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Micha Brumlik
Das ältere Geschwisterteil des
Judentums
Widersprüchliche Annäherung: Christen
und Juden in der Gegenwart
Die jüngsten Debatten zwischen dem
Zentralrat der Juden und einzelnen katholischen Bischöfen,
zuletzt verstärkt durch missverständliche Passagen in
einem Buch des Papstes, die Holocaust und Abtreibung in einem
Zusammenhang erwähnten, lassen leicht übersehen, dass
sich die Beziehungen zwischen Juden und Christen seit dem Zweiten
Weltkrieg in geradezu revolutionärer Weise verändert
haben (zumindest in den Ländern des Westens und vor allem in
Deutschland).
Dass es dabei immer wieder zu
schwerwiegenden, erheblichen Rückschlägen kommt,
verwundert nicht. Feindbilder und eigene
Überlegenheitsvorstellungen spielen stets eine wichtige Rolle
in der Aufrechterhaltung individueller und institutioneller
Identität. An der Ermordung von sechs Millionen
europäischer Juden während des Nationalsozialismus waren
nicht nur hunderttausende einzelner Christen unterschiedlicher
Konfessionen, sondern auch die Kirchen als Institutionen
mitbeteiligt. Diese Erfahrung spielte eine wesentliche Rolle in
einem Prozess, der zu einer Revision der theologischen Grundlagen
führte. Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass schon in
den Jahren 1933 bis 1945 viele einzelne Christen (Katholiken,
Protestanten, aber auch Mitglieder orthodoxer Kirchen) für
Juden eintraten und sie retteten. Es waren nicht zuletzt die
moralischen und theologischen Überzeugungen jener, die sich
gegen den Judenmord stellten, die der christlichen Religion den Weg
dorthin wiesen, wo sie entstand: an die Seite des Judentums. Nichts
anderes wollte Johannes Paul II ausdrücken, als er das
Judentum als "älteres Geschwisterteil" des Christentums
bezeichnete. Freilich nahm die theologische Entwicklung auf
katholischer und protestantischer Seite ganz unterschiedliche
Wege.
Wie schwierig die theologische
Neuorientierung war, zeigt etwa das sogenannte "Darmstädter
Wort" des Bruderrats der Evangelischen Kirche in Deutschland, eines
Kreises der Bekennenden Kirche vom April 1948. Diese Erklärung
spricht zwar davon , dass "uns vergolten wird, was wir an den Juden
verschuldet haben." Ansonsten heißt es aber in ungebrochen
antijudaistischer Tradition auch nach dem Massenmord: Dass Gott
nicht mit sich spotten lässt, ist die stumme Predigt des
jüdischen Schicksals, und zur Warnung, den Juden zur Mahnung,
ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch
ihr Heil steht. Von dort bis zum Beschluss der Landessynode der
Evangelischen Kirche im Rheinland vom Januar 1980 war es ein weiter
Weg. In diesem Beschluss wird unter Berufung auf den Apostel Paulus
und seine Ausführungen im Brief an die Römer, Kapitel 9-
11 die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes bekannt
und damit auch der Missionierung der Juden eine Absage erteilt.
Damit begann ein Teil der Evangelischen Kirchen mit dem, was der
diesjährige Träger der Buber-Rosenzweig Medaille, der
Berliner Professor Peter von der Osten- Sacken einmal als
"christologischen Besitzverzicht" bezeichnet hat.
Die katholische Kirche revidierte ihre
Haltung zum Judentum auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 in
der Erklärung "Nostra aetate". Darin geht es um die Haltung
der Kirche zu den "nichtchristlichen Religionen". Die
Erklärung weist jeden Antisemitismus und auch jeden
Antijudaismus zurück und bekennt, dass Gottes Gnadengabe an
die Juden unwiderruflich ist. Die Missionierung der Juden ist daher
theologisch sinnlos. Dieser Haltung haben sich seither die meisten
katholischen Bischöfe in Deutschland angeschlossen. Im April
1986 besuchte nach Jahrhunderten zum ersten Mal ein katholischer
Papst eine Synagoge. In seiner Ansprache in der römischen
Synagoge bekannte sich Johannes Paul II nicht nur zum Judentum als
dem "Inneren" des Christentums, sondern wiederholte, dass die Juden
"weiterhin von Gott geliebt werden, als jene, die er mit einer
unwiderruflichen Berufung erwählt hat."
