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Rafael Seligmann
Auf dem Weg in das Herz der deutschen
Gesellschaft
Deutsche Juden, die nicht nach Israel gingen,
wurden von ihren Glaubensbrüdern verachtet
Nicht die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Israel vor 40 Jahren, sondern die
Gründung des jüdischen Staates im Mai 1948 war das
revolutionäre Ereignis für die Juden in aller Welt. Sieht
man von denen in Israel ab, so waren die Juden in Deutschland am
meisten von der Etablierung des Judenstaates bewegt. Der Grund
liegt auf der Hand: Die hiesigen Juden lebten auf dem Boden des
ehemaligen Nazi-Reiches. Sie waren zur Vernichtung vorgesehen
gewesen. Nur durch Zufall davongekommen.
Nach dem Ende des Nazi-Regimes dachten nur sehr wenige Juden in
Deutschland daran, im Lande ihrer ehemaligen Häscher dauerhaft
zu verbleiben. Das Gros plante, "Naziland" so schnell wie
möglich den Rücken zu kehren. Allein die Weigerung fast
aller Staaten, Juden, selbst Überlebenden der Todeslager, die
Einwanderung zu gestatten, hinderte die in Deutschland lebenden
Juden am Verlassen des Landes. Am schmerzlichsten war ihnen, dass
sie nicht nach Zion emigrieren durften, der altneuen Heimat des
jüdischen Volkes. Denn die Briten, die das Mandat in
Palästina ausübten, ließen aus Furcht vor arabischen
Repressionen keine Juden nach Zion einwandern.
Doch nun, am 14. Mai 1948, fast genau drei Jahre nach dem
Untergang des Hitler-Reiches, war der lang-ersehnte Judenstaat
Wirklichkeit geworden. Erstmals seit zwei Jahrtausenden konnten die
Israeliten in ihren eigenen Staat einwandern und dort dank des
israelischen Rückkehrgesetzes, das jedem Juden der Welt die
Staatsbürgerschaft anbot, gleichberechtigte Bürger Zions
sein.
Dies ließ die Juden in aller Welt jubeln und handeln. Die
nachhaltigsten Konsequenzen wurden in Deutschland gezogen. Von den
rund 250.000 ehemaligen Displaced Persons, wie man die
KZ-Überlebenden und andere geflüchtete Juden nannte,
emigrierte binnen Jahresfrist die überwältigende Mehrheit
nach Israel. In Deutschland zurück blieben gerade mal 25.000
Juden. Die meisten von ihnen waren körperlich hinfällig
oder psychisch gebrochen. Ungeachtet dessen wurden die Juden
Deutschlands von ihren Glaubensbrüdern in der ganzen Welt
verachtet und als ehrlos abgestempelt. Denn sie lebten weiter im
Land der Täter. Die internationalen jüdischen
Vereinigungen, insbesondere die Zionistische Weltorganisation, und
die israelische Regierung übten massiven Druck aus, die in
Deutschland verbliebenen Juden zur Auswanderung nach Israel zu
nötigen.
Aus dem einen oder anderen persönlichen Grund,
beispielsweise, weil man in Deutschland nichtjüdische Partner
geheiratet, hier seine Existenz begründet hatte, einem die
Sprache und Kultur Deutschlands vertraut waren, blieb die
jüdische Gemeinschaft dennoch hierzulande. Mehr noch: 1950
wurde ein Dachverband der jüdischen Gemeinden ins Leben
gerufen: Der "Zentralrat der Juden in Deutschland". Die
Namensgebung war ein sicherer Hinweis auf ein Provisorium. Man
hatte aufgehört, Deutscher zu sein. Rabbiner Leo Baeck,
einstiger Mentor des deutschen Judentums, war nach seiner Befreiung
aus dem Konzentrationslager Theresienstadt nach England emigriert.
Dort erklärte er die tausendjährige Geschichte des
deutschen Judentums für beendet.
