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Werner Bergmann
Neuer oder alter Antisemitismus?
Vor allem in Europa scheinen antijüdische
Stimmungen gegen Israel zu wachsen
Spätestens seit der Welle antisemitischer
Übergriffe in vielen europäischen Ländern im
Frühjahr 2002 wird über einen "neuen" Antisemitismus in
Europa diskutiert. Es gibt jedoch Kritiker, die darauf verweisen,
dass diese Wahrnehmung von der falschen Prämisse ausgeht, in
der europäischen Nachkriegsgeschichte sei der Antisemitismus
bis vor kurzem weitgehend verschwunden gewesen.
Tatsächlich sind gesicherte Aussagen
darüber, ob sich die Zahl antijüdischer Übergriffe
dauerhaft erhöht hat, sich antisemitische Vorurteile weiter in
der Bevölkerung ausbreitet haben oder in Medien und
Öffentlichkeit entsprechende Aussagen häufiger auftreten,
nur schwer zu treffen, da zumeist gesicherte Beobachtungen dazu
fehlen. Wenn dennoch der Eindruck des Neuen entstanden ist, muss
man fragen, worin es gesehen wird. Sind es Veränderungen in
der Ideologie und des "Judenbildes" selbst oder in den
äußeren Erscheinungsformen, etwa im Hervortreten neuer
Trägerschichten, in neuen medialen Vermittlungswegen, die wie
das Internet die Vernetzung ideologischer Lager sowie
Verschwörungsdenken begünstigen, oder in einer Zunahme
antijüdischer Übergriffe?
Es gibt in der Diskussion zumindest drei
"Anwärter" für die Neuheit. Manche sehen sie in der
europaweiten Welle antijüdischer Gewalt und Feindseligkeit
seit dem Ausbruch der Zweiten Intifada im Jahre 2000. Insbesondere
in den USA, von jüdischen Organisationen und von
Repräsentanten Israels wird von einem neuen Klima des
Antisemitismus vor allem in Europa gesprochen, das über die
extreme Rechte hinaus auch unter den Intellektuellen, in den
Massenmedien und islamischen Kreisen zu finden sei. Der
Politikwissenschaftler Andrei Markovits sieht dies in der
Ausbildung einer europäischen Identität in Abgrenzung zu
Amerika und den Juden begründet. Alte antisemitische
Vorurteile werden aus seiner Sicht verstärkt durch die
europäische Wahrnehmung davon, wie die USA und Israel ihre
Macht einsetzen.
Andere sehen das Neue in der Wahl des
Objekts: Israel sei zum "kollektiven Juden" geworden, so dass der
Antisemitismus nun in der Maske des Antizionismus auftrete.
Weltweit werde Israel von Intellektuellen wie von internationalen
Organisationen ausgegrenzt und angegriffen, wie etwa auf der
UN-Konferenz gegen Rassismus in Durban 2001. So wie früher die
Juden sei nun der Staat Israel der "neue Antichrist der
internationalen Gemeinschaft", und so wie man früher ein Land
"judenrein" machen wollte, so wollten die neuen Antisemiten die
Welt "judenstaatsrein" machen. Obwohl Israel das neue Objekt des
Antisemitismus ist, spüren ihn Juden und jüdische
Institutionen in aller Welt, da man sie letztlich mit Israel
identifiziert.
Eine dritte Füllung des Begriffs "neuer
Antisemitismus" hat der französische Philosoph
Pierre-André Taguieff vorgeschlagen, der von einer "nouvelle
judeophobie planitaire" spricht, die auf der Vorstellung basiere,
die Probleme der Welt beruhten allein auf der Existenz Israels, und
die Juden seien selbst Rassisten. Damit gewinnt diese
Judäophobie neue Legitimationsbasis: War bisher Antisemitismus
als eine Form des Rassismus bekämpft worden, grenzen ihn die
Antirassisten nun aus und begründen ihre auf Israel bezogenen
Feindseligkeit mit den Geboten des Antirassismus: der neue
Antisemitismus ist antirassistischer Antisemitismus. Damit deckt
sich die Gruppe der Antirassisten, die in Europa insbesondere gegen
die Diskriminierung von Einwanderern kämpft, nicht mehr
länger mit der der Anti-Antisemiten.