Auf diese Entwicklungen in katholischen und
protestantischen Kirchen reagierten seit den 60er-Jahren
jüdische Einzelpersonen und Repräsentanten großer,
vor allem US-amerikanischer jüdischer Organisationen. Von
besonderem Gewicht ist jedoch die im Jahr 2000 von mehr als 200
jüdischen Gelehrten und Rabbinern unterzeichnete
Erklärung "Dabru emet" ("Sprecht Wahrheit"). Darin heißt
es, "dass es für Juden an der Zeit ist, die christlichen
Bemühungen um eine Würdigung des Judentums zur Kenntnis
zu nehmen." Die Erklärung hält fest, dass Christen und
Juden Gott unterschiedlich kennen und dienen: hier durch den
Glauben an Jesus, dort durch die Tora. Beide Wege sind zu
respektieren und zu würdigen. "Der nach menschlichem Ermessen
unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird",
so die Erklärung, "nicht eher ausgeräumt, bis Gott die
ganze Welt erlösen wird ..."
Theologisch-exegetisch korrespondiert das mit
der Einsicht, dass Jesus Jude und nur Jude war und als Messias auch
nur deshalb bekannt werden konnte, weil er Jude war - im Leben und
im Tod. Wenn aber Jesus nur deshalb zum Messias werden konnte, weil
er Jude war, dann verbietet sich nicht nur jeder Antijudaismus,
sondern wird zugleich klar, dass der jüdische und der
christliche Weg in ihren jüdischen Grundlagen einander
näher sind, als es gemeinhin erscheint. Das hat der Apostel
Paulus, ein hellenistischer Jude, nicht anders gesehen. Daraus
folgt schließlich, dass der Sinn der christlichen Religion
letztlich darin besteht, die Völkerwelt durch den Glauben an
Jesus zum Gott Israels zu führen - nicht mehr, aber auch nicht
weniger.
Freilich rufen diese Einsichten Ängste,
Abschließungen und Aggressionen hervor. Als Beispiel für
einen solchen Rückfall kann etwa die erst kürzlich, im
Jahr 2003 von der Kammer für Theologie der Evangelischen
Kirche in Deutschland unter dem Vorsitz von Eberhard Jüngel
und Dorothea Wendebourg verabschiedete Erklärung "Christlicher
Glaube und nichtchristliche Religionen" gelten, die schon im Titel
unbelehrbaren christlichen Triumphalismus zu erkennen gibt. Warum
wird hier der "Glaube" nur dem Christentum zugeschrieben,
während alle anderen nur "Religion" sind? Hier wird das
Judentum ohne Rücksicht der ausführlichen Arbeiten gerade
der EKD zum Verhältnis von "Kirche und Judentum" als eine
unter anderen "nichtchristlichen Religionen" dargestellt -
Religionen, die, so die Erklärung, einen Gegensatz zum
Christentum darstellen, da sie "Jesus Christus nicht als Ereignis
der Wahrheit" anerkennen. "Die bleibend schmerzende Urform", so
fährt die Erklärung fort "dieses Gegensatzes ist die
Ablehnung Jesu Christi als entscheidendes, Menschen errettendes
Ereignis der Wahrheit im Judentum." Also doch: die Juden als
Verhinderer des Heils? Welche Schmerzen - so möchte man fragen
- gibt es hier zu beklagen, wenn doch gilt, dass der Gott Jesu dem
jüdischen Volk ohnehin die Treue hält? Anstatt über
die Treue Gottes zum Volk der Tora sowie über die Chance,
über den Glauben an Jesus zum Gott Israels gekommen zu sein,
Freude auszudrücken, wird hier, jetzt allerdings in der
Sprache des Schmerzes, ein weiteres Mal christlicher
Triumphalismus, jetzt allerdings in einer melancholischen
Verfallsform beschworen.
Gemessen an 2.000 Jahren der Verkennung und
der Missverständnisse sind in den vergangenen 50 Jahren
Fortschritte erzielt worden, die gar nicht hoch genug
eingeschätzt werden können. Die Zukunft einer durch
Globalisierung und Immigration nun auch kulturell verunsicherten
deutschen Nation wird zeigen, ob sie das im
jüdisch-christlichen Dialog Erreichte auch zu bewahren
versteht.
Micha Brumlik leitet das
Fritz-Bauer-Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur
Geschichte des Holocausts und seiner Wirkung, und lehrt Allgemeine
Erziehungswissenschaften an der Universität Frankfurt am
Main.
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