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Albrecht Lohrbächer
Unterrichten und Predigen in Israels
Gegenwart
Der gewandelte Blick der Kirchen auf das
Judentum
Wir Christen kommen niemals mehr hinter Auschwitz zurück;
über Auschwitz hinaus kommen wir, genau besehen, nicht mehr
allein, sondern nur noch mit den Opfern von Auschwitz" - Johann
Baptist Metz, katholischer Theologe und ein Wegbereiter des
christlich-jüdischen Gesprächs, brachte mit diesem Satz
schon 1978 auf den Punkt, was in den folgenden zwei Jahrzehnten
beide Kirchen nicht mehr losließ. Sie begannen spät
damit. Ihr Versagen in der Zeit des Nationalsozialismus lag schon
40 Jahre zurück. Doch immerhin machten sie sich nun mit
Engagement auf den Weg.
Mutige Mahner hatten schon früher, zum Teil gegen den
Widerstand der offiziellen Kirchenvertreter, diesen Weg gewiesen.
So hatten 1958 einige wenige, die dem Widerstand gegen die
Nationalsozialisten angehört hatten, die bis heute wegweisende
Initiative "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" (Berlin)
gegründet. Ihre Absicht: Junge Deutsche sollen in
Ländern, die unter dem nationalsozialistischen Regime gelitten
haben, mit eigenen Händen und mit Mitteln etwas Gutes tun.
Die Freiwilligen arbeiten zum Beispiel in Israel mit
Überlebenden der Shoah oder engagieren sich in Projekten, die
einem verbesserten Miteinander von Juden und Arabern dienen. Oder
evangelische Christen machten sich 1961 nach vielen vergeblichen
Versuchen beim Berliner Kirchentag auf, dieses Forum für einen
jüdisch-christlichen Dialog zu nutzen. Juden beteiligten sich
aktiv daran, und die Veranstaltungen fanden ein unerwartet
großes Publikum. Die Zeit für eine veränderte
Beziehung von Juden und Christen schien reif. Bis heute ist diese
"Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen" fester Bestandteil der
Kirchentage, gleiches gilt inzwischen für die Katholikentage.
Doch auch das ist Teil des schwierigen Weges von Juden und Christen
nach dem Holocaust: Seit der Gründung 1961 begleiten diese
"AG" Konflikte und Probleme, die großenteils bis heute
ungelöst sind und zu immer neuen Irritationen zwischen den
beiden Gemeinschaften führen. Vor allem sind es die
Judenfeindschaft, die Frage nach der christlichen Identität im
Gegenüber zu den Juden, die immer wieder zu missionarischen
Versuchen der Christen unter Juden führt und die offene Frage
nach der Solidarität mit dem jüdischen Staat.
Auch die katholische Kirche hatte bereits auf dem zweiten
vatikanischen Konzil 1965 einen Versuch gemacht, die Beziehungen zu
den Juden auf eine neue positive Basis zustellen. Doch auch
für sie waren dies nur erste Schritte auf dem Weg zu
grundlegenden Einsichten und entsprechenden Veränderungen.
Wenn man heute die vielen evangelischen Erklärungen sowie
die Beschlüsse der deutschen Bischofskonferenz aus den 80er-
und 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts überblickt,
könnte man von einem wirklichen Paradigmenwechsel in der
Wahrnehmung des Judentums durch die Kirchen sprechen. Da haben die
kirchlichen Parlamente, aber auch der Papst und die katholischen
Bischöfe Aussagen veröffentlicht, die noch wenige Jahre
vorher undenkbar gewesen wären.
Dass Jesus Jude war und aus seinem Judentum zu verstehen ist,
dass das jüdische Volk nicht verworfen wurde, wie dies fast
2.000 Jahre lang behauptet wurde. Dass der Bund Gottes mit seinem
Volk unverändert fortbesteht. Dass die Kirchen eine Mitschuld
an der Verfolgung der Juden tragen. Es waren revolutionäre
Veränderungen kirchlicher Positionen. In beiden Kirchen
machten sich nun offiziell beauftragte Gruppen von Fachleuten auf
den Weg, praktische Folgerungen für den Unterricht, den
Gottesdienst und die Predigt zu formulieren und sie in die
Ausbildung einzubringen. "Unterrichten in Israels Gegenwart" und
"Predigen in Israels Gegenwart" lauteten damals propagierte
Slogans. Und tatsächlich: Die Bildungspläne änderten
sich gründlich. Es dürfte heute zum Beispiel in
Deutschland kaum einen Schüler mehr geben, der den
christlichen Unterricht verlässt und nicht wüsste, dass
Jesus Jude war, dass Juden keinesfalls Jesus umgebracht haben, dass
die Pharisäer mit ähnlichem Ernst wie Jesus sich um
Gottes Wille bemühten und so weiter.