In dem Schlagwort des "neuen, globalen
Antisemitismus" werden Veränderungen begrifflich gefasst, die
weniger darin bestehen, dass sich eine bisher nicht gekannte Form
des Antisemitismus mit gänzlich neuen Trägerschichten
entwickelt hätte, als vielmehr in der gleichzeitigen
Präsenz, Virulenz und Vermischung vorhandener
Ausprägungen, die im eskalierten Nahostkonflikt einen Anlass
zur Mobilisierung finden. Charakteristisch ist sicher das
Fokussieren auf den Staat Israel, eine höhere Zahl
antisemitischer Übergriffe und das Hervortreten bisher kaum
wahrgenommener Akteure, etwa von Muslimen in Europa.
Einschränkend muß man hinzufügen, dass dies
allenfalls für einige westeuropäische Länder gilt,
aber nicht für die ehemaligen Ostblockstaaten, wo der
Nahostkonflikt kaum Einfluss auf die Einstellung zu Juden hat und
wo kaum Muslime leben. Auch in Deutschland spielen Fragen der
"Vergangenheitsbewältigung" in der Motivstruktur des
Antisemitismus weiterhin eine wichtigere Rolle. Auf der Ebene der
Inhalte finden sich keine Neuerungen, hier dominieren die alten
Vorstellungen von jüdischer Weltherrschaft, Finanzmacht,
alttestamentarischer Rachsucht bis hin zu
Ritualmordlegenden.
Es lassen sich heute grob folgende
Trägerschichten mit entsprechend differierenden Motiven
unterscheiden: Die extreme Rechte vertritt den klassischen, aus der
nationalsozialistischen Tradition stammenden Antisemitismus. Zwar
wird der Nahostkonflikt als willkommenes Agitationsfeld zur
Diffamierung des Zionismus genutzt, doch dient das
verschwörungstheoretische Potenzial des Antisemitismus
vorrangig zur Erklärung einer Vielzahl anderer "nationaler
Probleme": der "Knechtung des deutschen Volkes", der
Arbeitslosigkeit (Hartz IV), der Globalisierungsfolgen. Der
Ge-neralschlüssel zur Erklärung all dieser Phänomene
ist die Annahme, die Juden kontrollierten mittels Finanz- und
Medienmacht das Weltgeschehen und übten mit der
"Auschwitz-Lüge" moralischen Druck auf die deutschen und
europäischen Regierungen aus, um diese zur Unterstützung
der israelischen Politik und zu Wiedergutmachungszahlungen zu
zwingen. In Deutschland sind die Rechtsextremisten nach wie vor die
aktivsten antisemitischen Akteure, und auch die überwiegende
Zahl der Straftaten wird aus diesem Spektrum heraus
begangen.
Ein "sekundärer Antisemitismus", der
sich gegen die Erinnerung an den Holocaust sowie die Verantwortung
dafür sträubt und dementsprechend in den Juden
"Störenfriede" sieht, die diese Erinnerung - angeblich aus
wirtschaftlichen und politischen Motiven - einklagen, ist in der
deutschen Bevölkerung als Einstellung durchaus verbreitet,
nach Umfragen zwischen 15 und 20 Prozent. Zur Abwehr der
unliebsamen Erinnerung wird die israelische Politik (oder andere
Perioden der jüdischen Geschichte) wie im Fall Hohmann auf
Vorgehensweisen hin beobachtet, die es ermöglichen, die
"ermahnenden Opfer" ihrerseits als "Tätervolk" erscheinen zu
lassen, um so die negative moralische Bilanz auszugleichen. Daher
die Vorliebe für Rückgriffe auf "jüdische
Missetaten", etwa die bolschewistische Revolution vom Oktober 1917,
oder auf den sogenannten Kindermord von Bethlehem und NS-Vergleiche
als Referenzpunkte zur Diffamierung israelischer
Politik.