Die Juden Deutschlands blieben dennoch, wo sie waren. Mit den
Jahren gewöhnten sie sich zunehmend an eine Existenz im Land
der ehemaligen Nazis. Zion blieb weiterhin das verheißene Land
der hiesigen Juden. Wenn sie nicht nach Israel einwanderten, so
wollten sie dort wenigstens begraben werden. Derweil erzogen sie
ihre Kinder mit ungebrochener Liebe für das Land der
Vorväter.
Bis 1965 galt für die deutsch-israelischen Beziehungen die
harte Gleichung: Geld und Waffen gegen ein Mindestmaß an
Reputation. Nun, nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen,
waren Deutschlands Juden voller Genugtuung. Sie fühlten sich
als heimliche Botschafter Zions ebenfalls anerkannt. Die Genugtuung
schlug in unbändigen Stolz um, als zwei Jahre später, im
Juni 1967, Zions Streitmacht die Armeen der arabischen Staaten
innerhalb von sechs Tagen demütigend besiegte. Dies war mehr
als ein gewöhnlicher Sieg des Militärs eines Staates, mit
dem man sympathisierte. Der Triumph des Sechstagekrieges 1967 war
vielmehr der mentale Sieg über eine fortgesetzte
Demütigung durch die Antisemiten in aller Welt, die ihren
mörderischen Höhepunkt in Auschwitz gefunden hatte.
Im Sommer 1967 trugen Deutschlands Juden ihren Kopf besonders
hoch. Verständlich, denn die Deutschen waren voller Sympathie
für die Heere Zions. Die ehemaligen Hitler-Wähler und
ihre Kinder hatte eine traumatische Furcht gepackt. Entsetzt
begannen sie zu begreifen, dass durch ihre Hand fast das gesamte
europäische Judentum ausgerottet worden war. Nun versuchte
man, "wieder gut zu machen". Zumindest materiell. Als der
Ägypter Gamal Abdel Nasser unter dem Jubel der gesamten
arabischen Welt die Zerstörung Israels ankündigte,
erkannten die Deutschen wie in einem Déjà-vu den
vergangenen eigenen Mordversuch. Dies wollte man verhindern. Mit
Sympathiekundgebungen und nicht zuletzt durch die Lieferung von
Gasmasken. Auf Verlangen Jerusalems. Die Israelis wussten, wie sie
die Deutschen an ihrem Mords-Gewissen packen konnten.
Wie lange kann ein Jude jubeln und im Siegesrausch schwelgen?
Bis ihm der vermeintliche oder real existierende Antisemit die
Laune verdirbt, oder ihn die Realität einholt. Bald entdeckten
immer mehr Deutsche ihre Sympathien für die von den Israelis
unterdrückten und unter einem Besatzungsregime lebenden
Palästinenser. Das war das Ende des Pro-Israel-Hypes der
deutschen Öffentlichkeit. Wer sich fortan allzu offen als
Israels Botschafter gebärdete, identifizierte sich damit auch
mit Israels Besatzungspolitik.
Hinzu kam, dass sich der Zeitgeist Israel immer mehr
entgegenstellte. Der Umbruch von 1968 richtete sich nicht nur gegen
den "Muff von 1.000 Jahren unter den Talaren" und die nazistische
Elterngeneration. Im Mittelpunkt des Kampfes stand der
Imperialismus. Nicht nur in Vietnam, sondern auch in
Palästina. Israel war unglücklicherweise auf der Seite
der "Bösen". Der Imperialisten, der Besetzer, der Ausbeuter.
Im fernen Vietnam, aber auch daheim im Frankfurter Westend.
Unter den Hausbesetzern gab es auch Juden. Rainer Werner
Fassbinder und Gerhard Zwerenz nahmen dies zum Anlass, das Drama
"Der Müll, die Stadt und der Tod" zu verfassen. Es sollte ein
Lehrstück sein gegen den Antisemitismus. Frei nach
Shakespeares "Kaufmann von Venedig". Wie der Engländer, so
wollte 450 Jahre später auch Fassbinder erklären, dass
die Juden Menschen wie alle anderen sind. Dass sie bluten, wenn sie
gestochen werden, sie hassen und auf Rache sinnen, wenn man sie
demütigt und misshandelt. Doch Fassbinders künstlerische
Suche nach Verständnis erreichte nicht die von
Antisemitenangst und Nazigräuel traumatisierten Seelen der
Juden Deutschlands und ihrer philosemitischen Freunde. So zankte
man sich um den vermeintlichen Antisemiten Fassbinder und
vergaß, nach den Ursachen der Judenfeindschaft zu fragen.