Viele kirchliche Institutionen machten beachtliche
Anstrengungen, mit Hilfe von jüdischen Referenten die neue
Sicht auch unter erwachsenen Christen zu verbreiten. Es bildeten
sich Gruppen, die anfingen, mit Juden gemeinsam die Bibel zu lesen.
So entdeckte man, dass man die hebräische Bibel auch ohne die
christologische Brille lesen kann. Natürlich stellte sich
dabei verstärkt die bislang offene Frage, was dann die
Besonderheit der christlichen Identität ausmacht.
Vor allem aber bewirkt seit 26 Jahren das "Studium in Israel"
bei der Ausbildung von Theologen beider Konfessionen weitreichende
Veränderungen in der Wahrnehmung des Judentums bei der
theologischen wie auch der gemeindepraktischen Arbeit. Mehr als 450
angehende Pfarrer, Pastoralreferenten und Religionslehrer nahmen
bislang daran teil: Sie studieren - nach intensiver Aneignung des
Hebräischen - ein Jahr lang an der Hebräischen
Universität in Jerusalem zusammen mit jüdischen
Kommilitonen die für das Judentum grundlegenden Schriften. Auf
dem Lehrplan steht besonders das Studium des Talmuds und der
jüdischen Schriftauslegung. Man halte sich die
Veränderung vor Augen: Angehende christliche Geistliche und
Lehrer tauchen ein Jahr lang in das Zentrum des Judentums ein, und
das noch im Staat Israel! Eine kaum vergleichbare Herausforderung
für das christliche Selbstverständnis!
Viele evangelische Kirchen wagten noch einen weiteren Schritt,
indem sie die neuen Einsichten in ihre Verfassungen hinein
schrieben. Damit wurde die Verbindlichkeit der veränderten
Sicht des Judentums, der veränderten Auslegung der Bibel, der
Aufgabe, sich gegen jede Form von Judenfeindlichkeit zu stellen,
für alle Geistlichen und Religionslehrer festgeschrieben.
Es gibt Zweifel, ob das alles nur Kosmetik war, ob das neue
Interesse am Judentum nur der folkloristischen "Vernutzung"
jüdischer Traditionen für eigentlich christliche Zwecke
(Musik, Bibelauslegung und so weiter) diente, ohne dass die Kirchen
und die Christen je an eine substantielle Bearbeitung ihres
Grundverständnisses gegangen wären. Ein Alarmzeichen gab
es 1999 auf dem Kirchentag in Stuttgart. Die Arbeitsgemeinschaft
Juden und Christen beim Kirchentag erklärte, dass "Mission an
Juden den Dialog gefährde" und "in den jüdischen
Gemeinden als Bedrohung wahrgenommen" werde. Diese Erklärung
war unter den Kirchenführern nicht konsensfähig, ein
Zeichen dafür, dass viele Christen das Judentum immer noch als
defizitäre Religion betrachten, der das Bekenntnis zu Jesus
als Messias und damit die Erlösung fehlt.
Hier rächte sich, dass es die Christen bei allen guten
Erklärungen versäumt haben, darüber nachzudenken,
wer sie in der nun erkannten neuen Beziehung zum Judentum sind. Sie
definieren sich immer noch als die, die die volle Wahrheit allein
besitzen.
Schlimm ist auch das verbreitete Schweigen der Christen und
Kirchen zu der neu erstarkten Judenfeindschaft. Kaum jemand trat
der Dämonisierung Israels in den letzten Jahren entgegen, im
Gegenteil, es wurde geduldet, dass dies auch noch auf die Juden in
der Diaspora übertragen wurde. Man kann den Eindruck gewinnen,
dass für viele Christen die Arbeit getan war, nachdem sie sich
öffentlich zu ihrer Schuld und zu einer veränderten Sicht
bekannt hatten. Sie wollten sich der Kleinarbeit nicht stellen,
weil dies schmerzvolle Abstriche in ihren
Glaubensüberzeugungen zur Folge gehabt hätte. Die Basis
für ein wenigstens respektvolles Nebeneinander ist in den
letzten 25 Jahren gelegt worden. Wir sind dabei, die guten
Vorsätze wieder zu vergessen.
Wenn wir ernst nehmen, was Johann Baptist Metz als Bedingung
einer neuen Beziehung formuliert, kann es eine Zukunft geben:
"Nicht wir Christen haben das erste Wort, nicht wir öffnen
diesen Dialog." Christen müssen sich auf einen Lernweg machen.
Die Konversion beginnt mit der Haltung, die nicht immer schon
besser weiß, sondern die wissen will, wer der andere ist und
was ihm wichtig ist.
Albrecht Lohrbächer ist evangelischer Schuldekan in
Weinheim.
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