Auch auf der extremen Linken, bei einigen
Globalisierungskritikern und antirassistischen Gruppierungen finden
sich im Zuge ihrer Kritik an Israel als imperialistische,
kolonialistische Macht antisemitische Elemente. Hier liegen die
Motive in einer dualistischen Weltsicht, die den (bösen)
Kapitalismus gleichsam in den Juden beziehungsweise Israel und den
USA personifiziert. In ihrer "Kapitalismuskritik" trifft sich die
radikale Linke mit der extremen Rechten. In der "Traditionslinken"
spielt die schon von der SED seit den 50er-Jahren in den
Mittelpunkt der antizionistischen Pro- paganda gestellte Verbindung
von Kapitalismus und Weltjudentum beziehungsweise Zionismus eine
Schlüsselrolle. Demnach erscheint Linksextremisten der
militante Islam in seinem "Kampf gegen den westlichen Imperialismus
und sein Werkzeug im Mittleren Osten, den Zionismus" als
Verbündeter gegen den gemeinsamen Feind. Wie die deutsche
Linke angesichts des Vietnamkriegs in den späten 60er-Jahren
eine Identifizierung des Faschismus mit den USA vornahm, so scheint
nun eine spätere Generation aus der Enttäuschung
über das Verhalten der paradigmatischen NS-Opfer, der
Juden/Israelis, diese Identifizierung zu wiederholen: Israel werden
NS-Methoden vorgeworfen, linke Blätter sehen Israel ein
"völkisches Programm" verfolgen, das auf die "Endregelung des
Palästinenserfrage" zielt. Allerdings ist das extreme linke
Lager gespalten: Es gibt eine proisraelische und proamerikanische
Linke (die Anti-Deutschen) und es gibt selbstkritische Diskussionen
etwa bei Attac über Antisemitismus in den eigenen
Reihen.
In einigen europäischen Ländern
treten seit geraumer Zeit als Träger antijüdischen
Denkens und Handelns Angehörige der arabisch-muslimischen
Minderheiten hervor. Dabei muss man zwei Erscheinungsformen
unterscheiden: Einmal eine, sich ideologisch sowohl aus islamischen
Quellen wie aus der Tradition des europäischen Antisemitismus
speisende islamistische Judenfeindschaft, die eine Reaktion auf die
Modernisierungskrise der arabischen Welt und Teil eines
antiwestlichen, primär gegen den "großen Satan" USA
gerichteten Ressentiments ist. Israel ("kleiner Satan") gilt als
Brückenkopf des westlichen Imperialismus in der Region. Hier
spielt der israelisch-palästinensische Konflikt eine wichtige
mobilisierende Rolle, er ist aber nicht die eigentliche Ursache der
Ressentiments. Wie es sich vor allem in Frankreich zeigt, ist im
Fall der jungen Migranten eine judenfeindliche Reaktion weniger
ideologisch motiviert als primär Resultat ihrer prekären
Lebenslage: geringe soziale und ökonomische Chancen sowie die
Erfahrung rassistischer Ausgrenzung. Diese "Opfererfahrung" wird
mit den als Opfern gesehenen Palästinensern und der
muslimischen Welt generell assoziiert, woraus dann eine spezifische
Abneigung gegen Juden resultiert, denen in den westlichen
Ländern wegen des Holocausts ein besonderer Status
eingeräumt wird und die sozial gut integriert sind.
Judenfeindlichkeit ist hier ein Mittel der Gegenwehr gegen die
Mehrheitsgesellschaft und ihr
Geschichtsverständnis.
Die Konflikte im Nahen Osten scheinen nach
dem Ende des Ost-West-Gegensatzes zum Symbol der Zweiteilung der
Welt zu werden, so dass sich an sie zum Teil alte
Feinderklärungen, Schuldzuschreibungen und neue
Solidarisierungen anschließen lassen. Die USA und Israel, als
deren Vorposten, spielen für manche die Rolle der "Schurken",
die islamische Welt hat die Rolle der "Dritten Welt" als Opfer von
Imperialismus und Globalisierung übernommen. Insofern
können hier Antiimperialismus, Antiamerikanismus,
Antizionismus, Globalisierungskritik in einer gemeinsamen Haltung
ansetzen. Insofern bestünde das Neue darin, dass die
Juden/Israelis in einer neuen Welle der globalen Modernisierung wie
schon in der Modernisierungsphase am Ende des 19. Jahrhunderts zum
permanenten Feindsymbol werden (eng verknüpft mit den USA) und
zwar sowohl auf der extremen Rechten, der extremen Linken und in
der gesamten islamischen Welt.
Werner Bergmann ist Professor am Zentrum
für Antisemitismusforschung der TU Berlin.
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