Deutschlands Juden verharrten derweil im Ghetto ihrer Furcht.
Sie trauten sich nicht, ihrem Hass gegen die Antisemiten Ausdruck
zu geben. "Juden" haben, das wissen wir seit Gotthold Ephraim
Lessing, gefälligst weise, verstehend und verzeihend zu sein.
Gebärdet sich ein Hebräer als Shylock, dann verliert er
seine letzten Freunde. Die Philosemiten und jene, die die Juden
zuvorderst als Opfer begreifen. Doch was ist mit den jüdischen
Gefühlen? Was empfinden die Juden im Kreuzfeuer von
antisemitischem Hass und philosemitischer
Aggressionskastration?
Offenbar interessierte man sich in Deutschland zunächst
wenig für die Gefühle der "jüdischen
Mitbürger". Zu sehr war man von den eigenen
Gewissensnöten geplagt. So wollte 40 Jahre lang niemandem
auffallen, dass es keine jüdische Gegenwartsliteratur in
Deutschland gab. Nicht einmal dem jüdischstämmigen
Literaturpapst Marcel Reich Ranicki. Diesem am allerwenigsten, denn
damit hätte er den status quo, die relative Ruhe, die Toleranz
gegenüber den hiesigen Juden lediglich gestört.
Gegenwartsliteratur ist unabdingbar. Sie liefert ein
unvermitteltes Abbild der menschlichen Empfindung. Doch wer konnte
erwarten, dass die Juden aus dem Kokon ihrer Ängste und ihrer
Aversionen ausbrechen würden und sich selbst entdeckten?
Gegenüber bösartigen Antisemiten und nervösen
Freunden von eigenen Gnaden?
1988 veröffentlichte ich meinen Roman "Rubinsteins
Versteigerung" im Selbstverlag. Kein deutscher Verleger fand den
Mut, das aggressive Selbstzeugnis eines jüdischen Abiturienten
im Deutschland der 60er Jahre - oszillierend zwischen eigener
Ängstlichkeit, sexuellen Ambitionen und Antisemitenhass - zu
veröffentlichen. Die Reaktion in den jüdischen Gemeinden
war verheerend. Vor allem ältere Juden befürchteten, das
harmlose Selbstzeugnis würde den Antisemiten neue Nahrung
geben. Die "Allgemeine Wochenzeitung der Juden" wähnte
"Nestbeschmutzung" am Werk, ein Terminus, den einst die Nazipresse
benutzt hatte...
Wider Erwarten aber fand das Buch gerade bei Nichtjuden und
wenigen jüdischen Intellektuellen ein positives Echo. Man war
froh zu erfahren, was die Juden heute in Deutschland umtreibt. Der
Erfolg machte jüngeren jüdischen Autoren und
nichtjüdischen Verlagen Mut. Die Deutschen sind süchtig
nach jüdischen Themen. Ihr Phantomschmerz bricht durch. Sie
beginnen zu begreifen, dass die Juden mehr sind als Opfer. Sie sind
Teil der deutschen Gesellschaft, Kultur und Geschichte. Wie man mit
ihnen umspringt, wie man sie "behandelt", so geht man mit sich
selbst um.
Mittlerweile getraut man sich sogar, über Juden zu lachen,
wie zuletzt in der Filmschmonzette "Alles auf Zucker". Der
Streifen, Romane, ja selbst menschliche Verfehlungen prominenter
Juden zeugen von der beginnenden deutsch-jüdischen
Normalität. Das macht Mut. Irgendwann werden die Israeliten so
weit sein, nicht länger in der Ecke der "Juden in Deutschland"
zu verharren und sich auf den Weg ins Herz der deutschen
Gesellschaft zu begeben. Hoffentlich ist es offen.
Der Schriftsteller Rafael Seligmann lebt in Berlin.
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