finden sich im Zuge ihrer Kritik an Israel als imperialistische, kolonialistische Macht antisemitische Elemente. Hier liegen die Motive in einer dualistischen Weltsicht, die den (bösen) Kapitalismus gleichsam in den Juden beziehungsweise Israel und den USA personifiziert. In ihrer "Kapitalismuskritik" trifft sich die radikale Linke mit der extremen Rechten. In der "Traditionslinken" spielt die schon von der SED seit den 50er-Jahren in den Mittelpunkt der antizionistischen Pro- paganda gestellte Verbindung von Kapitalismus und Weltjudentum beziehungsweise Zionismus eine Schlüsselrolle. Demnach erscheint Linksextremisten der militante Islam in seinem "Kampf gegen den westlichen Imperialismus und sein Werkzeug im Mittleren Osten, den Zionismus" als Verbündeter gegen den gemeinsamen Feind. Wie die deutsche Linke angesichts des Vietnamkriegs in den späten 60er-Jahren eine Identifizierung des Faschismus mit den USA vornahm, so scheint nun eine spätere Generation aus der Enttäuschung über das Verhalten der paradigmatischen NS-Opfer, der Juden/Israelis, diese Identifizierung zu wiederholen: Israel werden NS-Methoden vorgeworfen, linke Blätter sehen Israel ein "völkisches Programm" verfolgen, das auf die "Endregelung des Palästinenserfrage" zielt. Allerdings ist das extreme linke Lager gespalten: Es gibt eine proisraelische und proamerikanische Linke (die Anti-Deutschen) und es gibt selbstkritische Diskussionen etwa bei Attac über Antisemitismus in den eigenen Reihen.

In einigen europäischen Ländern treten seit geraumer Zeit als Träger antijüdischen Denkens und Handelns Angehörige der arabisch-muslimischen Minderheiten hervor. Dabei muss man zwei Erscheinungsformen unterscheiden: Einmal eine, sich ideologisch sowohl aus islamischen Quellen wie aus der Tradition des europäischen Antisemitismus speisende islamistische Judenfeindschaft, die eine Reaktion auf die Modernisierungskrise der arabischen Welt und Teil eines antiwestlichen, primär gegen den "großen Satan" USA gerichteten Ressentiments ist. Israel ("kleiner Satan") gilt als Brückenkopf des westlichen Imperialismus in der Region. Hier spielt der israelisch-palästinensische Konflikt eine wichtige mobilisierende Rolle, er ist aber nicht die eigentliche Ursache der Ressentiments. Wie es sich vor allem in Frankreich zeigt, ist im Fall der jungen Migranten eine judenfeindliche Reaktion weniger ideologisch motiviert als primär Resultat ihrer prekären Lebenslage: geringe soziale und ökonomische Chancen sowie die Erfahrung rassistischer Ausgrenzung. Diese "Opfererfahrung" wird mit den als Opfern gesehenen Palästinensern und der muslimischen Welt generell assoziiert, woraus dann eine spezifische Abneigung gegen Juden resultiert, denen in den westlichen Ländern wegen des Holocausts ein besonderer Status eingeräumt wird und die sozial gut integriert sind. Judenfeindlichkeit ist hier ein Mittel der Gegenwehr gegen die Mehrheitsgesellschaft und ihr Geschichtsverständnis.

Die Konflikte im Nahen Osten scheinen nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes zum Symbol der Zweiteilung der Welt zu werden, so dass sich an sie zum Teil alte Feinderklärungen, Schuldzuschreibungen und neue Solidarisierungen anschließen lassen. Die USA und Israel, als deren Vorposten, spielen für manche die Rolle der "Schurken", die islamische Welt hat die Rolle der "Dritten Welt" als Opfer von Imperialismus und Globalisierung übernommen. Insofern können hier Antiimperialismus, Antiamerikanismus, Antizionismus, Globalisierungskritik in einer gemeinsamen Haltung ansetzen. Insofern bestünde das Neue darin, dass die Juden/Israelis in einer neuen Welle der globalen Modernisierung wie schon in der Modernisierungsphase am Ende des 19. Jahrhunderts zum permanenten Feindsymbol werden (eng verknüpft mit den USA) und zwar sowohl auf der extremen Rechten, der extremen Linken und in der gesamten islamischen Welt.


Werner Bergmann ist Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.

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